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Eine gestochen scharfe Analyse der sowjetischen Geschichte aus der Feder jenes Mannes, der selber Teil des sowjetischen Systems war, der vielen als "Vater der Glasnost" und "Architekt der Perestroika" gilt und der nun schonungslos und radikal wie kaum ein russischer Politiker mit der sowjetischen Vergangenheit abrechnet.

Produktbeschreibung
Eine gestochen scharfe Analyse der sowjetischen Geschichte aus der Feder jenes Mannes, der selber Teil des sowjetischen Systems war, der vielen als "Vater der Glasnost" und "Architekt der Perestroika" gilt und der nun schonungslos und radikal wie kaum ein russischer Politiker mit der sowjetischen Vergangenheit abrechnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2005

Findet härtere Leute
Jakowlews „Jahrhundert der Gewalt in Russland”
Wahrscheinlich gibt es tatsächlich noch irgendwo versprengte linke Zellen, die Lenin für einen missverstandenen Humanisten halten und Stalin für denjenigen, der das Böse in die Welt brachte. Diesen Menschen wäre das vorliegende Buch ans Herz gelegt, in dem Alexander Jakowlew, Politbüromitglied unter Gorbatschow und „Vater der Perestroika”, tut, was er bereits in seinen vielbeachteten Memoiren getan hat: Er rechnet ab. Und zwar diesmal mit den Gründern der Sowjetunion.
Lenin nämlich, so Jakowlew, hatte alle Instrumente des Terrors, alle Feindbilder längst etabliert, ehe Stalin sie im großen Stil anwandte: Die Verfolgung der Bauern und der Intelligenzija, der Geistlichen und der Sozialdemokraten, der Kinder von „Volksfeinden”. Der millionenfache Mord war kein Ausrutscher im schönen Weltentwurf des Kommunismus, sondern von Anfang an darin angelegt, eine These, die Jakowlew mit Dokumenten belegt, die schaudern lassen. Im August 1918 beispielsweise sandte Lenin ein Telegramm an die Genossen in Pensa. Nachdem er darin den drohenden „Endkonflikt” mit den Kulaken beschworen und angeordnet hat, „nicht weniger als hundert bekannte Kulaken, Bonzen, Blutsauger” aufzuhängen, „(damit die Menschen es sehen)”, nachdem er Beschlagnahmen und Geiselnahmen befohlen hat („Geht so vor, dass die Menschen es auf hunderte von Werst sehen und zittern”), nachdem er also einen wahren Sturm der Gewalt über den Bauern von Pensa hat losbrechen lassen, schickt er der Anleitung zum Terror einen Satz hinterher, der das Ganze nur zum Prolog reduziert. Er schreibt: „PS: Findet härtere Leute.”
Es gibt zahlreiche solcher Quellen in diesem Schwarzbuch, und sie bieten selbst dem, der sich über das Ausmaß der kommunistischen Verbrechen keine Illusionen mehr gemacht hat, neue entsetzliche Einsichten. Dass Lenin die ersten Konzentrationslager eingerichtet hat, ist eine bekannte historische Tatsache, kein Zugeständnis an Ernst Nolte. Dass aber Marschall Tuchatschwekij, der Sieger von Kronstadt, 1921 im Gouvernement Tambow gegen Aufständische Giftgas einsetzen ließ, dürfte vielen neu sein. Und dass zu jenen Völkern, die Stalin wegen angeblicher Unzuverlässigkeit deportieren ließ, nicht nur Tschetschenen, Inguschen und Deutsche gehörten, sondern auch Koreaner, ist wohl ebenfalls nur einem kleinen Kreis bekannt.
Alexander Jakowlew tritt mit dem Furor eines Büßers auf, der sich die Dinge von der Seele reden will, allerdings verliert er über seine eigene Rolle als Teil des Systems nur wenige Worte: eine „Doppelrolle quälender Heuchelei” habe er spielen müssen, habe immer wieder auf Entspannung gehofft und sei doch stets aufs Neue enttäuscht worden. Warum er dennoch nicht aus-, sondern, im Gegenteil, immer höher aufstieg, verrät er nicht.
Mehr noch: Das anklagende Tremolo, in dem Jakowlew seine Philippika verfasst hat, ist oft anstrengend und manchmal einfach unergiebig. Natürlich macht es für die Opfer keinen Unterschied, ob sie im Bürgerkrieg ermordet wurden oder Ende der Dreißiger. Für die politische Einordnung aber ist es nicht ohne Bedeutung, dass die brutalen Reaktionen während des Bürgerkriegs und kurz danach auch ein Beleg für die Widerstände, für die Instabilität der neuen Herrschaft waren.
Bei Jakowlew hingegen wälzen sich die Grausamkeiten als kontextferne Ungeheuerlichkeiten in einem dunklen Strom dahin, zu dessen Wesen es eben gehört, dass er oft nicht sehr tief blicken lässt. Abgesehen davon, dass die Millionen Opfer der Entkulakisierung nicht nur in Russland zu beklagen waren, sondern auch in der Ukraine - die er nicht erwähnt - ist es enttäuschend, wenn selbst ein solcher Autor die Ursachen für die Verbrechen wieder nur in der naturhaften Leidensfähigkeit Russlands sucht. Dazu passt dann allerdings, dass er die Kontinuitäten des Unrechts umstandslos bis ins heutige Russland fortgesetzt sieht. Das mag seine Berechtigung haben, aber es lässt den Leser zutiefst ohnmächtig zurück.
SONJA ZEKRI
ALEXANDER N. JAKOWLEW: Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag, Berlin 2004. 352 Seiten, 24,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Viel Pro, aber noch mehr Contra erhält dieses Buch von Rezensentin Sonja Zekri. Alexander Jakowlews "Abrechnung" enthalte viel Neues selbst für diejenigen, die in ihrem Weltbild nie einen guten Lenin von einem bösen Stalin unterschieden hätten. Einem "Schwarzbuch" vergleichbar biete Jakowlew viele Quellendokumente, die belegten, wie Unmenschlichkeit von Anfang an im Kommunismus "angelegt" war. Als störend bis unsachlich nimmt Zekri allerdings den Tonfall und die Haltung des ehemaligen Politbüromitglieds Jakowlew wahr. Wie schon in seinen Memoiren trete er mit dem "Furor des Büßers" und zugleich des Anklägers der anderen auf, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie er es als Andersdenkender ins Politbüro geschaftt habe. Weit problematischer, so die Rezensentin, sei jedoch eine "kontextferne" Auflistung von Ungeheuerlichkeiten, die die Ursachen für Verbrechen letzten Endes in "der naturhaften Leidensfähigkeit Russlands sucht".

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