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Produktdetails
  • Wiener Schriften zur historischen Kulturwissenschaft
  • Verlag: Turia & Kant
  • Seitenzahl: 431
  • Deutsch
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 790g
  • ISBN-13: 9783851322705
  • ISBN-10: 3851322703
  • Artikelnr.: 09303117
Autorenporträt
Anson Rabinbach ist Professor für Moderne Europäische Geschichte und Direktor des Instituts für European Cultural Studies an der Princeton University. Weit über die Grenzen seines Fachs hinaus bekannt wurde er durch sein in viele Sprachen übersetztes Buch »Motor Mensch. Energie, Ermüdung und die Ursprünge der Modernität« (2001).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Julia Encke hält Anson Rabinbachs endlich ins Deutsche übersetzte Studie "Motor Mensch" für einen Klassiker. Rabinbachs Analyse vielfältiger Versuche von Sozialreformern wie Wissenschaftlern, das Phänomen der Ermüdung zu therapieren, bietet einen einzigartigen Blick auf das 19. und beginnende 20. Jahrhundert, erklärt die Rezensentin. Für Encke liegt die besondere Qualität des Buchs darin, dass es Wissenschaftsgeschichte diskursanalytisch mit den Gesellschaftstheorien und den politischen Fragen der Zeit vernetzt. Rabinbach arbeite anschaulich die mit der Arbeitswissenschaft implizierte Vision einer Gesellschaft aus, in welcher der arbeitende Körper dem Primat der Produktivität untersteht. Encke vermisst nur die Reflexion über neue Formen der Disziplinierung in der Gegenwart nach dem Ende der Arbeitsgesellschaft.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2001

Als die Menschmaschine an die Wand fuhr
Langeweile ist das Gift der Seele: Anson Rabinbach inspiziert den „Motor Mensch”
Mit Spritzen bewaffnet stürmten sie die Klassenzimmer und sagten der Schlaffheit, der Weltmüdigkeit und der Langeweile den Kampf an. Schon seit geraumer Zeit war der Zustand der Gymnasiasten bedenklich: „Muskeln ohne Kraft stützen mühsam den Körper. Das Antlitz ist blass, das Auftreten kraftlos, die Haltung niedergedrückt”, kommentiert ein Bericht aus dem Jahr 1892. „Alle äußeren Aspekte der Kinder geben den Eindruck, der von einer Pflanze erzeugt wird, die dahinwelkt und ausdörrt aus Mangel an Luft oder Sonnenlicht. Alle Funktionen des Organismus sinken in einen Zustand des Verfalls ab.”
Um den epidemisch sich ausbreitenden Schwächezustand zu bekämpfen, entwickelte der Chemiker Wolfgang Weichardt zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Impfstoff gegen die Ermüdung: ein „Antikenotoxin”. Nach ersten Experimenten mit Ratten, die an die Grenze ihrer Kräfte getrieben wurden, erprobte er dessen Wirkung auch am Menschen, begab sich mit seinem Assistenten in eine Berliner Schule, wo sie die Klassenräume mit dem neu entwickelten Stoff aussprühten. Den Schülern teilte man mit, dass die Spritzen eine Lösung zur Verbesserung der Luftqualität enthielten. Dann wurde der Unterricht fortgesetzt.
Bewährte Nervenpeitschen
Vor allem Weichardt selbst war vom Versuchsergebnis begeistert. Obwohl die unfreiwilligen Probanden schon fünf Unterrichtsstunden hinter sich hatten, führten sie ihre Rechenaufgaben „mit beträchtlicher Verbesserung” aus, arbeiteten schneller und machten weniger Fehler. Über Jahre hinweg wurden die Experimente fortgesetzt. Erst als man das Toxin am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu Mobilisierungszwecken einsetzen wollte, entlarvten es Heeresärzte als bloße Chimäre. Kontrollversuche zeigten, dass die Leistungen der behandelten Männer sich von anderen, denen eine unwirksame Substanz verabreicht wurde, nicht unterschieden. Statt des Wundermittels musste man also auf die altbewährten „Nervenpeitschen” zurückgreifen: auf Tee, Kaffee oder Kokain.
Die Ermüdung war die „Manie des neunzehnten Jahrhunderts”, schreibt Anson Rabinbach in seinem großen Buch über den „Motor Mensch”. Als Störung nahm man sie wahr, als Hemmschuh der „Arbeitskraft” und Hindernis des Fortschritts. Die zeitgenössischen Materialisten, Sozialreformer wie Wissenschaftler, meinten es mit der Metapher vom „Motor Mensch” ernst. Für sie war der menschliche Körper nichts als eine Variante der großen Maschinen und Dynamos, die das industrielle Zeitalter hervorbrachte. Sie begriffen ihn als ein Beispiel jenes universalen Prozesses, durch den Kraft in mechanische Arbeit umgewandelt wurde. Wenn aber der Mensch eine Maschine war, konnte es dann nicht auch möglich sein, den Widerstand gegenüber unaufhörlicher Arbeit aufzuheben? Konnte Ermüdung nicht überwunden und die letzte Hürde auf dem Weg des Fortschritts beseitigt werden?
