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Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Berlin
  • Originaltitel: Anna Grom i ee prizrak
  • Seitenzahl: 251
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 338g
  • ISBN-13: 9783871344237
  • ISBN-10: 3871344230
  • Artikelnr.: 09892065
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Post aus dem Totenreich
Maria Rybakovas russisches Roulette / Von Klara Obermüller

Was für ein Anfang! "Du lebst - ich bin tot", dies der erste Satz des ersten Briefes, den eine offensichtlich junge Frau an einen offensichtlich jungen Mann schreibt. Die junge Frau hat sich soeben in ihrem Zimmer erhängt. Nun schreibt sie Briefe, vierzig insgesamt, an jenen Mann, den sie zu Lebzeiten geliebt hat, ohne von ihm wiedergeliebt zu werden. Vierzig Briefe, vierzig Tage, bis die Seele der Toten sich endgültig vom Körper gelöst hat und in jenes Vergessen eingetaucht ist, das allem ein Ende setzt. Vierzig Briefe und vierzig Tage müssen genügen, ein Leben zu rekapitulieren, das abbricht, noch ehe es richtig begonnen hat.

Dies ist in kurzen Worten der Inhalt des Romans, mit dem die achtundzwanzigjährige Russin Maria Rybakova, Enkelin des berühmten Schriftstellers Anatolij Rybakov, vor zwei Jahren in ihrer Heimat Furore gemacht hat. Nun liegt diese "Liebesgeschichte", wie es im Untertitel heißt, auf deutsch vor. Eine Liebesgeschichte ist es in der Tat, wenn auch eine sehr seltsame. Die Liebe, von der hier die Rede ist, existierte fast nur im Kopf, in der Phantasie der Erzählerin. Dort aber ist sie so unbedingt, wie Liebe nur sein kann.

Als die junge Frau realisiert, daß es eine Erfüllung für diese Liebe nie geben wird, macht sie Schluß. Wer sie wirklich war und was sie für ihren Freund Wilamowitz empfand, erfährt dieser erst durch die Briefe der Toten. Doch werden sie ihn erreichen, und wird er sie auch lesen? Wir wissen es nicht. Und es braucht uns letztlich auch nicht zu kümmern. Wir sind zwar nicht die Adressaten der Briefe; aber wir lesen sie und werden Schritt für Schritt hineingenommen in ein Leben, das von seinem Ende her auf sein letztes Quentchen Unverwechselbarkeit pocht.

Man muß wohl sehr jung sein, um so zu lieben und gleichzeitig mit dem Tod so vertrauten Umgang zu pflegen, wie Anna Grom, wie Maria Rybakova dies tun. Die beiden haben in der Tat vieles gemeinsam: das Studium der Altphilologie, den Weggang aus Moskau, den Versuch, in Berlin Fuß zu fassen, und vielleicht auch die Liebe, die keine Erfüllung findet. Doch Maria Rybakova lebt. Sie promoviert zur Zeit an der Yale University, und sie hat ein Buch geschrieben über eine junge Frau, die sich in ihrem Zimmer in Berlin erhängt und uns von einem Leben erzählt, das endgültig ist, weil der Tod weder Veränderung noch Entwicklung zuläßt.

Besonders interessant oder gar außergewöhnlich ist das Leben der Anna Grom nicht. Erst der gewaltsame Tod verleiht ihm so etwas wie einen dunklen Glanz. Nach dem fulminanten Anfang weiß die Geschichte von Brief zu Brief weniger Interesse zu wecken. Philosophische Erörterungen reichen auf Dauer nicht, um den Leser zu fesseln.

Ein paar flüchtige Liebschaften, ein wenig Studentenalltag, Herumhängen in Kneipen, die Mühen der Jobsuche, die eine oder andere Kindheitserinnerung und immer wieder die vergeblichen Versuche, mit dem Angebeteten in Kontakt zu treten - mehr gibt es von diesem kurzen Leben im Grunde nicht zu berichten. Die Spannung verpufft und geht unter in einem Wust von Gedanken, die tiefsinnig sein möchten und doch nur verblassen und letztlich banal sind.

