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Lange bevor Deutschland entstand, begann seine Auseinandersetzung mit dem westlichen Europa. Das ist nur scheinbar paradox, denn mit den Rheinlanden und dem Land südlich der Donau haben die Deutschen teil am Gebiet der alten lateinisch-christlichen Ökumene des weströmischen Reiches, und bis an die Ufer von Elbe und Saale bewohnen sie einen einst durch die Franken erschlossenen Raum. Das, was sie selbst an christlich-fränkischer Substanz erworben hatten, trugen sie seit dem Hochmittelalter weiter nach Osten in die slawischen Siedlungsgebiete: Was sich die Menschen östlich der Elbe im…mehr

Produktbeschreibung
Lange bevor Deutschland entstand, begann seine Auseinandersetzung mit dem westlichen Europa. Das ist nur scheinbar paradox, denn mit den Rheinlanden und dem Land südlich der Donau haben die Deutschen teil am Gebiet der alten lateinisch-christlichen Ökumene des weströmischen Reiches, und bis an die Ufer von Elbe und Saale bewohnen sie einen einst durch die Franken erschlossenen Raum.
Das, was sie selbst an christlich-fränkischer Substanz erworben hatten, trugen sie seit dem Hochmittelalter weiter nach Osten in die slawischen Siedlungsgebiete: Was sich die Menschen östlich der Elbe im Hochmittelalter aneigneten, kannte man zwischen Weser und Elbe seit dem zehnten, im Rhein/Weser-Raum seit dem achten und neunten Jahrhundert, und den Bewohnern der Rheinlande war es seit der römischen Zeit vertraut. Zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands liegen also tausend Jahre Entwicklungsgeschichte.
Dass die große europäische Zivilisationsgrenze immer quer durch Deutschland verlief und sich
Autorenporträt
Joachim Ehlers, 1936 in Leipzig geboren, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik an der Universität Hamburg. 1964 Promotion, 1972 Habilitation.Er lehrte als Professor für Mittelalterliche Geschichte in Frankfurt am Main, Braunschweig und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Im Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit stehen die westeuropäische Geschichte des Mittelalters mit Schwerpunkt Frankreich sowie die Gesellschafts- und Ideengeschichte Europas im Früh- und Hochmittelalter.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit seiner "Geschichte der Beziehungen zwischen den Nachfolgereichen des karolingischen Imperiums", hat der Historiker Joachim Ehlers keineswegs eine deutsche "Nationalgeschichte in neuer Verpackung" geliefert, nimmt der Rezensent Hans-Herbert Räkel beruhigend vorweg. Die erste Hälfte des Buches - die vom Europa der Karolinger bis zum Ende des ottonischen Zeitalters reicht - stellt für Räkel eine regelrechte "Glanzleistung reifer Geschichtsschreibung" dar, insofern sie sowohl durch Vollständigkeit als auch durch Nuanciertheit besticht und dabei "stilistisch ansprechend" formuliert ist. Die eher "politisch-dynastische" Perspektive dieser ersten Hälfte werde in der zweiten Hälfte um "langfristigen Entwicklungen" und deren "geistige und gesellschaftliche Voraussetzungen" erweitert. Dabei ordne Ehlers den Stoff noch weitgehend nach "erprobten Perspektiven", zeige jedoch mitunter Ansätze zu einer Öffnung der geschichtswissenschaftlichen Methodologie hin zur Kulturwissenschaft. Auf diese Öffnung hin nimmt der Rezensent den Dialog auf und gibt zu bedenken, dass eine Einbeziehung der Sprachgeschichte und der bei Ehlers weitgehend "stumm" bleibenden "Bereiche der Kultur wie Philosophie, Theologie, Architektur, Kunst und Musik" zu einem tiefgreifenderen Verständnis dieser Epoche beitragen könnte.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr
"Der Siedler Verlag hat für seine neue Reihe 'Die Deutschen und das europäische Mittelalter' mit Birgit und Peter Sawyers 'Welt der Wikinger' einen überzeugenden Auftakt geliefert, der die Fachwelt und das breite Publikum gleichermaßen begeistern wird. Auf die kommenden Bände sind wir gespannt. "
(Stephan Opitz, Süddeutsche Zeitung)

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2004

Deutschland als Vorbild der Völker
Ein großes Alterswerk: Joachim Ehlers schreibt die Geschichte des westlichen Europa im Mittelalter

