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Produktdetails
  • Stauffenburg Discussion Bd.21
  • Verlag: Stauffenburg
  • Seitenzahl: 226
  • Deutsch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 338g
  • ISBN-13: 9783860570494
  • ISBN-10: 3860570498
  • Artikelnr.: 12226923
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2004

Halbverkohlter Stämme Graun
Verweigerte Selbsterkenntnis, große Denkübung: Neues von Faust und Wilhelm Meister
Gern zitiert wird das Lied des Türmers Lynkeus aus Goethes „Faust II”: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt” - aber nur der erste Teil, der mit „Es war doch so schön!” endet. Diesem Ausruf folgt eine erste Pause, danach befällt den Türmer „ein gräuliches Entsetzen”, beim Blick auf das Feuer, das die Hütte von Philemon und Baucis zerstört. In der von Goethe unübersehbar markierten und doch fast durchweg übersehenen zweiten, langen Pause im Türmerlied des Lynkeus - ihr folgen die Verse: Was sich sonst dem Blick empfohlen, Mit Jahrhunderten ist hin. - ist nicht nur die Tragödie Fausts enthalten, sondern die Katastrophe der zerstörerischen Moderne, die in Faust ihre erschreckende dramatische Verkörperung gefunden hat - dies ist die überzeugend begründete These eines „Faust”-Buches, das sich zu einer Art Kompendium Goethescher Zeitdiagnostik und -kritik ausgeweitet hat.
Wie gut, möchte man sagen, dass es noch die altehrwürdige Institution der Habilitationsschrift gibt, die ein Werk wie Michael Jaegers „Faust Kolonie” ermöglicht hat. Die „Kolonie”, das ist das umfassende Unterwerfungs- und Neuschaffungsprojekt der europäischen Neuzeit, dem nicht nur außereuropäische Kulturen und Ökonomien, sondern auch die eigenen Gesellschaften, ihre Menschen und deren Mentalitäten bis hin zur Natur selbst zum Opfer gefallen sind.
Goethe gibt mit der „langen Pause” diese europäische Geschichte für unwiederbringlich verloren: Sie wurde von Faust und seinesgleichen, den rast- und ruhelosen Demiurgen permanenter Umwälzungen und Beschleunigungen willentlich und wissentlich zerstört. Mit dem Mord an Philemon und Baucis, der Zerstörung ihrer bescheidenen Hütte, dem Zum-Schweigen-Bringen der lästigen frommen Glöckchen und dem Abbrennen des letzten Stückchens Natur in Fausts Kolonie - „der Lindenwuchs vernichtet zu halbverkohlter Stämme Graun” - hat Goethe eine Gegenwart der Moderne in bestürzende Bildmetaphern gefasst.
Fausts „Glockenphobie”, seine Verfluchung der frommen Gebetskultur der beiden Alten, eröffnet ihm kein Reich der Freiheit, kein säkularisiertes Zeitalter der Toleranz und Vernunft, sie spiegelt lediglich den Extremzustand eines Irrweges, der ihn und die „besinnungslos-ungeduldige” Moderne wegführt von einer Haltung und Tradition des „Nachdenkens, Zurückblickens, Erinnerns, der Selbst- und Weltreflexion”. Faust verweigert die Selbsterkenntnis: „In seiner panischen Flucht vor Selbstreflexion, Selbstkritik und kritischer Weltwahrnehmung zeigt Goethe Faust als prototypischen Widersacher der Aufklärung." Wie aus dem prometheisch angelegten Faust-Fragment unter dem tiefen Eindruck der in Italien erfahrenen normativen Sinnlichkeit von antiker Welt und Naturschönheit Faust umgebogen wird zur Projektionsfigur für Goethes kritischen Blick auf die Moderne, das liest sich höchst anregend auch für diejenigen, die an der Goethe-Philologie weniger interessiert sind.
Fausts miserables Ende
Jaegers unakademisch leicht geschriebenes Buch, in das Goethe-Zeichnungen, Gemälde, Drucke und Porträts erhellend integriert sind, ist mehr als nur eine aktuelle und überzeugende Lesart dieses Riesenwerks, vor allem auch der autobiographischen Texte - ob es sich um die Italienische Reise oder die Campagne in Frankreich, die Belagerung von Mainz oder auch den Groß-Kophta handelt: Was Goethe über Krieg und Revolution, über den Irrationalismus des Zeitalters technischer Rationalität und das „Veloziferische” beobachtet und wogegen er mit den Mitteln der Dichtung anschreibt, das war zwar punktuell bekannt, aber nicht in dieser Systematik und Breite, unterstützt und belegt durch die Gespräche und Briefe, die als Teil des Goetheschen Lebenswerkes gelesen werden wollen
Nicht zuletzt erklärt Jaeger plausibel, was es denn mit Goethes kryptischer Bemerkung über die Juli-Revolution von 1830 auf sich hat, derzufolge er diese „für die größte Denkübung ansehe, die ihm am Schlusse seines Lebens habe werden können”: Der „Saint-Simonismus”, den er hier an die Macht kommen sieht - die technokratische Unterwerfung von Mensch und Natur unter weltlich-materielle Glückseligkeitsversprechen - erscheint aus Goethes kosmologischer Sicht als höchste Form von Irrationalität und Willkür. Fausts miserables Ende ist das Ende eines der Wirklichkeit entfremdeten Autisten: Auf seinem Wege gibt es keine Hoffnung und keine Erlösung - dazu bedarf es einer anderen Moderne, für die Goethe anderswo Erkenntnishilfen bereitstellt.