Rabinbach verfolgt mit seinem Buch die Geschichte einer „Begriffsrevolution”. An ihrem Anfang steht die Entdeckung der „Arbeitskraft”, Hermann von Helmholtz’ „universales Gesetz von der Krafterhaltung”, das man in eine neue Vision gesellschaftlicher Moderne übersetzen sollte. Der Physiker und Physiologe Helmholtz sei der „erste bürgerliche Philosoph der Arbeitskraft” gewesen, so der Autor, weil er in seinen Aufsätzen gerade nicht zwischen natürlicher, mechanischer oder menschlicher Arbeit unterschied. Ihm zufolge erzeugte jeder Kraftaufwand Arbeit, so wie umgekehrt jede Arbeit Kraftverbrauch mit sich brachte. Der Körper war damit nicht einfach analog, sondern im wesentlichen identisch mit einer thermodynamischen Maschine. Die Großzügigkeit der Natur, die im Prinzip der Krafterhaltung liegt, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch durch die beinahe zeitgleiche Entdeckung des „zweiten Gesetzes der Thermodynamik” geschmälert. Auf den Optimismus der Krafterhaltung folgte die Einsicht in ihre Erschöpfung. Praktisch gesehen gibt es eine unvermeidliche Verschwendung. Nur ein Bruchteil der insgesamt existierenden Kraft ist für die Umwandlung verfügbar. Der Physiker Rudolf Clausius nahm 1865 den Begriff der „Entropie” auf, um eben diese Kraftabnahme zu beschreiben. Mit ihr machte sich auch die Angst breit, dass die Kraft von Geist und Körper unter der Belastung der Moderne sich auflösen könnte. Zur Last wurden fortan Verschleiß und Ermüdung.
War die Erschöpfung aber schon nicht aufzuhalten, konnte man sie vielleicht doch verringern. Fachkräfte für Ermüdung und Ernährung traten auf den Plan, Arbeitshygieniker und Mediziner, die in ihren Labors, in Fabrikhallen und auf Sportplätzen Körperbewegungen und -rhythmen zu untersuchen begannen. Eine neue Disziplin entstand: die europäische Arbeitswissenschaft.
Man hat Anson Rabinbachs beeindruckende Studie über die Arbeitswissenschaften längst einen „Klassiker” genannt. 1990 erschien das amerikanische Original unter dem Titel The Human Motor. Geleitet von der Metapher „Motor Mensch” unternahm der Autor als erster den Gang durch die physiologischen Institute des 19. Jahrhunderts, um die Geschichte der Ermüdung zu erkunden.
Ein Bewegungsökonom wie der Franzose Etienne-Jules Marey, dem Rabinbach als „Gründer der europäischen Arbeitswissenschaft” ein umfangreiches Kapitel widmet, mag inzwischen zwar keine „vernachlässigte Gestalt des 19. Jahrhunderts” mehr sein, wie das Buch noch behauptet. Als Arbeitswissenschaftler hat ihn aber vor allem Rabinbach prominent gemacht. Zeit war es also für die Übersetzung, die jetzt bei Turia+Kant vorliegt.
Wo Körper schlaff waren, entwickelte man nicht allein Toxine. Messtechniken wurden begründet, „Ergographen” erfunden, Ermüdungskurven erstellt und Muskeln trainiert. Dem Autor geht es um die Verschaltung dieser Wissenschaften mit den ökonomischen und politischen Bewegungen der Zeit. Um das Verhältnis zwischen den Laboruntersuchungen und der „Arbeiterfrage”. Es ist die besondere Qualität dieses Buches, dass es nicht allein Wissenschaftsgeschichte betreibt, sondern diese diskursanalytisch mit den Gesellschaftstheorien und den politischen Fragen der Zeit vernetzt. Dass es ein ganzes Diskursfeld absteckt und als Geschichte einer Metapher organisiert. Der so gewonnene Blick auf das neunzehnte und beginnende zwanzigste Jahrhundert ist einzigartig.
Arbeit ohne Ende
Erst durch die Entstehung der Arbeitswissenschaften hat sich die Wahrnehmung der Arbeit in Europa grundsätzlich gewandelt. Physiologen waren es, die versprachen, die Effekte schlecht organisierter, ausbeuterischer und unregelmäßiger Arbeit zu überwinden. In Kontroversen über die Länge des Arbeitstages, über Arbeitsunfälle und Heeresausbildung verstrickten sie sich nach 1900 zunehmend in die Politik. Ihre größte Schwäche lag dabei in ihrer überzeugendsten Annahme: dass der Körper ein Motor sei und wissenschaftliche Objektivität und Fachwissen genügten, um eine Lösung der „Arbeiterfrage” zu liefern.