"Ich habe die ganze Zeit meines Lebens . . . immer Freude am Lernen oder Lehren oder Schreiben gehabt" - diese Selbstcharakteristik eines angelsächsischen Mönchsgelehrten auch für sich zu adaptieren und dem Charme eines Autors erlegen zu sein, "der ohne Drang nach Würden und Ämtern und ganz ohne aufdringlichen Ehrgeiz seiner Sache lebte", bekennt Joachim Ehlers in seinem großen Alterswerk über das westliche Europa im Mittelalter. Könnte ein sensibler Leser einem modernen Autor seinerseits den Respekt versagen, der in seiner Gelehrsamkeit und unprätentiösen Bescheidenheit dem ehrwürdigen Beda (gestorben 735) nicht bloß nachgefolgt ist, sondern auch nahekommt?

Gewiß nicht, doch darf man Ehlers wissenschaftliche Haltung nicht auf eine Dimension reduzieren: Sie schließt, ganz ohne monastische Devotion, die kompromißlose Stellungnahme in kulturellen Wertfragen ein und orientiert sich mit fast beängstigender Konsequenz an höchsten moralischen Standards. Deshalb ist es kein Zufall, daß in dem Buch nur ein einziger wissenschaftlicher Autor neuerer Zeit namentlich genannt wird, einer nämlich, der den Mut hatte, unter den Nazis für das Werk eines jüdischen Zeitgenossen aus Frankreich zu werben. Der Geist, den das Buch atmet, ist ein rigoroser Okzidentalismus, den Ehlers der von ihm skeptisch beurteilten Ost-Erweiterung der Europäischen Union entgegensetzt, es ist auch der Geist der Freien Universität Berlin, an der er über ein Jahrzehnt gelehrt hat und derer er gleich am Beginn dankbar gedenkt.

Ehlers Darstellung ist der Beitrag zu einer vieldeutig betitelten Reihe "Die Deutschen und das europäische Mittelalter". Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Bänden über die Wikinger und über das östliche Europa wählte der Autor die beziehungsgeschichtliche Perspektive, um zu zeigen, daß Deutschland erst in der Auseinandersetzung mit dem westlichen Europa entstanden sei. Ihn interessierte aber nicht Europa zwischen Atlantik und Rhein in seiner Verschiedenheit - die keltischen Völker und Reiche hat er kaum, die muslimischen und christlichen in Spanien gar nicht beachtet -, und auch den Vergleich beschränkte er auf die karolingischen Nachfolgestaaten. Englandbezüge kamen nur gelegentlich in seinen Blick, während er seine ganze Aufmerksamkeit den kulturellen Integrationsschüben von Gallien beziehungsweise Frankreich her widmet, durch die das nur teilweise auf römischen Grundlagen ruhende Deutschland in die überlegene westliche Zivilisation einbezogen worden sei. Die für die Entstehung eines deutschen Nationalstaates problematischen Orientierungen auf Italien einerseits, den Osten mit der Kolonisation jenseits von Elbe und Oder andererseits wurden übergangen, zumal dafür andere Bände der Reihe in Betracht kamen.

In dem neuen Buch geht es also weniger um Europa als um Deutschland sowie um das vergangene und künftige Schicksal der Deutschen. Während die jüngere Geschichtsforschung die Entstehung des deutschen Volkes, Reiches oder Staates an den historischen Schriftzeugnissen für ein deutsches Eigenbewußtsein zu messen suchte und damit meist nur bis ins späte elfte Jahrhundert zurückgelangte, kehrt Ehlers mit seiner Datierung der Anfänge Deutschlands in der Zeit der Ottonen zu einer Lehre des neunzehnten Jahrhunderts zurück, die selbst mittelalterliche Vorläufer hatte. Nach seiner Auffassung war es nämlich das von Otto dem Großen 962 begründete Kaisertum, das erst die Integration der verschiedenen Stämme zu einem deutschen Volk ermöglichte und die separate Ethnogenese der Franken, Bayern, Sachsen oder Schwaben verhinderte. Die vom Papst verliehene hohe Würde wäre also nicht ein Hindernis, sondern geradezu die spezifische und unentbehrliche Bedingung für das Werden der Deutschen gewesen. Das darf jedoch nicht zu dem Fehlschluß verleiten, daß mit der Entstehung Deutschlands bei Otto I., von der Ehlers spricht, auch die Entstehung eines deutschen Gesamtstaates in die Wege geleitet worden wäre - ganz im Gegenteil. Hätte Ehlers, der seine Darstellung mit Kaiser Friedrich I. (gestorben 1190) abschließt, die spätmittelalterliche Reichsgeschichte einbezogen, dann wäre deutlich geworden, daß von den Ottonen eben keine gerade Linie zu 1871 oder 1989/90 führt.

