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Produktdetails
  • Verlag: Lenos
  • Seitenzahl: 517
  • Deutsch
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 516g
  • ISBN-13: 9783857873478
  • ISBN-10: 3857873477
  • Artikelnr.: 12565533

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Autorenporträt
Blaise Cendrars, geboren 1887 als Frédéric Louis Sauser in La Chaux-de-Fonds. Mit sechzehn lief er von zu Hause weg und kam nach längeren Reisen durch Russland, die Mandschurei und China 1910 erstmals nach Paris. Freundschaft u.a. mit Apollinaire, Chagall, Robert und Sonia Delaunay, Léger, Modigliani. Spätere Reisen führten den Schriftsteller u.a. nach Rom (1921), Brasilien (1924-1928) und Spanien (1931). Ab 1950 lebte Cendrars in Paris, wo er 1961 starb. Sein Gesamtwerk umfasst rund vierzig Bände.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2004

Mit der Transsibirischen
Noch Lyriker, schon Weltenbummler: Gedichte von Blaise Cendrars

Auf den Dichter folgte erst der Romanautor, dann der Reiseschriftsteller, der Biograph, der Essayist und schließlich der Memoirenverfasser. Einzig der Abenteurer ist bei Blaise Cendrars allgegenwärtig geblieben. So haben wir in dem Band, der die Gedichte versammelt, den jungen Cendrars vor uns: noch Lyriker, schon Weltenbummler. Der Fünfundzwanzigjährige hat sein Erwachen zur Poesie in New York 1912 weitgehend inszeniert. "Ostern in New York" war der bisher geläufige Titel dieses Gedichts, das in dieser Ausgabe - wie in der limitierten Erstveröffentlichung - nur "Ostern" heißt und im triumphierenden Glockenklang des christlichen Auferstehungsberichts das ausgehungerte, vereinsamte Poeten-Ich zur Sprache kommen läßt: "Herr, als Du starbst, riß der Vorhang entzwei / Was dahinter zu sehen war, brachte uns niemand mehr bei." Zu erkennen gibt sich hier das in der Großstadt herumirrende Subjekt, das in einem elenden chinesischen Lokal vor einem Glas Tee die noch grausamere Passionsgeschichte sich ausmalt, wäre sie statt von einem Juden von einem Chinesen aufgezeichnet worden.

Großstadtgetöse, Straßenschluchten, Dächergewirr, Dampfsirenengeheul, in den Moloch stürzende Menschenmassen unter rauchverschleierter Sonne: das sind die Bilder, mit denen die Dichtung expressionistisch die Moderne begrüßte. In der französischen Lyrik war aber noch etwas anderes im Spiel. Was im New York von Cendrars' "Ostern" der im Meßbuch lesende Mönch war, ist in Apollinaires etwa zeitgleich entstandenem Gedicht "Zone", wo das Straßen- und Brückengewirr um den Eiffelturm blökt, die Kirche, ist Papst Pius X., ist das ganze "alte" Europa. Die Moderne der Poesie hat in Frankreich am Vorabend von Dada nicht gegen das Alte, sondern mit ihm und schrill aus ihm heraustönend begonnen. Deshalb klingt die in dieser Cendrars-Ausgabe gelieferte neue Übersetzung des wichtigen Eingangsgedichts "Ostern" so falsch und fahl. Sie gibt mit ihrem Verzicht auf die Reime nicht nur den vollen und runden Resonanzraum des Althergebrachten auf, an dem die Gedichtsprache sich reibt. Sie zieht Cendrars' Stil auch übertrieben ins Skurrile und läßt den Kopf des Herrn am Kreuz aufs Herz "heruntersacken", legt der Veronika ein "Taschentuch" in die Hand, fleht den Herrn an, der nach Ostern bald "wieder fort" sein wird, stellt Maria am Kreuz ins Licht, "das in Demut bibberte".

Viel passender ist die Neuübersetzung Peter Burris in den späteren Zyklen wie den "elastischen Gedichten", wo in knapper Textform die weiterhin auftauchenden Motive der Tradition tatsächlich ins Kuriose abdriften. Wenn im Gedicht "Zeitung" etwa die Haltung des Zeitungslesers jener des Gekreuzigten gleicht - "ich war in Gedanken bei meinen Freunden / Und las die Zeitung / Christus / Die ganze Bandbreite des gekreuzigten Lebens in der Zeitung, die ich mit gestreckten Armen halte" - und die Spannweite der modernen Aktualität zur neuen Katechese sich spreizt, ist der aufmerksame, trockene, prosaische Ton des Übersetzers ganz an seinem Platz. "Ich bin der Andere / Zu empfindsam", schließt dieses Gedicht in Anspielung auf eine Notierung Gérard de Nervals: Und dieses Nervalsche Anderssein vor dem eigenen Bild schickt Claude Leroy, Herausgeber der beim Pariser Denoel-Verlag angelaufenen neuen Gesamtausgabe von Cendrars, die diesem Band zugrunde liegt, als kreative Grundformel voraus. Kein im Sinne Rimbauds verstummendes Ein-anderer-Werden, sondern das bestimmte Sich-Verweigern eines Autors ist hier offensichtlich am Werk: eines Autors, der im Unterschied zum Kreis um Apollinaire nicht "neu", nicht "modern", nicht "avantgardistisch" sein wollte und in den zwanziger Jahren einfach das Genre wechselte, als die Lyrik für ihn erschöpft war.

