Produktdetails
  • Verlag: Brandes & Apsel
  • Seitenzahl: 319
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 410g
  • ISBN-13: 9783860992265
  • ISBN-10: 3860992260
  • Artikelnr.: 09950932
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.01.2002

Kontinent der Pfründe
In Afrika bedeutet politische Macht Zugang zu den Fleischtöpfen
GERHARD HAUCK: Gesellschaft und Staat in Afrika. Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt/Main 2001, 24,50 Euro.
Abgezehrte Flüchtlinge und Kindersoldaten, deutsche Samariter im Einsatz und Nelson Mandela gelten hierzulande als politische Landmarken in Afrika. Vorstellungen von afrikanischer Historie umfassen „mythische Weltbilder” (Jürgen Habermas) und Kolonial-Epen à la Jenseits von Afrika. In Wirklichkeit gilt auch für unsere südlichen Nachbarn, dass fast alles eine Ursache und der Kontinent natürlich eine Geschichte hat.
Diese Geschichte wenigstens auszugsweise zu erzählen und in einen Zusammenhang zur Gegenwart zu bringen, ist der Soziologe Gerhard Hauck mit seinem Buch Gesellschaft und Staat in Afrika angetreten. Umfangreiches Material bereitet der Autor kenntnisreich auf und stellt es in einen Erklärungsrahmen. Das Ergebnis ist informativ, leidet allerdings stellenweise darunter, dass Hauck zu weitschweifigen Kommentierungen der Arbeit von Fachkollegen neigt.
Nach Hauck erklären sich Aufbau und Aufstieg, Fall und Zerfall von Dorfgemeinschaften, Völkern und Staaten vor allem durch die Ökonomie. Die Wanderfeldbau betreibenden Gouro in Westafrika kamen im Alltag und sogar in Kriegszeiten weitgehend ohne Hierarchien und staatliche Strukturen aus. Dennoch verschafften sich diejenigen älteren Männer eine Vorrangstellung, die über sogenannte Heiratsgüter wie Gold, Elfenbein und kunstvoll gewebte Tücher verfügten, mit denen sie (weitere) Ehefrauen eintauschen konnten. Denn bei den Gouro „manifestierte sich Herrschaft in erster Linie über die Kontrolle der Gebärfähigkeit der Frauen”. Warum die Frauen ihren Trumpf nicht zum eigenen Vorteil nutzen und selber Macht ausüben konnten, erörtert Hauck nicht und folgt damit den meisten seiner Kollegen. Dabei gehört die Suche nach den Ursachen für die Aufspaltung zahlreicher Gesellschaften in Macht ausübende Männer und ohnmächtige Frauen zu den spannendsten offenen Fragen der Gesellschaftswissenschaften.
Über feste Strukturen verfügte das Königreich Mali, das im 13. Jahrhundert die Vorherrschaft in der goldreichen Region zwischen den Flüssen Senegal und Niger übernahm. Nicht kriegerische Gewalt, sondern vor allem die „Symbiose” mit arabischen Fernhandelskaufleuten sicherte über zwei Jahrhunderte Malis Macht. Der König garantierte die Sicherheit der Karawanen, die Kaufleute stützten seine Herrschaft durch ihre Tribute. Im Gebiet des heutigen Namibia bildeten Kaufleute die Vorhut deutscher Kolonialherrschaft.
Dass Hauck der Ökonomie Vorrang bei der Erklärung des Funktionierens afrikanischer Gesellschaften einräumt, klingt ein wenig altmodisch nach Siebzigerjahre. Im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs werden gerne die Macht der Religionen oder die Rolle der Zivilgesellschaft ins Blickfeld gerückt. Wirtschaftliche Faktoren wieder in den Mittelpunkt zu stellen, ist allerdings legitim, solange weitere Einflussfaktoren nicht negiert werden, zumal auch in Ländern wie dem wohlversorgten Deutschland die Ökonomie die politische Debatte beherrscht. Umso bedeutsamer sind wirtschaftliche Faktoren auf einem Kontinent, wo die Mehrheit notwendige Medikamente und den Schulbesuch der Kinder kaum bezahlen kann. Wo der BMW als unerfüllbarer Traum durch die Köpfe aufstrebender Mittelschicht-Männer geistert und neue und alte Eliten Reichtümer raffen, um sie zur Schau zu stellen und zwecks Machterhalt an bereitwillige Helfer zu verteilen. „Pfründenkapitalismus” nennt Hauck die derzeit dominierende Wirtschafts- und Regierungsform.