Abgesehen von den karolingischen Grundlagen für die Geschichte Deutschlands und seiner Nachbarn im Westen gliedert Ehlers den früh- und hochmittelalterlichen Stoff in drei große Kapitel: "Die Entstehung der europäischen Nationen", "Die Entstehung der europäischen Freiheit" und "Die Emanzipation der europäischen Staaten". Das sind Überschriften von programmatischer Wucht, und der kritische Leser braucht einige Zeit, um zu begreifen, wie ernst es dem Autor mit seinen Botschaften wirklich ist.

Das Problem der Thesenbildung liegt darin, daß Ehlers generelle Aussagen über ganz Europa machen will, die doch nur aus dem einsinnig gedachten Kulturtransfer zwischen Frankreich und Deutschland, mit gewissen Konzessionen an englisch-deutsche Beziehungen, abgeleitet werden; selbst unter dem eingeschränkten Bezug auf das abendländisch-lateinische Europa ist dies aber diskutabel. Soll sich denn die Entstehung der europäischen Nationen nur beziehungsweise zuerst bei Frankreich und Deutschland vollzogen haben, und soll man glauben, daß andere Völker die hier abgelaufenen Prozesse als Vorbild für sich selbst benötigten? Wäre es nicht viel richtiger - und in der Geschichtswissenschaft ist dies auch schon erwogen worden -, die exemplarische Nationenbildung auf territorialer Grundlage im westgotischen Spanien zu suchen, zumal ohne sie die jahrhundertelange Reconquista als Befreiung der christlichen Vorbevölkerung von muslimischer Fremdherrschaft kaum vorstellbar gewesen wäre?

Was die "europäische Freiheit" betrifft, so sucht Ehlers in der Klosterfreiheit von Cluny seit dem zehnten Jahrhundert, in der "libertas ecclesiae"-Bewegung der hochmittelalterlichen Kirchenreform, in der vor allem in Frankreich entwickelten wissenschaftlichen Methode der Scholastik und in der Wiederaneignung des römischen und dem Aufbau neuen Rechts sowie in der Entstehung der Universitäten die wichtigsten Wurzeln. Zweifellos waren diese Erscheinungen von überragender Bedeutung für die europäische Geschichte bis hin zur Gegenwart, doch darf man sie zu einer These von der Entstehung der europäischen Freiheit bündeln? Gehörten denn nicht auch, um nur dies zu sagen, die Traditionen genossenschaftlicher Freiheit seit fränkischer Zeit hinzu? Und - einmal sei der Blick nach Osten erlaubt - was bedeutet eigentlich der jahrhundertelange Freiheitskampf von Byzanz gegen Nomaden aus Asien oder gegen Araber und Türken aus dem Süden und Osten für die Geschichte der europäischen Freiheit?

Kopfzerbrechen bereitet auch die These, daß sich die europäischen Staaten, hier nur verstanden als Frankreich und England, im Konflikt mit dem staufischen Kaiserreich und unter Ausnutzung eines Papstschismas emanzipiert hätten. Denn ohne Zweifel waren doch die Monarchien in Frankreich und England schon lange vorher politisch selbständig, und dies gilt ebenso für die skandinavischen und selbst für ostmitteleuropäische Reiche.

Vielleicht sollte man das Buch auch gar nicht in erster Linie als Beitrag zur europäischen Geschichte des Mittelalters lesen. Schon vorher war ja deutlich geworden, daß sich die Bände der Reihe keineswegs zu einem Ganzen fügen würden, da die Autoren unkoordiniert zwischen europäischer Regional- und Beziehungsgeschichte schwankten und die unterschiedlichen Zeiträume, denen sie sich widmeten, gar keine Zusammenschau ihrer Ergebnisse zulassen würden. Der Übergang von der Nationalgeschichte zur europäischen Geschichte, so zeigt sich jetzt, gelingt eben nur, wenn man, wie vorher Völker, Reiche und Staaten, so jetzt Europa im ganzen in den Blick nimmt.