So ist auch die Nähe zur neuen Malerei, die aus Cendrars' poetischem Hauptwerk "Die Prosa von der transsibirischen Eisenbahn und der kleinen Jehanne von Frankreich" spricht, frei von aller ästhetischen Theorieschlacht zu verstehen. Cendrars hat das aus einer zwei Meter langen Schrift- und Bildmusterbahn bestehende Gedicht 1913 zusammen mit der Künstlerin Sonia Delaunay geschaffen und als "erstes simultanistisches Buch" präsentiert. Der "simultanéisme" war damals künstlerisches Streitthema vorab zwischen den auf rauschhafte Beschleunigungsdynamik fixierten italienischen Futuristen und den französischen Malern wie Robert Delaunay, die im Rückgriff auf Chevreuls Farbkontrasttheorie das Prinzip der Simultanität rein visuell verstanden. Delaunay schuf damit in seinen "Eiffelturm"- und "Fenster"-Serien seine ersten nichtgegenständlichen Bilder, und der mit den Delaunays eng befreundete Cendrars ließ sich theorielos, aber wirkungsbewußt von all diesen Elementen inspirieren.

So ist seine "Prosa von der Transsibirischen" ein Feuerwerk aus kinetisch stampfender wie aus traumhaft vorbeischwebender Bildverdichtung. Die von Burri leicht retouchierte Übersetzung von Michael von Killisch-Horn gibt diesen Mischzustand so wunderbar wieder, daß man das gelegentliche Bedauern bei der Lektüre dieses Bandes, keine zweisprachige Ausgabe vor uns zu haben, vollends vergißt. Der schwere Rhythmus des durch die russische Steppe rollenden Zugs, die wie an den Telegraphiedrähten hängenden zerfallenen Bahnhöfe längs der Strecke, die flüchtigen Assoziationsbilder poetischer Ubiquität von Basel bis Timbuktu, die autobiographischen Reminiszenzen des lyrischen Ich und die leise dazwischenklingende Stimme der Prostituierten Jehanne von Montmartre ergeben eine grandiose narrative Symphonie - wie eine entlang dieses transsibirischen Schienenstrangs endlich auf die Reihe gebrachte Kunstform des Expressionismus.

Zu diesem wie zu den anderen Gedichten bietet diese Ausgabe überdies auf deutsch bisher unbekannte Varianten und Paralleltexte. Mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat, einer Zeittafel, einer Einführung des Herausgebers und einem Nachwort des Übersetzers versehen, bietet der Band verläßlich und erschöpfend das poetische OEuvre von Blaise Cendrars - zumal niemandem versagt ist, in einer französischen Taschenausgabe zum Vergnügen die Originaltexte mitzulesen.

JOSEPH HANIMANN

Blaise Cendrars: "Ich bin der Andere". Gesammelte Gedichte. Herausgegeben von Claude Leroy. Aus dem Französischen übersetzt von Peter Burri. Lenos Verlag, Basel 2004. 517 S., geb., 29,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Lob auf der ganzen Linie. Nicht nur vom Mann Blaise Cendrars zeigt sich Hans-Jürgen Heinrichs beeindruckt, nein, auch seine Gesammelten Gedichte ("Ich bin der Andere") charmieren ihn. Der Schriftsteller, der sich heimisch auch und vor allem in Hafenbars fühlte und gesteigerten Wert legte auf das Tempo und die raue Exaltiertheit seines Lebensstils, sei, "wie seine Figuren, verliebt in Metamorphosen" - "ein sensibler, von der Sprache verzauberter Jongleur, der den Rhythmen, Vibrationen und Modulationen der Wortfolgen und Sätze lauscht". Kongenial habe sich der Übersetzer Peter Burri des "teils wilden, teils streng strukturierten Duktus des lyrischen, lyrisch-prosaischen und erzählenden Sprechens" Cendrars' angenommen. Auch der Kommentar von Claude Leroy hat Heinrichs "mit jeweils einer präzisen Bestimmung und Zuordnung der einzelnen Gedichtbände sowie fundierten Anmerkungen zu Namen und Begriffen" Freude bereitet. Und, last but not least, dankt der Rezensent dem Lenos Verlag für die "Kontinuität", mit der er sich "in den letzten Jahren dem Gesamtwerk Cendrars' gewidmet hat".

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