Bescheidener in Umfang und Erkenntnisinteresse - und doch eine nicht minder anregende Lektüre ist Arne Eppers‘ Dissertation über die beiden Wilhelm-Meister-Romane. Eppers durchleuchtet diese oft interpretierten Texte mit der gemeinhin mehr zitierten als gelesenen soziologischen Theorie von Ferdinand Tönnies und gelangt so zu ganz verblüffenden Einsichten. Das gilt für die „Lehrjahre” so gut wie für die „Wanderjahre”: An ersteren demonstriert Eppers die Fruchtbarkeit von Tönnies‘ soziologischen Kategorien „Gemeinschaft” und „Gesellschaft” zur Entschlüsselung dieses gesellschaftsgesättigten Stückes großer Literatur, für letztere erläutert er den großen Stellenwert, den die ironisch-kritische Vorstellung von drei alternativen Wirtschafts- und Kolonisationsmodellen für den politischen Goethe hat - so einleuchtend und differenziert hat das bisher keine Interpretation geleistet.
Über die Romaninterpretation hinausgehend, zeigt Eppers, wie Goethe den Finger auf eine der Ur-Wunden der Moderne legt: Die analytische Trennung der Phänomene und der Lebensbereiche, die keine Synthese mehr zulässt, die in diesem Falle mit der jeweilig einseitigen Verabsolutierung von „Gemeinschaft” und „Gesellschaft” deren dialektischen Zusammenhalt zerreißt und damit nicht zuletzt den modernen Nationalismen und Fundamentalismen den Boden bereitet.
Vergleichsweise „alt” nehmen sich dagegen die einst provozierenden Faust-Studien Thomas Metschers aus den letzten dreißig Jahren aus, die er - zum Teil überarbeitet - nun in geschlossener Form unter dem Titel „Welttheater und Geschichtsprozess” vorgelegt hat. Nicht ohne eine gewisse Rührung kann man hier nachlesen, wie ein kluger, viel belesener und wahrhaft gebildeter Literaturwissenschaftler seiner marxistischen, und das heißt hier optimistischen Weltanschauung und insbesondere seiner Goethe-Lesart treu geblieben ist und einem Faust, der „mit freiem Volk auf freiem Grund” sein Leben beenden möchte, unverbrüchliche Treue hält.
Auch Thomas Metscher weiß natürlich, dass dieser Faust blind ist und die Grabesschaufeln fälschlich für die Vollendung seines menschheitsbeglückenden Lebenswerkes hält - aber er will eine darin enthaltene utopische Perspektive marxistischer Fortschrittsphilophie immer noch nicht aufgeben: Für ihn ist diese Dichtung „Symbol für den Weg der Geschichte”, die nun einmal besonders in ihrer kapitalistischen Phase gewalttätig ist, aber dort nicht endet.
Eine störrische Hoffnung
Und dieser Weg führt nach dem realsozialistischen Scheitern wenn auch nicht mehr zur Verwirklichung, so doch wenigstens zum „Vorschein einer Welt, in der die Erde den Menschen zur Heimat wird”. Hoffnung also auch hier - aber es ist nurmehr eine Hoffnung, die letztlich auf historische Gesetzmäßigkeiten vertrauen muss und nicht auf die einsichtsvolle Tätigkeit von Menschen hier und heute setzen kann; Goethe, der von einer Logik der Weltgeschichte nichts hielt - „das Absurdeste, was es gibt” -, dürfte an solcher gesellschaftlicher Anteilnahme zwar Gefallen gefunden haben, entschieden weniger aber am geschichtsphilosophischen Korsett, das ihm da angelegt wurde. Trotzdem: Ohne die engagierten Beiträge Metschers wäre die Goethe-Forschung ärmer.
EKKEHART KRIPPENDORF
ARNE EPPERS: Miteinander im Nebeneinander. Gemeinschaft und Gesellschaft in Goethes Wilhelm Meister-Romanen. Stauffenburg Verlag, Tübingen 2003. 226 Seiten, 35 Euro.
MICHAEL JAEGER: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004. 668 Seiten, 49, 90 Euro.
THOMAS METSCHER: Welttheater und Geschichtsprozess. Zu Goethes „Faust”. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2003. 394 Seiten, 39,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Über Goethes Wilhelm-Meister-Romane sei schon viel geschrieben worden, so Eckehart Krippendorf, der sich wundert, dass es immer noch möglich ist, diesbezüglich neue Einsichten zu gewinnen. Doch Arne Eppers ist dieses Kunststück gelungen, lobt Krippendorf, indem er die soziologische Theorie von Ferdinand Tönnies seiner Interpretation zu Grunde legte. Überhaupt sei Tönnies mehr zitiert als wahrhaft gelesen, merkt Krippendorf an und bezeichnet Eppers' Ansatz als fruchtbar. Der Autor wende Tönnies' Kategorien wie "Gesellschaft" und "Gemeinschaft" nutzbringend für die Entschlüsselung dieses "gesellschaftsgesättigten" Werkes an und komme zu äußerst differenzierten Einsichten, erwärmt sich Krippendorf weiter für diese germanistische Dissertation, die weit über den Roman hinaus das politische Denken Goethes und seine Kritik der Moderne ins Visier nähme.

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