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Im Mai 1961 gerät Günter Grass ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit, das ihn als ideologischen Gegner ausmacht und bis zum Herbst 1989 engmaschig überwacht. Grass beharrt auf der Einheit der deutschen Literatur, kritisiert die Zensur, hilft unterdrückten Schriftstellerkollegen, fordert Abrüstung und Umweltschutz in Ost und West - um den Preis, dass seine Bücher jahrzehntelang in der DDR nicht erscheinen dürfen. 2200 Seiten Akten legen Zeugnis ab vom Kontrollwahn des Geheimdienstes der DDR, offenbaren die Mechanismen der Überwachung, aber auch die Wege, sie zu umgehen. Der…mehr

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Produktbeschreibung
Im Mai 1961 gerät Günter Grass ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit, das ihn als ideologischen Gegner ausmacht und bis zum Herbst 1989 engmaschig überwacht. Grass beharrt auf der Einheit der deutschen Literatur, kritisiert die Zensur, hilft unterdrückten Schriftstellerkollegen, fordert Abrüstung und Umweltschutz in Ost und West - um den Preis, dass seine Bücher jahrzehntelang in der DDR nicht erscheinen dürfen. 2200 Seiten Akten legen Zeugnis ab vom Kontrollwahn des Geheimdienstes der DDR, offenbaren die Mechanismen der Überwachung, aber auch die Wege, sie zu umgehen. Der vorliegende Band macht das schwer auffindbare und verstreut archivierte Material erstmals zugänglich, ordnet es chronologisch und thematisch. Günter Grass selbst sowie viele Autorenkollegen und Zeitzeugen liefern mit ihren Kommentaren aufschlussreiche Hintergrundinformationen. Ein Dokument deutscher Literatur- und Zeitgeschichte.
Autorenporträt
Schlüter, Kai
Jahrgang 1956; Studium der Germanistik und Sozialwissenschaften in Göttingen; 1983 Promotion; 1983/84 Volontariat bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung; 1984-86 Hörfunkredakteur beim Norddeutschen Rundfunk; seit 1986 Redakteur bei Radio Bremen; ARD-Hörfunkkorrespondent in Washington und London sowie Chef vom Dienst im 2001 neu gegründeten Nordwestradio (RB/NDR).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2010

Nein, diese Suppe ess' ich nicht

Wenn es einen Mann gab, vor dem die Stasi Angst hatte, dann war das Günter Grass. Nun erscheinen die Spitzelberichte, ergänzt um Kommentare der damals Ausspionierten.

Von Andreas Platthaus

Für die Stasi war Günter Grass der "Bolzen". So lautete sein Deckname als Beobachtungsobjekt. Es gehört zu den Perfidien der DDR-Staatssicherheitsbehörde, dass sie nicht nur ihre Zuträger hinter Pseudonymen verbarg - im Falle der Ausspionierung von Grass vor allem den Bruder des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich, den Historiker Karlheinz Schädlich, der in den Akten als IM "Schäfer" firmiert -, sondern auch die Opfer ihrer wahren Namen beraubte. Nach welchen Kriterien solche Bezeichnungen ausgewählt wurden, kann man nur vermuten. Bei Grass wird seine Bärbeißigkeit und polternde Art eine Rolle gespielt haben, die mehrmals in den Stasi-Dokumenten Erwähnung findet. Wobei stets zu beachten bleibt, was Kai Schlüter in seinem jetzt erscheinenden Buch "Günter Grass im Visier" schreibt: "Die Stasi-Akten spiegeln eine gefilterte Sicht der Wirklichkeit wider. Es ist die Sicht einer politischen Geheimpolizei, die im Auftrag der herrschenden SED handelt und ihr eigenes Feindbild pflegt." Positive Eigenschaften bei Ausspionierten waren unerwünscht.

Bevor Grass 1975 in den Akten der Name "Bolzen" verpasst wurde, war der Schriftsteller bereits vierzehn Jahre lang Gegenstand ostdeutscher Ausforschung gewesen. Seine Überwachung beginnt am 18. August 1961, fünf Tage nach dem Mauerbau, mit einem sogenannten Suchzettel, der dazu dienen soll, erste wichtige Angaben zur Person zu versammeln. Auf der danach angelegten Karteikarte ist unter anderem ein offener Brief vermerkt, den Grass noch am 13. August 1961 zusammen mit dem Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre an Anna Seghers, Vorsitzende des Deutschen Schriftstellerverbands in der DDR, geschickt hatte. Er forderte Anna Seghers unverhohlen zum Protest gegen die Schließung der Grenzen auf: "Wer schweigt, wird schuldig."

