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Produktdetails
  • Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen Bd.13
  • Verlag: Klartext-Verlagsges.
  • 2000.
  • Seitenzahl: 1160
  • Deutsch
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 1520g
  • ISBN-13: 9783884748992
  • ISBN-10: 3884748998
  • Artikelnr.: 10051866
Autorenporträt
Walter Euchner, geboren 1933, Studium der Rechtswissenschaft, Geschichte und Politikwissenschaft, 1963 - 1971 Assistent von Iring Fetscher in Frankfurt/M., danach Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiet des politischen Denkens und der deutschen Innenpolitik.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2001

Handreichungen zur Verbesserung der Welt
Der lange Weg des guten Gedankens zur Tat: Ein Handbuch informiert über die Wurzeln sozialer Ideen von Karl Marx bis Karl Barth

"Ick versteh von Marxismus nischt. . . Wat brauch ick Marxismus oder wat die andern sagen, die Russen... Wat ick nötig habe, kann ick mir jeden Tag an die Finger abzählen. Ick wer doch verstehen, wenn mir einer den Buckel vollhaut, wat det bedeutet. Oder wenn ick heute drin bin in meine Bude, und morgen fliege ick raus, keene Aufträge da, der Meister bleibt, der Chef natürlich auch, bloß ick muß raus uff die Straße und muß stempeln. . . Und dazu braucht keen Mensch heutzutage Karl Marx. Aber Fritze, aber, aber: wahr ist es doch." So läßt Alfred Döblin einen Tischler in "Berlin Alexanderplatz" über die sozialen Verhältnisse in der Weimarer Republik sinnieren.

Heute, in einer Zeit, in der der (Neo-)Liberalismus auf dem Vormarsch ist, sich selbst die PDS vorsichtig vom Marxismus löst, geht ein Handbuch diesem "aber, aber: wahr ist es doch" auf den Grund. Das Werk ist nicht eingeengt auf den Marxismus, sondern fahndet mit weitem Blick nach den Ideen von Solidarität und Gerechtigkeit seit dem neunzehnten Jahrhundert.

Beginnen wir mit dem Quantitativen. Der Leser bekommt in einem Band vier Bücher geliefert, und dies zum Preis von dreien. Das läßt sich sehen. Noch dazu, wenn man bedenkt, daß der Schriftgrad so klein gewählt ist, daß aus dem Handbuch über die "Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland" auch fünf Bücher hätten werden können. Verglichen mit der auf weit über hundert Bände angelegten neuen Marx-Engels-MEGA-Ausgabe, den auf elf Bänden angewachsenen "Sämtlichen Werken und Briefen" von Wilhelm Emmanuel von Ketteler oder der zehn Bände umfassenden Werkausgabe von Johann Hinrich Wichern, ist das von Helga Grebing herausgegebene Handbuch dagegen geradezu überschaubar.

Gleichzeitig zeigen diese Zahlen die ungeheure komprimierende Leistung, die hinter Grebings Projekt steht: Es ist der über weite Strecken gelungene Versuch, durch das weitverzweigte Netz an Theorien und Ideen über das gesellschaftliche und soziale Miteinander der modernen Gesellschaften einen Routenplan zu legen. Dabei konzentriert man sich vor allem auf die Hauptstraßen, ist aber offen für den einen oder anderen Neben- und Seitenweg und macht auf die zahlreichen Sackgassen aufmerksam.

Vier große Themenkomplexe sind in dem Band vereinigt. Walter Euchner erkundet die Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland bis zur Weimarer Republik. Helga Grebing nimmt diesen Faden auf und spinnt ihn fort bis zur Gegenwart. Das Autorenduo Franz Josef Stegmann und Peter Langhorst stellt die sozialen Ideen im deutschen Katholizismus vor; Traugott Jähnichen und Norbert Friedrich unternehmen das gleiche für den deutschen Protestantismus. Die vier Teile sind annähernd gleichmäßig gewichtet, unterscheiden sich aber in ihrer Darstellungsform deutlicher, als es die Herausgeberin im Vorwort wahrhaben will. Zwar ist es zentrales Anliegen der Autoren, die Ideengeber selbst ausführlich entweder in Zitaten oder zusammenfassenden Paraphrasen zu Wort kommen zu lassen, aber die Vorgehensweise ist nicht einheitlich. Walter Euchners Teil ist stark personenzentriert um die Hauptfiguren des Kommunismus und Sozialismus angelegt und handelt die Hauptwerke von Marx, Engels oder Lassalle weitgehend geschlossen ab. Dagegen sind die Teile über die beiden christlichen Kirchen stärker strukturell ausgelegt. Die Meinungen von Ketteler finden sich nicht in einem geschlossenen "Block" referiert, sondern man muß sich seine Ansichten in den jeweiligen thematischen Kapiteln "zusammensuchen".

Beide Vorgehensweisen haben ihre Vor- und Nachteile. Wer beispielsweise den Argumentations- und Sinnzusammenhang von Ferdinand Lassalles "ehernem Lohngesetz" erfahren möchte, wird bei Euchner prompt und zufriedenstellend bedient. Für einen Leser, der das Buch nicht nur als Nachschlagewerk benutzt, sondern sich in das Gesamtthema einlesen möchte, ist Euchners Art der Darstellung ermüdend. Lebendiger wirken dagegen die anderen Teile. Insgesamt - und das ist bei einem Handbuch das entscheidende - ist die Handhabbarkeit gewährleistet. Fünf Inhaltsverzeichnisse, ein Personen- und ein etwas knapp geratenes Sachregister erschließen den Inhalt.