Aufhorchen läßt der Roman eigentlich nur in jenen Passagen, die das Geschehen auf irritierende Weise in der Schwebe halten zwischen Traum und Wirklichkeit. Wenn die Alltagsrealität plötzlich kippt und man in einem Anflug von Schwindel auf einmal nicht mehr weiß, ob man sich noch diesseits oder schon jenseits der Grenze befindet, da ahnt man das Potential, das in dieser eigenwilligen Autorin steckt, und erkennt auch die literarischen Traditionen, aus denen sie schöpft: Bulgakov ist da nicht fern; doch durchzuhalten vermag Rybakova dessen literarische Phantastik nicht. So bleibt der Eindruck einer begabten jungen Autorin zurück, die zu hoch gepokert hat.

Maria Rybakova: "Die Reise der Anna Grom". Eine Liebesgeschichte. Aus dem Russischen übersetzt von Dorothea Trottenberg. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2001. 251 S., geb., 38,92 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2002

Kopie der Seele
Der Hang zur kleinen Ausländerin:
Maria Rybakovas Leichenhaus
Dies ist ein Buch, dem es an Erhängten nicht mangelt. Die in Berlin lebende Russin und Ich-Erzählerin Anna Grom tut es schon auf der ersten Seite; ihr Jugendfreund Maxim tut es in Moskau nur im Traum, Dozent Schmidt schreitet auf Seite 157 zum Selbstmord durch Erhängen, und nur wenig später baumelt ein Anonymer, der von einer Prostituierten, die gerade mit Annas Freund schläft, beobachtet wird. Worauf sie, zur Verwechslung neigend, schreit wie aus Lust.
Schlimm ist das alles nur am Rande. Denn wie im Trash und im romantischen Gruselmärchen (irgendwann in den siebziger Jahren gab es den Film „Das Leichenhaus der lebenden Toten”), hindert ihr Totsein die Toten hier an wenig. Maria Rybakov, Tochter des berühmten Schriftstellers Anatolij Rybakov, entwirft in ihrem Debut eine Welt, die verdreht ist: „Lieber Wilamowitz!”, beginnt der Roman: „du lebst, ich bin tot, Du widmest deine Zeit dem Studium der toten Sprachen, vielleicht bin auch ich nun, da ich nicht länger lebe, von Interesse für dich.”
Wilamowitz hat die Ich-Erzählerin abgewiesen. Sie hat sich deswegen umgebracht, ist in der Folge gut gelaunt und erzählt dem Mann, der nur an einem Abend etwas von ihr wollte, in Briefen aus dem Jenseits ihre Zeit in Berlin. Diese ist bestimmt durch die Begegnung der jungen, gebildeten Russin, die anfangs kaum Deutsch kann, mit dem deutschen Wesen, das heisst dem deutschen Mann und seinem Hang zur kleinen Ausländerin. Die Regel wäre die Essenseinladung ins Restaurant, die nur bei Frauen aus finanzschwachen Ländern nicht Pflicht ist. Anna legt denn auch anfangs baldiges Küssen als Verliebtheit aus. Als der Mann, der sie im Museum abgeschleppt hat, sie im Auto fragt, ob sie Leibniz kenne, lächelt er; und als sie mit „Ja” antwortet, lächelt er mehr. Das ist, so die Ich-Erzählerin, „deutsche Ironie”. Denn der Mann denkt gar nicht daran, dass Anna seine Frage verstanden haben könnte und sonnt sich in ihrer Dummheit.
Berlin (Balkan)
Schön sind auch einige Bemerkungen der Erzählerin zu Berlin, das dem Ausländerzuwachs der letzten Jahre noch einige Fußnoten in der Weltliteratur verdanken wird: Die Szene in Ost-B umschreibt die tote Anna so: „Zu unserer Zeit waren diese Straßen von schlampigen Jugendlichen aus aller Welt bevölkert, zu traurig, um in ihrer Heimat Karriere zu machen, zu fröhlich, um sich umzubringen.” Auch Anna sitzt auf den Dächern des Prenzlbergs, hält aber den Viktoria-Luise-Platz für den schönsten Berlins und fertigt andere Gegenden schon mal in einem