Kampf um Ressourcen
Wirtschaftliche und politische Macht sind aufs Engste miteinander verzahnt. Der Staat als neutrale Instanz ist nur aus politologischen Lehrbüchern bekannt. Justiz und Polizei dienen zur Durchsetzung von Interessen. Eine Machtposition oder wenigstens ein Posten im Staatsapparat bedeutet Zugang zu den Fleischtöpfen, die von Transportmitteln bis zu Entwicklungshilfegeldern reichen. Wer viel Macht im Staat hat, kann eine enteignete Farm übernehmen oder den Aufbau eines eigenen Unternehmens finanzieren. Im postkolonialen Kenia unter Jomo Kenyatta galt die Wohlfahrts- und Kulturvereinigung GEMA, in der die politische und wirtschaftliche Crème vertreten war, noch vor der Regierungspartei als wichtigstes Gremium zur Verteilung von Pfründen. Kenyattas Nachfolger Arap Moi änderte nichts am Prinzip, nur die Begünstigten wechselten.
Der Verlust politischer Macht, etwa durch eine Wahlniederlage, ist gleichbedeutend mit dem Verlust wirtschaftlichen Wohlergehens und muss deshalb unbedingt vermieden werden. Wenn durch fallende Weltmarktpreise für Bodenschätze und landwirtschaftliche Produkte die zur Verteilung anstehenden Pfründe knapper werden, verschärfen sich die Kämpfe um die Beute. Was auf der Oberfläche als ethnischer oder religiöser Konflikt erscheint, ist häufig ein Kampf um Ressourcen. Zumal strikte religiöse oder ethnische Abgrenzungen, wie Europäer sie gerne unterstellen, in Afrika kaum Tradition haben. Territoriale Grenzen waren vor Auftreten der Kolonialmächte nirgends unverrückbar fixiert. Zugehörigkeit zur Familie des Vaters, des Mannes oder, in matrilinearen Gesellschaften, der Mutter, zu einem Chief, einem Kult, einem Beschneidungsjahrgang und einer Gilde schufen für jeden einzelnen Menschen eine Vielzahl von Zugehörigkeiten. Diesem „Treibsand von Identitäten und Loyalitäten, flexiblen Grenzen und umkämpften Rechten” (Hauck) stülpten die Kolonialmächte ihr Stammeskonzept über, um afrikanische Vielfalt für ihre Kolonialbeamten und Steuereintreiber überschaubar zu machen. Sie bestimmten Häuptlinge nach ihrem Gusto und machten sie zu ihren Handlangern. Staatsgrenzen legten sie fest, um ihre Einflusssphären zu markieren.
Heute erodieren die Europa vertrauten Einteilungen Afrikas. Wie sich
der Kontinent in Zukunft organisieren und regieren wird, ist ungewiss. Haucks Buch bietet einen guten Einblick, aus welchem Fundus er schöpfen kann. GABY MAYR
Die Autorin ist freie Journalistin
in Bremen
Ökonomische Auseinandersetzungen bestimmen das auf europäische Betrachter häufig so exotisch wirkende Afrika.
Foto:Siggi Grunow/
SZ
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sachkenntnis und Analysestärke spricht für Rezensentin Gaby Mayr aus diesem materialreichen Band, der dazu geeignet sei, einigen Klischeevorstellungen von Afrika etwas entgegen zu setzen. Der Autor Gerhard Hauck erkenne in der Ökonomie einen entscheidenden Faktor für "das Funktionieren afrikanischer Gesellschaften". - das klinge zwar etwas angestaubt, sei aber legitim, so lange andere Aspekte nicht ausgeblendet würden, zumal die seit der Kolonialzeit und aktuell immer noch gern betriebene Ethnisierung von sozialen Konflikten doch nur dazu diene, den Europäern einfache Erklärungen zu bieten. Auch wenn Hauck einigen spannenden Fragen nicht nachgeht - etwa der, warum die Frauen der Gouro ihre Gebärfähigkeit nicht zur Machtausübung einsetzen - insgesamt gewinnt der Leser einen "guten Einblick", aus welchem Fundus der Kontinent für die Zukunft schöpfen kann.

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