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Geschichtsphilosophie als Versuch, Geschichte als Einheit mit klarer Verlaufsrichtung philosophisch zu deuten, ist eine recht junge Erfindung. Dennoch hat Geschichtsphilosophie rasch eine kulturelle Deutungsmacht gewonnen, die weit über philosophische Debatten hinausweist. Geschichtsphilosophische Stichworte wie "Fortschritt" und "Entwicklung" sind längst zu (kritisch hinterfragten) Versatzstücken der Populärkultur geworden. Um so mehr überrascht, wie wenig bislang die Entstehungsgeschichte von Geschichtsphilosophie von etwa 1700 bis 1780 erforscht worden ist. Diesem Missstand will Sommers…mehr

Produktbeschreibung
Geschichtsphilosophie als Versuch, Geschichte als Einheit mit klarer Verlaufsrichtung philosophisch zu deuten, ist eine recht junge Erfindung. Dennoch hat Geschichtsphilosophie rasch eine kulturelle Deutungsmacht gewonnen, die weit über philosophische Debatten hinausweist. Geschichtsphilosophische Stichworte wie "Fortschritt" und "Entwicklung" sind längst zu (kritisch hinterfragten) Versatzstücken der Populärkultur geworden. Um so mehr überrascht, wie wenig bislang die Entstehungsgeschichte von Geschichtsphilosophie von etwa 1700 bis 1780 erforscht worden ist. Diesem Missstand will Sommers Buch abhelfen, indem es eine Reihe von Repräsentanten aufklärerischen Philosophierens nach ihrem spezifischen Beitrag zum Entstehungs- und Etablierungsprozess dieser spekulativen und universalistischen Geschichtsphilosophie befragt.
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Autorenporträt
Andreas Urs Sommer, geb. 1972, Studium der Philosophie, Kirchen- und Dogmengeschichte und Deutschen Literaturwissenschaft in Basel, Göttingen und Freiburg im Breisgau, Lizentiat 1995, Promotion 1998 an der Universität Basel, 1998/99 Visiting Research Fellow an der Princeton University, 2000-2006 Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Institut der Universität Greifswald, Visiting Fellow an der School for Advanced Study der University of London, Habilitation 2004 an der Universität Greifswald, Lehrstuhlvertretung an der Universität Mannheim, seit 2008 Wissenschaftlicher Kommentator der Werke Nietzsches an der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, umhabilitiert an das Philosophische Seminar der Universität Freiburg
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.11.2006

Der vergangene Trost
Phantomschmerzen: Geschichtsphilosophie in der Aufklärung
Vermutlich ist Geschichtsphilosophie nötig. Zwar gibt es die Idee, dass die Geschichte zu Ende sei, dass die derzeitigen politischen Verfassungsformen, zumal die parlamentarische Demokratie, historisch unüberholbar seien, zwar hört man die Behauptung, dass der ökonomische Globalisierungsprozess nicht umkehrbar sei. Aber diese Ansichten zeigen eher die theoretische Armut deröffentlichen Debatte. Insgesamt sind sie ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, der mehr von Wunschdenken und politischer Dogmatik als von weltgeschichtlichen Gewissheiten zeugt. Die Diskussion um die Rolle der Religionen in der Politik, die die angebliche Unumkehrbarkeit des Säkularisierungsprozesses Lügen gestraft hat, macht deutlich, wie wenig die Zukunft, die dann Gegenwart wurde, den Erwartungen entsprach. Und so sind wir wahrscheinlich für die Zukunft besser gerüstet, wenn wir ein umfassendes Wissen vom Vergangenen haben, als mit ideologischen Monopolansprüchen. Genau das ist das Thema der Geschichtsphilosophie. Man kann nicht darauf verzichten, sich über das Kommende Gedanken zu machen, und das kann man nur mit Erfahrungen aus der Geschichte.
Diese elementaren Erwägungen sind in der akademischen Philosophie in denletzten beiden Jahrzehnten in den Hintergrund getreten. Die Geschichtsphilosophie schien spätestens mit dem Niedergang des Marxismus überholt. Ihre vielen theologischen und säkularisierten Vorannahmen, ihre uneingelösten und uneinlösbaren Fortschrittsversprechen machten die „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie” (Odo Marquard) so evident, dass man sich von der Disziplin zu verabschieden begann. Aber kaum war sie hinauskomplimentiert worden, kam sie durch die Hintertür wieder herein,als Kampf der Kulturen, als weltweite Glaubwürdigkeitskrise der repräsentativen Demokratie, als Frage nach der Berechtigung des Monopolanspruchs westlicher Lebensformen, als neue politische Theologie.