Um so mehr kann man sich bei einem Autor wie Joachim Ehlers an der Fülle bildungs-, wissenschafts- und kulturgeschichtlicher Einsichten erfreuen, die zwar in Frankreich ihren Schwerpunkt haben, besonders auf dem Gebiet von Literatur und Philologie, aber auch die Erzeugnisse deutscher Klöster und Höfe einschließen. Hierzulande gibt es gegenwärtig keinen Historiker, der Ehlers in dieser Hinsicht zu übertreffen vermöchte.

MICHAEL BORGOLTE

Joachim Ehlers: "Das westliche Europa". Die Deutschen und das europäische Mittelalter, Band 3. Siedler Verlag, München 2004. 512 S., 100 Abb., Landkarten, geb., 60,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2004

Sind wir ein Volk?
Joachim Ehlers’ Synthese über Deutschland und die westlichen Nachbarn im Mittelalter
Ein Buch über die Deutschen? „Lange bevor Deutschland entstand, begann seine Auseinandersetzung mit dem westlichen Europa”, sagt der Werbetext und findet findet das selber auch „paradox”. Dieses Paradox eines Deutschland, das schon Auseinandersetzungen hat, ehe es noch entstanden ist, schuldet das Buch dem Titel der Reihe, zu der es gehört: „Die Deutschen und das europäische Mittelalter” besteht aus vier Bänden. Die Reihe soll den „Deutschen” die Geschichte ihrer Nachbarn erklären und sie wohl auch zum Nachdenken über ihre eigene Geschichte anregen.
Der vierte Band („Italien”) ist noch nicht erschienen. Für den ersten und den zweiten Band, „Die Welt der Wikinger” von Birgit und Peter Sawyer und „Das östliche Europa” von Christian Lübke, waren die Voraussetzungen günstiger als im vorliegenden Fall, da die Nordeuropäer und die Osteuropäer ganz gewiss Nachbarn der „Deutschen”, aber selber keine Deutschen sind. Joachim Ehlers hat mit dem dritten Band „Das westliche Europa” dagegen von vornherein mit dem Problem zu tun, dass die Deutschen, jedenfalls in sehr vieler Hinsicht, selber zum „westlichen Europa” gehören.
Aber dies ist keine Nationalgeschichte in neuer Verpackung. Aus einem schier unerschöpflichen Schatz von Kenntnissen beschreibt Ehlers eine freilich bekannte, sehr gut erforschte und in den letzten Jahrzehnten gründlich entstaubte Geschichte der Beziehungen zwischen den Nachfolgereichen des karolingischen Imperiums, also des späteren Frankreich und des späteren Deutschland, mit intensiven Seitenblicken auf Italien und die britischen Inseln.
Erprobte Perspektiven ordnen den Stoff. „Das Europa der Karolinger” ist ein zielstrebiges Vorspiel zum großen Schauspiel um zwei Protagonisten, die nun im zweiten Teil - „Die Entstehung der europäischen Nationen” - zunächst noch verhüllt auf die Bühne treten: „Zwei Frankenreiche”, „Entsteht Deutschland?”, „Frankreich entsteht”, „Das Römische Reich”. Diese erste Hälfte des Buches, die bis zum Tod Kaiser Heinrichs II. im Jahr 1024 und also bis zum Ende des ottonischen Zeitalters reicht, ist eine Glanzleistung reifer Geschichtsschreibung. Ohne eigene geschichtliche Erfahrung, Kenntnis, schriftstellerisches Talent, Abgeklärtheit und natürlichen Respekt vor den Lesern und nicht zuletzt der deutschen Sprache ist es wohl kaum möglich, komplizierte Sachverhalte so vollständig und doch so nuanciert und stilistisch so ansprechend zu formulieren, wie Joachim Ehlers es hier tut.
Zwar werden auch in dieser ersten Hälfte des Buches die modernen Perspektiven der Geschichtswissenschaft berücksichtigt, doch gilt das zentrale Interesse eher der Ereignisgeschichte unter politisch-dynastischem Aspekt. Indem Joachim Ehlers geschickt und geduldig das Knäuel von Verwandtschaft der Herrschenden und des Adels und das Netz persönlicher Bekanntschaft des Klerus in Klöstern und an Bischofssitzen nachzeichnet, macht er so manchen politischen Konflikt verständlicher.