Nebensatz ab: „Wir wollten uns in Kreuzberg treffen, wo Türken wohnen und Deutsche mit gepiercten Augenbrauen und Lippen, in einem Restaurant mit Namen ,Markthalle‘, das ich einmal mit einer richtigen Markthalle verwechselt hatte.” Doch Berlin ist für die junge Osteuropäerin auch eine Art Balkan: Weil jeder versucht, sie auf seine Weise auszutricksen. Selbst Frauen tun sich da leicht: Eine Modellagentur lädt Anna trotz ihrer offenkundigen Hässlichkeit ein, verlangt das Geld für die Kartei, doch man sieht sich erst wieder, als die Agentin Reisebürotipse geworden ist.
Nicht nur das „deutsche” Thema profitiert von der ungewöhnlichen Perspektive, auch das Jenseits wird poetisch knapp erzählt: „Vielleicht interessiert es dich, dass das, was man zu Lebzeiten als meine Seele bezeichnete, eine Kopie der Gegend war, von der aus ich dir jetzt schreibe.” Überhaupt gibt das Abweichen von der Realität Anna Groms Geschichte jene Leichtigkeit, die purer Realismus selten hat; eine Eleganz, die sich auch auf die sentenzenhafte, gut lesbar übersetzte Formulierung von Gedanken überträgt: „Ebenso wie er Arroganz für Raffinesse hielt, war Selbstbewusstsein für ihn das Gefühl von Überlegenheit”.
Einen Fehler hat das Buch, der, je nach Geschmack, schwer oder leichter wiegen dürfte: Rybakova, deren Heldin eine Studentin der Altertumswissenschaften ist, die selber Klassische Philologie studiert hat, nennt den Angebeteten ihrer Anna Grom „Ulrich Wilamowitz”: Nun wäre es lustig, wenn Annas Ulrich tatsächlich der bekannte Philologe und Bildungspolitiker des 19.Jahrhunderts gewesen wäre: Ulrich Wilamowitz-Moellendorff, der ein Frauenfeind und ein giftiger Stilist war, aber sich an Nietzsche und seiner „Afterphilologie” festbiss. Was Wilamowitz bis in alle Ewigkeit den Ruf als verknöcherter Spießer eingetragen hat. Rybakovas Fehler nun ist, dass Wilamowitz nicht Wilamowitz-Moellendorff ist, sondern schlicht irgendein Altertums-Dozent, den die Ich-Erzählerin nur so nennt. Das macht das Namensspiel beinahe zum ebenso faden wie überflüssigen Scherz.
Beinahe, weil die Art des Namens noch einen anderen Hintergrund hat. Gegen Ende zieht Wilamowitz ein Foto aus seiner Tasche. Sein Großvater sei darauf zu sehen: er heisse Heydrich. Auf etwas deftige, dramaturgisch überraschende Weise bringt die Rybakova damit zwei Stilisierungen des Deutschen: die des Gelehrten und die des pflichtbewussten Nazis zusammen. Doch das Gelungenste an diesem verspielten Buch bleiben die prägnanten Formulierungen: „Sie gehörte zu den Frauen, die so dünn sind, dass sie aussehen, als würden sie schlecht riechen”, kolportiert die Erzählerin von einer Konkurrentin.
HANS-PETER KUNISCH
MARIA RYBAKOVA: Die Reise der Anna Grom. Eine Liebesgeschichte. Deutsch von Dorothea Trottenberg. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 251 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Die Seele hat sich noch nicht vom toten Körper getrennt, der Selbstmörderin bleibt darum noch etwas Zeit, ihrer großen Liebe endlich zu schreiben, was sie lebend nie zu sagen wagte. Diese Briefe empfindet Rezensentin Pamela Jahn als "eindringlich", und besonders schätzt sie ihren "nachdenklichen und doch nüchternen Ton". Aber ihr Lesevergnügen ist nicht ungebrochen, denn wenn die Autorin Maria Rybakova "zu sehr ins Philosophieren" gerate, dann werde es anstrengend. Dann wird auch der klare analytische Blick der Hauptfigur getrübt von zu viel "romantischem Pathos", bedauert Jahn.

© Perlentaucher Medien GmbH