Wer so schrieb, fiel auf: "Angefallen wegen Provokation" lautet die in der Wortwahl seltsame Begründung für das geweckte Stasi-Interesse an Grass, aber der aggressive Beiklang des Verbs "anfallen" entsprach durchaus dem Eifer, mit dem die Stasi fortan Informationen über Grass einholen sollte. Mehr als 2200 Seiten, die sich dem Schriftsteller widmen, haben in den verschiedenen Stasi-Archiven überlebt; einige davon mussten nach dem Zerschreddern wieder zusammengesetzt werden. Zusammengestellt und um in den Akten erwähnte Texte sowie eigens dazu eingeholte Kommentare von Grass und anderen, zusammen mit ihm bespitzelten Personen ergänzt, ergeben die Dokumente einen fast vierhundertseitigen Band. Heraus kommt er beim Ch. Links Verlag, dessen Programm zahlreiche wichtige Bücher zu Gesellschaft und Geschichte der DDR umfasst.

Der Herausgeber Kai Schlüter ist Jahrgang 1956, wurde in der Bundesrepublik geboren, studierte Germanistik und Soziologie und arbeitet heute als Redakteur bei Radio Bremen. Für sein Buch hat er die Unterstützung von Grass selbst gewonnen, ohne dessen Einverständnis die Dokumente gar nicht hätten veröffentlicht werden dürfen. Mehrfach trafen sich Grass und Schlüter, um die Akte durchzugehen, zuletzt noch am 15. November 2009. Man kann nur bewundern, wie es Schlüter gelungen ist, die spröde Behördenprosa der Stasi durch die beigegebenen Kommentare der Ausspionierten zu beleben, und ebenso bewunderungswürdig ist seine redaktionelle Leistung. Denn noch nach dem Novembergespräch mit Grass holte Schlüter weitere Auskünfte ein, die auch Eingang in den Text gefunden haben, so etwa mit dem Schriftsteller F. C. Delius am 25. Dezember, mit dem Germanisten und Theaterwissenschaftler Dietger Pforte am 2. Januar und mit der Liedermacherin Bettina Wegener gar erst am 14. Januar. So sieht aktuelle Forschung aus.

Dass dabei kleine Fehler unterlaufen, ist unvermeidlich. Wie soll etwa das heimlich von der Stasi aufgenommene Foto, das Günter Grass und seine spätere Frau Ute Grunert am Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße zeigt, vom 3. Februar 1978 stammen, wenn vier Monate später in den Akten als bislang letzter beobachteter Grass-Besuch in der DDR einer vom 20. Januar genannt wird? Zumal die Bekleidung des Paars und weiterer Passanten auf dem Foto nicht gerade für Februar spricht und Grass am 1. Februar 1978 einen Appell zur Freilassung des Philosophen Rudolf Bahro aus DDR-Haft mitunterzeichnet hatte. So kurz danach wäre er wohl schon aus Klugheit nicht nach Ost-Berlin gereist.

Einmal verwandelt Schlüter bei der Transkription einer Akte das Jahr 1983 in 1933. Und bisweilen missachtet er die Chronologie der Dokumente zugunsten thematischer Zusammenhänge. Das erste Konvolut an Stasi-Dokumenten entsteht im Zusammenhang von Grass' Protesten gegen den Mauerbau und die Zensur in der DDR - es reicht bis 1966. Weitere Abschnitte widmen sich dann der Amtszeit von Grass als Präsident der West-Berliner Akademie der Künste (1983 bis 1986), mehreren Lesereisen in der DDR während der Jahre 1987 und 1988 und schließlich einem einwöchigen Aufenthalt des Ehepaars Grass auf Rügen und Hiddensee, der Heimat von Ute Grunert, im Juni 1989. Diesen Besuch hatte der ehemalige Leiter des Leipziger Reclam Verlags, Hans Marquardt, im Auftrag der Stasi arrangiert, um einer kirchlichen Einladung an Grass zuvorzukommen. Dass Marquardt, der sich in der DRR besonders für sein Werk eingesetzt hatte, als IM "Manfred" für die Stasi spitzelte, blieb dem Schriftsteller bis Marquardts Tod 2004 verborgen. "Die Idee, dass er für den Staatssicherheitsdienst arbeiten würde, kam mir nicht ansatzweise", gibt Grass heute zu Protokoll.