Der Erste Weltkrieg, der ein Krieg der Erschöpfung war, sollte auch das größte Labor der neuen Energetik bereitstellen. Die Paradoxie von Kraft und Entropie erreicht hier ihren Gipfelpunkt: „Die enorme Macht und Kraft des Universums, entfesselt im Dienst von Tod und Zerstörung”, so Rabinbach, sei „das passende Ende für das Jahrhundert der Thermodynamik.” Das Buch führt vor, wie militärische Eignungstests den Weg für das industrielle Schock-Training der zwanziger Jahre ebnen, wie durch den Krieg das Vokabular von Ermüdungswissenschaft und „Psychotechnik” ins Wirtschaftsleben Einzug hält. Vor allem Taylor und Ford machen Rationalisierung und Körperdisziplin zum Fetisch. In Nazi-Deutschland dann ‚schaltet’ man zumindest einige ihrer Schlüsselgebote mit autoritärer Sozialpolitik ‚gleich’.
Eine „klassische Studie” hat es nicht leicht. Immer ist sie schon Geschichte und manchmal greift sie in Bezug auf aktuelle Debatten zu kurz. Nach Anson Rabinbach hat die Metapher vom „Motor Mensch” auch nach dem Zweiten Weltkrieg überlebt. Trotz des Niedergangs der Arbeitswissenschaft bleibt mit ihr die Vision einer Gesellschaft zurück, in der der arbeitende Körper dem Kalkül von Reform und Produktivität untersteht. „Ist dieser Körper nicht aber längst hinfällig?”, fragt Rabinbach am Ende des Buches. Ist die Arbeit, die im 19. Jahrhundert eine Arbeit der Muskeln und Nerven war, im Zeitalter von Computerisierung, Kybernetik und Robotik nicht durch neue Technologien ersetzt worden?
„Der Arbeitsgesellschaft beginnt die Arbeit auszugehen”, schrieb in den achtziger Jahren der Soziologe Ralf Dahrendorf. Er stand mit dieser Ansicht nicht allein. Daniel Bell, Anthony Giddens, Jürgen Habermas: alle stellten sie fest, dass Arbeit nicht mehr im Zentrum steht, dass das Interesse an ihr zurückgeht, Freizeit und Konsum wichtiger werden und neue Formen der Gesellschaftlichkeit und Kommunikation an ihre Stelle treten. Vor fünf Jahren wartete Jeremy Rifkin, wie immer plakativ, mit dem passenden Buchtitel auf: „Das Ende der Arbeit”. Rabinbach nennt es eine „Bedeutungsverschiebung vom Zentrum hin zur Peripherie des Denkens”, die für den arbeitenden Körper entscheidende Konsequenzen habe. An die Stelle der industriellen Schwerstarbeit treten brainwork und neue Technologien, an die des „Motor Mensch” die digitale Maschine.
Verblasst mit der überholten Metapher auch die disziplinarische Struktur von Arbeitsprozessen, wie impliziert wird? Die Wissenschaftshistorikerin Sarah Jansen hat dies kürzlich in Zweifel gezogen, als Rabinbach im Wissenschaftsforum Berlin noch einmal die Thesen seines Buches vortrug. Nach Jansen gilt es gerade die mit den neuen Arbeitsformen verbundenen Formen der Macht zu analysieren und zu klären, ob diese nicht auch mit medizinischen Disziplinierungsmaßnahmen verbunden seien. Dem Foucault- Schüler Rabinbach hält sie auf diese Weise Foucault selbst entgegen. Ihre Frage, wie genetisch manipulierte Organismen einzuordnen seien, die man auf ein bestimmtes Gesellschaftsideal hin optimiert hat, geht dabei über das vom „Motor Mensch” abgesteckte Terrain hinaus. Der „Klassiker” berührt die Lebenswissenschaften noch nicht.
Die Zukunft brauche uns nicht mehr, wird uns verkündet. Prognostiker aller Schattierungen weissagen, dass der Mensch schrittweise durch Robotertechnologie ersetzt werde. Düstere Visionen beschwören eine unheilbringende Allianz zwischen Wissenschaft und Politik im Zeichen von Nanotechnologie und Genetik. Dass wir allerdings auch gegenwärtig neuen Formen der Disziplinierung unterliegen, scheint beim Ausdeuten der Zukunft gelegentlich aus dem Blick zu geraten. Dabei arbeiten wir immer noch. Fast jeden Tag, von morgens bis abends.
JULIA ENCKE
ANSON RABINBACH: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Aus dem Amerikanischen von Erik Michael Vogt. Verlag Turia+Kant, Wien 2001. 433 Seiten, 60 Mark.
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