Da in den Anmerkungen keine Querverweise auf die Ersterwähnung eines Zitats vorhanden sind, bleibt einem allerdings bei der Suche nach der Quellenangabe manches Blättern nicht erspart. Inhaltlich lassen sich praktisch keine Lücken ausmachen. Die Vorläufer des jeweiligen Ideenhorizonts werden knapp, aber präzise erfaßt. Das Spektrum der Ideengeber wird äußerst breit ausgelegt. Helga Grebing berücksichtigt in ihrer Darstellung der Nachkriegszeit das Konzept der Einführung der Planwirtschaft in Westdeutschland von Ernst Nölting - 1946 bis 1950 Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen - ebenso wie den Aufruf Alfred Webers und Alexander Mitscherlichs aus dem Jahr 1946 für einen "freien Sozialismus". Der inzwischen gut erforschte sozialliberale Protestantismus eines Friedrich Naumann an der Wende zum 20. Jahrhundert ist in der Darstellung ebenso vertreten wie die noch kaum untersuchte Schweizer religiös-soziale Bewegung, die über Karl Barth auch nach Deutschland wirkte. Parteiprogramme, in denen sich soziale Ideen und politischer Gestaltungswille treffen, werden in allen Schattierungen vorgestellt - von der Zeit des Kaiserreichs bis zur unmittelbaren Gegenwart. Natürlich finden sich auch ausführliche Inhaltsangaben päpstlicher Enzykliken oder das von beiden christlichen Kirchen im Jahr 1997 herausgegebene Sozialwort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit".

Angesichts der Fülle dieser Materialien war für den konkreten historischen Kontext, den sozialen Hintergrund kaum Platz. Die von der Herausgeberin angekündigte "sozialgeschichtliche Verknüpfung der Problemfelder" ist daher nur ansatzweise zu erkennen. Allerdings nahm man sich den Raum, die meisten der Ideengeber und Theoretiker mit ihren biographischen Werdegängen knapp vorzustellen. Kritisieren läßt sich vor allem, daß das Buch, je näher die Thematik der Gegenwart rückt, stark zersplittert wirkt. Hier hat der Filterprozeß der Zeitläufte noch nicht eingesetzt. Wenn wiederum in dreißig Jahren - das Buch ist eine völlig überarbeitete Auflage aus dem Jahr 1969 - eine neue Ausgabe erscheint, wird man klarer sehen.

Der Band hat neben und mit seinem Inhaltsreichtum eine politische Botschaft. Er ist explizit auch eine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus. Dessen Vorstellung, daß durch die Übertragung des bürgerlich-emanzipatorischen Freiheitsgedankens auf die Welt der Wirtschaft die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert werden könnten, wird kategorisch abgelehnt: "Grundlage ist die von allen Autoren geteilte Überlegung, daß soziale Ideen in einem grundsätzlichen Sinn nicht liberale sein können, da sie sich gegen die Unterstellung einer durch Macht und Wettbewerb gekennzeichneten natürlichen Ordnung wenden müssen."

Das Buch stellt statt dessen den Versuch dar, "Hinweise und Anleitungen für eine humane Zukunftsgestaltung zu bewahren, . . . gleichzeitig aber auch . . . von der Geschichte desavouierte Vorstellungen in ihren geschichtlichen Kontext zurückzuverweisen" (Grebing). Am Ende dieser Lektüre ist man überrascht, wie wenig Revolutionen soziale Ungleichheit auslöste, aber wie viele Bücher sie hervorbrachte.

JÜRGEN SCHMIDT

Helga Grebing (Hrsg.): "Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland". Sozialismus - Katholische Soziallehre - Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch. Klartext Verlag, Essen 2000. 1160 S., geb., 142,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als einen über weite Strecken gelungenen Versuch, "durch das weit verzweigte Netz an Theorien und Ideen über das gesellschaftliche Miteinander der modernen Gesellschaften einen Routenplan zu legen", bezeichnet Rezensent Jürgen Schmidt dieses Handbuch. Dabei nimmt ihn an dieser "ungeheuer komprimierenden Leistung" auch ein, dass hier in vier Bänden Text für fünf versammelt sei - für den Preis von drei. Der Rezensent gibt kurz einen Überblick über die vier Themenkomplexe: angefangen mit der Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, bis zu den sozialen Ideen der Kirchen. Nicht immer findet die Vorgehensweise in der Darstellung seine Zustimmung. Doch inhaltlich hat er "praktisch keine Lücken" gefunden, wie er großzügig bestätigt. Nur für die Anmerkungen hätte er sich Querverweise auf die "Ersterwähnung eines Zitats" gewünscht. Dies Buch ist "explizit auch eine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus" findet Schmidt schließlich und staunt am Schluss der Lektüre, "wie wenig Revolutionen soziale Ungerechtigkeit auslöste, aber wie viele Bücher sie hervorbrachte".

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