Ein Junge in einem Kleid? Rot und mit einem tiefen Ausschnitt? "Jo im roten Kleid" ist die Geschichte eines coming out, die Geschichte eines neuen Helden, der viel Mut aufbringen muss, um er selbst zu sein. Jens Thiele hat Jo mit Scherenschnitten und Collagen in eine Welt gesetzt, die ihn wütend verfolgt, ihm aber auch mit liebevoller Bewunderung begegnet. Am Ende geht der Junge gestärkt aus dem Konflikt hervor.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2004Wer bin ich?
Ein Bilderbuch, das Mut zur eigenen Identität macht
Leuchtendrote Farbflächen im Kontrast mit schwarzen und grauen Scherenschnittmotiven. Collagen aus beschriebenem oder bedrucktem Papier, aus Stoffresten und Architekturfotos. Figürliche Elemente, wie sie antike griechische Vasen geschmückt oder hellenistische Paläste verziert haben, das Bilderbuch Jo im roten Kleid von Jens Thiele macht einen überwältigenden Eindruck. Es zeigt eine Vielfalt von Formen und Farben, die Seite für Seite von dynamischen Linien eingefangen, gegliedert und zusammengefügt werden. Aber weil es in diesem Bilderbuch nicht nur um Farben und Umrisse und um die Spannungen zwischen ihnen, sondern auch um eine Geschichte geht, liegen die Dinge ein wenig komplizierter. Denn die zugrundeliegende Erzählsituation und die Sprache, in der die Protagonisten sich miteinander unterhalten, sind im letzten kleinen Detail nicht mit der gleichen Genauigkeit ausgearbeitet worden.
Jo im roten Kleid ist so etwas wie ein Bekenntnis zur weiblichen Seite im Mann, bzw. in einem Jungen. Es handelt also von Geschlechterrollen, vor allem von Unsicherheit und Angst im Umgang damit. In einem Alter, in welchem das Verhältnis zum eigenen Körper und die eigene Identität noch fremd und ungefestigt sind und daher eher rigide definiert werden. Ein Mann unbestimmten Alters erzählt einem genauso anonymen Jungen, wie er vor langer Zeit davon träumte, ein weit ausgeschnittenes rotes Kleid seiner Mutter zu tragen, wie er sich dann vor dem Spiegel in die melodramatische Rolle einer Schönheit hineinträumte, die von einem verständnislosen Mob geschunden wird – und wie er schließlich trotzdem den Mut fand, in einem solchen Kleid tatsächlich auf die Straße zu treten. Das klingt nach nicht viel und ist doch eine ungeheure Grenzübertretung.
Die Collagen bebildern nun zum einen, was dem Erzähler widerfuhr, bzw. was er sich als Geschichte erdacht hatte; und zum anderen illustrieren sie die Spannung zwischen dem Mann, der erzählt, und dem Jungen, der zuhört: Graue und schwarze Scherenschnitte, die sich überlagern, machen das Hin und Her von Abstoßung und Neugier deutlich, das zwischen den beiden herrscht, die Offenheit des einen genauso wie die Skepsis des anderen.
Dynamischer könnte man sich das kaum vorstellen, und wenn nun die Charaktere nicht nur so vage skizziert wären, allzu reduziert auf die eine existentielle Funktion, die sie in der Geschichte zu übernehmen haben, und wenn die Sprache ein bisschen weniger lapidar wäre, dann bliebe überhaupt nichts zu wünschen übrig. (ab 6 Jahre und Erwachsene)
MICHAEL SCHMITT
JENS THIELE: Jo im roten Kleid. Peter Hammer Verlag 2004. 32 Seiten, 13,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein Bilderbuch, das Mut zur eigenen Identität macht
Leuchtendrote Farbflächen im Kontrast mit schwarzen und grauen Scherenschnittmotiven. Collagen aus beschriebenem oder bedrucktem Papier, aus Stoffresten und Architekturfotos. Figürliche Elemente, wie sie antike griechische Vasen geschmückt oder hellenistische Paläste verziert haben, das Bilderbuch Jo im roten Kleid von Jens Thiele macht einen überwältigenden Eindruck. Es zeigt eine Vielfalt von Formen und Farben, die Seite für Seite von dynamischen Linien eingefangen, gegliedert und zusammengefügt werden. Aber weil es in diesem Bilderbuch nicht nur um Farben und Umrisse und um die Spannungen zwischen ihnen, sondern auch um eine Geschichte geht, liegen die Dinge ein wenig komplizierter. Denn die zugrundeliegende Erzählsituation und die Sprache, in der die Protagonisten sich miteinander unterhalten, sind im letzten kleinen Detail nicht mit der gleichen Genauigkeit ausgearbeitet worden.
Jo im roten Kleid ist so etwas wie ein Bekenntnis zur weiblichen Seite im Mann, bzw. in einem Jungen. Es handelt also von Geschlechterrollen, vor allem von Unsicherheit und Angst im Umgang damit. In einem Alter, in welchem das Verhältnis zum eigenen Körper und die eigene Identität noch fremd und ungefestigt sind und daher eher rigide definiert werden. Ein Mann unbestimmten Alters erzählt einem genauso anonymen Jungen, wie er vor langer Zeit davon träumte, ein weit ausgeschnittenes rotes Kleid seiner Mutter zu tragen, wie er sich dann vor dem Spiegel in die melodramatische Rolle einer Schönheit hineinträumte, die von einem verständnislosen Mob geschunden wird – und wie er schließlich trotzdem den Mut fand, in einem solchen Kleid tatsächlich auf die Straße zu treten. Das klingt nach nicht viel und ist doch eine ungeheure Grenzübertretung.
Die Collagen bebildern nun zum einen, was dem Erzähler widerfuhr, bzw. was er sich als Geschichte erdacht hatte; und zum anderen illustrieren sie die Spannung zwischen dem Mann, der erzählt, und dem Jungen, der zuhört: Graue und schwarze Scherenschnitte, die sich überlagern, machen das Hin und Her von Abstoßung und Neugier deutlich, das zwischen den beiden herrscht, die Offenheit des einen genauso wie die Skepsis des anderen.
Dynamischer könnte man sich das kaum vorstellen, und wenn nun die Charaktere nicht nur so vage skizziert wären, allzu reduziert auf die eine existentielle Funktion, die sie in der Geschichte zu übernehmen haben, und wenn die Sprache ein bisschen weniger lapidar wäre, dann bliebe überhaupt nichts zu wünschen übrig. (ab 6 Jahre und Erwachsene)
MICHAEL SCHMITT
JENS THIELE: Jo im roten Kleid. Peter Hammer Verlag 2004. 32 Seiten, 13,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Rezensent Michael Schmitt findet den optischen Eindruck dieses auch thematisch ehrgeizigen Buches - es geht um Geschlechtergrenzen und deren Überschreitung - richtig "überwältigend". Nur mit der inhaltlichen Umsetzung ist er nicht ganz zufrieden. Die Sprache findet der zu "lapidar" und auch die Skizzierung der Charaktere ist "allzu reduziert auf die eine existentielle Funktion, die sie in der Geschichte zu übernehmen haben" und gleichzeitig zu "vage". In Anbetracht der extrem gelungenen Bebilderung - besonders gefällt dem Rezensenten die visuelle Übersetzung der Spannungszustände, die diese Selbstfindungsgeschichte begleiten - überwiegt in seinen Augen dennoch der positive Eindruck: "Es zeigt eine Vielfalt von Formen und Farben, die Seite für Seite von dynamischen Linien eingefangen, gegliedert und zusammengefügt werden."
© Perlentaucher Medien GmbH
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