Das umfangreichste Kapitel aber besteht aus den Bespitzelungsberichten jener deutsch-deutschen Autorentreffen, die durch die Initiative von Grass in den Jahren 1974 bis 1978 in Ost-Berliner Schriftstellerwohnungen durchgeführt werden konnten. Erst nach zwei Jahren bekam die Stasi Wind davon: durch Karlheinz Schädlich, dessen Bruder einer der regelmäßigen Teilnehmer war. Susanne Schädlich, Tochter von Hans Joachim Schädlich, hat im vergangenen Jahr in ihrem Erinnerungsbuch "Immer wieder Dezember" die Geschichte dieser Treffen und des Verrats ihres Onkels eindrucksvoll erzählt. Sie konnte dabei auf dasselbe Material zurückgreifen, das Schlüter nun publiziert.

Aus den Beobachtungsprotokollen und IM-Gesprächen zu den Schriftstellertreffen ergibt sich das Bild einer drolligen Gesellschaft, in der es auf Geheiß von Grass immer Suppe zu geben hatte, die aber bei Nichterfüllung der Erwartungen des westdeutschen Gastes Gegenstand seines beißenden Spotts wurde, wie sich Hannelore Teutsch als Gastgeberin eines Treffens in Schlüters Buch erinnert. "Er ist schon der Meister in diesem Zimmer, und das weiß er", notierte Manfred Krug, selbst gelegentlicher Teilnehmer, 1977 im Tagebuch, und die Stasi-Spione kamen zum selben Schluss. Mehr als das: Sie machten in Grass einen besonders erbitterten Widerpart der DDR aus, weil er eine kompromisslos sozialdemokratische Linie vertrat und auch bei seinen Lesereisen in die DDR kein Blatt vor den Mund nahm. Was die Berichte erzählen, zeichnet auch unter Berücksichtigung mancher Verfärbungen kein unbedingt sympathisches, aber ein ehrenvolles Bild von Günter Grass.

Die Stasi-Akten enthalten keine Spur von seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS - die sicherlich ein gefundenes Fressen für den Stasi-Chef Erich Mielke gewesen wäre. Denn die Angst vor dem Einfluss des Schriftstellers war groß. Als Grass 1983 Präsident der Akademie der Künste geworden war und sofort versuchte, Kontakte zur entsprechenden Akademie in Ost-Berlin herzustellen, kommentierte die Stasi das in einem Bericht mit dem panisch klingenden Satz: "Die jetzt eingetretene Situation veranlasst die Leitung der Akademie der Künste der DDR, jederzeit mit einem plötzlichen Besuch von Günter Grass in der Akademie der Künste der DDR zu rechnen."

Grass ante portas, das bedeutete ein Problem. Nachdem man Hans Joachim Schädlich im Herbst 1977 endlich die Ausreise gestattet hatte, wurde gegen Grass als dessen angeblich entscheidendem Einflüsterer ein Einreiseverbot in die DDR verhängt. Das war aber nur Stasi-intern bekannt. Als Akademiepräsident konnte man den Schriftsteller auch schlecht draußen warten lassen, also wurde das weiterhin bestehende Einreiseverbot auf Geheiß von Mielke persönlich jeweils für die Dauer des gewünschten Besuchs aufgehoben - ein verwaltungstechnisches Possenspiel, über das man heute erfreulicherweise nur noch lachen kann.

Kai Schlüter: "Günter Grass im Visier". Die Stasi-Akte. Ch. Links Verlag, Berlin 2010. 379 S., 20 Abb., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

"Glasnost für alle Akten!", fordert Arno Widmann angesichts der von Kai Schlüter herausgegebenen und kommentierten Stasi-Akten von Günter Grass. Schlüters Veröffentlichung lobt der Rezensent, der zu gerne einmal ein Buch lesen würde, dass auch die Akten westlicher Geheimdienste fein säuberlich aufdröselt, besonders für seine Übersichtlichkeit und Systematik. Auf 2200 Seiten ist natürlich von den Heldentaten des von der Stasi als Provokateur und Konterrevolutionär eingestuften Grass die Rede, bemerkt Widmann spitz. Der Herausgeber macht in seinem Buch nicht nur die 109 Stasi-Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich, sondern bettet sie mithilfe von Einleitungen und Kommentaren von Zeitzeugen in die Zeitgeschichte ein, wie der Rezensent gelesen hat. Sehr eindrücklich zeigt der nach Meinung Widmanns "ausgezeichnete" Band so das persönliche Schicksal des politisch engagierten Autors und die beiden deutschen Staaten mit ihren unterschiedliche Auffassungen von Freiheit und Sozialismus.