Auch die zweite Hälfte des Buches - „Die Entstehung der europäischen Freiheit” und „Die Emanzipation der europäischen Staaten” - folgt der chronologischen Ordnung von der „Christianisierung der Christenheit” (Cluny) über die erste große Krise im Konflikt zwischen Papst und Kaiser („Die Kontroverse”) bis zum Tod Kaiser Friedrichs I. Barbarossa auf dem dritten Kreuzzug im Jahre 1190. Aber nun treten die langfristigen Entwicklungen und die geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen deutlich in den Vordergrund: die Verwissenschaftlichung von Religion und Recht in den Universitäten, die Entstehung einer höfisch-ritterlichen Zivilisation und, ganz kurz, ein Ausblick auf die von den Städten ausgehende gesellschaftliche Umwälzung.
Joachim Ehlers ist Historiker. Auf der Suche nach der Entstehung Deutschlands hält er sich an Ottos I. 962 gegründetes neues Kaisertum als Voraussetzung der deutschen „Ethnogenese”. Diese These ist zwar nicht neu, aber einsichtig. Vielleicht könnte man sie dahingehend präzisieren, dass so zwar nicht ein Deutschland für die nächsten tausend Jahre geschaffen, aber mindestens doch die Aussicht auf eine größere staatliche Einheit aus Franken, Sachsen, Lothringern, Schwaben, Bayern freigegeben worden ist.
Der Autor bekennt sich an anderer Stelle deutlich zu einer methodologischen Öffnung, wenn er beispielsweise behauptet, „dass mentalitätsgeschichtliche Ansätze häufig weiter führen als die Suche nach dem Realzustand”. Nicht nur Ereignisse der politischen Geschichte sind also geschichtsrelevant, sondern auch die ungezählten Bereiche der Kultur, welche die Geschichtswissenschaft sich erst langsam erobert hat.
Verschieden und zusammen
In so erweiterter Perspektive wäre deshalb zu fragen, ob die militärisch-politische Synthese des ottonischen Reiches überhaupt hätte konzipiert werden können, wenn nicht seit zweihundert Jahren ein kultureller Prozess stattgefunden hätte, den man am besten an der Sprachgeschichte beobachten kann und der vielleicht sogar weitgehend in ihr verwurzelt ist. Auch Ehlers hat einen kurzen Abschnitt zum Problem „Sprachen und Kommunikation”. Darin geht es hauptsächlich um die Frage, ab wann die Franken im Westen und im Osten sich untereinander nicht mehr verständigen konnten, also um ein Signal für eine ostfränkische Eigenständigkeit oder Isolation vom romanisierten Westen.
Aber wird nicht in der vorkarlischen und karolingischen „Sprachbekehrung” jene grundlegende Voraussetzung für das geschaffen, was später einmal „Deutsch” werden sollte? Das erste deutsche Buch ist ein Wörterbuch! Die Sprachen oder Dialekte des ostfränkischen Reichs, Sachsen inbegriffen, werden im neunten Jahrhundert zwar keineswegs uniformisiert, aber ihre führenden Kräfte sind sich völlig einig in der Aufgabe, den römisch-christlichen Geist auf die Wurzel des heidnischen Idioms zu pfropfen. Dieses gemeinsame Programm hat mehr Gewicht als alle phonetischen Differenzen samt zweiter Lautverschiebung; indem dieses Programm zudem eine völlig neue poetische Metrik ins Leben ruft, greift es tief in die prosodische Natur der germanischen Dialekte ein.
Darum ist es vielleicht gar nicht so bedauerlich, „dass der größte Teil Deutschlands ohne den Vorlauf einer antiken Hochzivilsation auskommen muss”. Man hat ihre Inhalte (mühsam!) erworben, um sie zu besitzen, aber dieser Besitz blieb sozusagen unterirdisch erhalten, was immer bis zu Ottos Reichsgründung geschah oder nicht geschah. Nicht die Sprache hat also die „Deutschen” geeint, sondern die klügsten Köpfe des Zeitalters haben eine „Sprache” zubereitet, die ihre Einheit in ihrem kulturellen Zweck besaß und die von da ab bereitstand, wenn weitere integrierende Schritte möglich oder notwendig wurden.
Auch andere wichtige Bereiche der Kultur wie Philosophie, Theologie, Architektur, Kunst und Musik sind bei Joachim Ehlers zwar nicht ausgeschlossen, doch bleiben sie eigentümlich stumm. Sie sind es aber, die an vorderster Front die geistigen Werkzeuge entwickeln, mit denen reale Gesellschaften ihre Probleme zu identifizieren und zu bearbeiten versuchen. Das ottonische Jahrhundert ist ein gut erforschtes Musterbeispiel dafür. Joachim Ehlers stellt die Spannungen dieses Zeitalters im Bereich der Politik eindrücklich vor: Kaiserwürde und Romabhängigkeit, Königswürde und Herzogsmacht, römisch-fränkische Tradition und sächsische Gegenwart. Das Zeitalter scheint aber gerade aus seinen Spannungen eine Perspektive entwickelt zu haben, welche die auseinander strebenden Kräfte dialektisch interpretiert und in Synthesen bindet.
Der durchaus unterschätzte Notker III. von St. Gallen, Notker Teutonicus genannt, hat hierfür die Begriffe discretio und relatio gefunden: Verschiedenheit und Zusammengehörigkeit. Wie dieses Begriffspaar eine ganze Kultur aufschließt, philosophische und künstlerische Entdeckungen erlaubt, Architekturformen hervorbringt, politische Probleme beschreibt, ist vor über dreißig Jahren meisterhaft von Karl Bertau („Deutsche Literatur im europäischen Mittelalte”) skizziert worden. Schon seines Titels wegen hätte das Buch trotz seines Alters hier wenigstens einen Platz in der Bibliographie verdient, da es auf weite Strecken dasselbe Programm verfolgt, aber gerade in kulturgeschichtlicher Sicht entschieden tiefer greift und nicht wenige Anregungen hätte geben können.
Was haben jene „Deutschen”, die im Reiche Karls, Ottos oder Barbarossas lebten, mit denen zu tun, die das Buch lesen sollen? Die Frage stellt sich zumal deswegen, weil die (deutsche) Geschichtswissenschaft es über ein Jahrhundert als ihre vornehmste Aufgabe verstanden hat, die Identität und Kontinuität eines deutschen Volkes seit mythischen Vorzeiten glaubhaft zu machen.
Joachim Ehlers hat zwei entscheidende Einwände dagegen vorzubringen. Schon in der Einleitung werden die Deutschen daran erinnert, „dass Deutschland erst in der Auseinandersetzung mit dem westlichen Europa entstanden ist”, während die krampfhafte Erfindung eines uralten deutschen Volkes „einer der verhängnisvollsten Irrwege der deutschen Ideengeschichte” gewesen ist.
Im Kapitel „Das Römische Reich” steht der zweite Einwand: „Das wichtigste Element der Kontinuität deutscher Geschichte ist nicht die spät konstruierte völkische Basis, sondern das seit dem 10. Jahrhundert durchgehend wirkende Prinzip föderativer Staatlichkeit.” Hier wagt der Autor sogar einen Hinweis auf die allerjüngste Geschichte: „Noch die deutsche Wiedervereinigung vollzog sich am 3. Oktober 1990 nicht über eine Volksabstimmung, sondern auf Grund eines Staatsvertrages.” Die (deutschen) Leser dieses gewichtigen Buches sollten sich in Ost und West also wohl doch nicht als „das Volk” oder gar als „ein Volk”, sondern lieber als das auffassen, was sie wirklich sind: deutsche Staatsangehörige mit vielen gemeinsamen Aufgaben in einer vielgestaltigen Gesellschaft.
HANS-HERBERT RÄKEL
JOACHIM EHLERS: Die Deutschen und das europäische Mittelalter. Band 3: Das westliche Europa. Siedler Verlag, München 2004. 512 Seiten, 60 Euro.
Markgraf Berengar II. von Ivrea bittet Otto I., den „Teutonicus rex”, um Hilfe gegen den italienischen König Hugo von Niederburgund. Buchminiatur aus der Chronik Bischof Ottos von Freising, entstanden um 1150.
Foto: akg
Verwandtschaftstafel der Ottonen, Salier und Staufer aus der Kölner „Chronica Sancti Pantaleonis” Abb: Aus dem Katalog zur Ausstellung „Otto der Große”, 2001
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