© Perlentaucher Medien GmbH
Die Stasi-Aufzeichnungen über Günter Grass erscheinen 20 Jahre nach der Wiedervereinigung in einer fesselnd zu lesenden Dokumentation. Matthias Hoenig, dpa Ein neues Buch beleuchtet den nahezu pathologischen Wahn, mit dem der DDR-Geheimdienst Grass zu einem Hauptfeind des Arbeiter- und Bauernstaates stilisierte und bespitzelte. (...) Schlüters Buch ist ein Dokument deutsch-deutscher Kulturgeschichte zu Zeiten der Teilung. Es ist zudem ein Lehrstück über die Hilflosigkeit der Ost-Berliner Diktatoren, die sich vor ihren Bürgern und der Weltöffentlichkeit ebenso entschlossen wie politisch gefestigt gerierten - und doch vor Angst schlotterten, dass Grass ihre Untertanen mit seinem Traum vom demokratischen Sozialismus infizieren könnte. Carsten Holm, Spiegel online Kai Schlüter ist mit der aufbereiteten Dokumentation ein entlarvendes Geschichtsbuch gelungen. Meike Jänike, Märkische Allgemeine Ein spannendes, lehrreiches Dokument der deutschen Literatur- und Teilungsgeschichte. Das gescheite Buch verrät viel über die Furcht der Machthaber, Farce und Schrecken der Überwachung, Mut und Anpassung unter Literaten. Vor allem aber ist es geeignet, das Bild zu korrigieren, das sich die Öffentlichkeit von Günter Grass macht. Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung Kai Schlüters dokumentarisches "Lesebuch" ist zuverlässig gearbeitet, es schneidet den Fall Grass mit gut gewählten Dokumenten und Kommentaren aus dem riesigen Komplex "Sicherungsbereich Literatur" heraus und gibt Einblicke in die Vita eines Westdeutschen, dessen antitotalitäre Haltung zu keiner Zeit ein bloßes Lippenbekenntnis war. Harro Zimmermann, Literarische Welt Wie umfangreich Grass observiert, wie sehr jeder seiner DDR-Besuche auf Schritt und Tritt verfolgt, wieviel Richtiges, Falsches, Tendenziöses und Nebensächliches in den Stasi-Berichten zu seiner Person und seinen politischen Einstellungen gesammelt wurde, das alles steht jetzt in dem äußerst lesenswerten Buch des Germanisten und Journalisten Kai Schlüter. Gerrit Bartels, Tagesspiegel Kai Schlüters Edition ist ein vorzüglicher Beitrag zur jüngsten Zeitgeschichte. Vor allem lässt er die Stasi-Berichte nicht einfach stehen - so als handelte es sich bei ihnen um die reine Wahrheit -, sondern von den Betroffenen kommentieren. Martin Ebel, Tages-Anzeiger 2200 Seiten stark ist Grass' Stasi-Akte. Nun hat der Bremer Journalist Kai Schlüter dieses faszinierende Material erstmals gesichtet, geordnet und ediert. Das Ergebnis seiner Suche, das Lesebuch "Günter Grass im Visier", bildet ein Schlüsseldokument der deutsch-deutschen Geschichte. Hans-Joachim Neubauer, Rheinischer Merkur Schlüter wollte keine wissenschaftliche Edition von Archivmaterial veröffentlichen, sondern ein Lesebuch. Das ist gelungen: Der Band ist fesselnd, informativ und bedrückend. Martina Sulner, Hannoversche Allgemeine Zeitung Ergänzt um historische Erläuterungen und kommentierende Rückblicke von Zeitzeugen, insbesondere von Günter Grass selbst, ist ein ausgezeichnetes Geschichtsbuch entstanden, zugleich ein unterhaltsames Lesebuch, instruktiv, spannend, das man, die Dokumente von Servilität und Verrat vor Augen, ebenso mit Grimm wie mit kopfschüttelnder Belustigung liest. Joachim Güntner, Neue Zürcher Zeitung Ein einzigartiges Dokument der Literatur- und Zeitgeschichte. NDR Bücherjournal, 4.5.2010…mehr