Es ist deshalb begrüßenswert und symptomatisch zugleich, dass Andreas Urs Sommer in seiner Greifswalder Habilitationsschrift auf die Geschichte der Geschichtsphilosophie in der Aufklärung hinweist. Der Titel „Sinnstiftung durch Geschichte?” ist dabei vielleicht etwas missverständlich, sie spielt trotz allen Kautelen auf Theodor Lessings Ideevon der „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen” an und suggeriert,man könne im Umgang mit der Geschichte auf die schwer widerlegbare Gewissheit verzichten, man lebe in genau dieser Geschichte mit ihrer unausweichlichen Zukunft. In gewisser Weise ist Andreas Urs Sommer selbst von dem Gedanken angekränkelt, man könne sich die Geschichte und mit ihr die Geschichtsphilosophie skeptisch vom Leibe halten, wenn man nur auf zu umfassende Gesamtdeutungen verzichte, dann präsentiere sich nämlich „die historia unverhofft wieder als magistra vitae, nämlich als Lehrmeisterin der Gelassenheit und des Verzichts”.
Vornehmste Wahrheiten
Aber vielleicht ist diese Skepsis überhaupt die Voraussetzung für die Darstellung der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, deren Credo es, je länger desto mehr, wurde, dass die politische Verwirklichung der Vernunftansprüche das natürliche Ziel einer vom Menschen gemachten Geschichte sei. Dabei geht das Buch mit den theologischen Bedingungen der Universalgeschichte mit skeptischer Sympathie um; es kennt sie, stellt sie mit gebanntem Interesse dar und schreckt in dem Moment wieder zurück, wo es um die Konsequenzen geht. Der Verfasser empfindet die theologisch-philosophischen Vorbedingungen der Geschichtsphilosophie offensichtlich als Faszination und theoretische Belastung zugleich. Deshalb lässt er sich nicht wirklich auf die Geschichtskonzeption des Augustinus ein, dass die Aufgabe der Politik – des menschlichen Handelns in der Geschichte – wesentlich in Zurückhaltung des Bösen in dieser Welt bestehe.
Entsprechend sind auch die Fragen nach dem Ende der Geschichte unterblieben; der Gegenstand des Buches, „spekulative Universalgeschichte”, bleibt deshalb in den Teilen, die im ideenpolitischen Sinn aufgeklärt sind, etwas blass. Aber diese Blässe ist dem Gegenstand – der Geschichtsphilosophie der Aufklärung – selbst geschuldet: Die Philosophie der Aufklärung stand den Fragen der politischen Theologie dezidiert feindlich entgegen, deshalb ist ihre Geschichtsphilosophie – unddie ihrer Nachfolger bis hin zu Hans Blumenbergs Konzeption der Legitimitätder Neuzeit – vor allem an der Delegitimierung des Theologischen in der Geschichte interessiert.
Den zwischen religiöser Heilsgeschichte und menschlichen Selbsterlösungshoffnungen oszillierenden Prozess der Entstehung der aufgeklärten Universalgeschichte beschreibt Andreas Urs Sommer mit gespaltenem Wohlwollen. In einem breiten Panorama stellt er die dogmatisch gerahmte Geschichtstheologie dar, angefangen bei den großen französischen Dogmatikern der Heilsgeschichte, deren wichtigster Repräsentant Jacques Bénigne Bossuet war, der Hofprediger Ludwigs XIV., über das Hauptbuch pietistischer Innerlichkeitsgeschichte, Gottfried Arnolds „Kirchen- und Ketzerhistorie”, bis zum Mustertraktat der geschichtstheologischen Selbstauflösung in der deutschen Aufklärung: Friedrich Wilhelm Jerusalems, des braunschweigischen Hofpredigers, „Vornehmste Wahrheiten der Natürlichen Religion” nahmen im wesentlichen Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts” vorweg. Den dogmatischen Kern bildet freilich die streng calvinistische Geschichtstheologie des Briten Jonathan Edwards, der die Weltgeschichte zwischen Sündenfall undEschatologie platziert und damit den augustinischen Kern der Weltgeschichtskonzeptionen im 18. Jahrhundert am klarsten repräsentiert.
Das pulverisierte Weltbild
Es scheint, als arbeiteten sich die säkularen Geschichtstheologen an diesem Konzept ab; zwischen Pierre Bayle und Kant wird das theologisch bestimmte Weltbild langsam sozusagen zermahlen. Die Pulverisierung geschieht stückweise, zunächst eher anekdotisch-skeptisch in Pierre Bayles „Dictionnaire Historique et Critique”, als Kritik an den Ursprungsmythen der Bibel bei dem englischen Aristokraten Henry St. John Viscount Bolingbroke, als Universalgeschichte archaischer Grausamkeit bei dem Neapolitaner Philosophen Giambattista Vico, als Sprengung der biblischen Chronologie bei dem französischen Biologen Georges Louis Leclerc Buffon unddem Göttinger Physiker und Philosophen Georg Christoph Lichtenberg, die statt der biblischen 6000 Jahre seit der Schöpfung der Welt allein 60 000 Jahre für das Alter des Lebens auf der Erde berechneten. Am Ende wurde die Heilsgeschichte bei Kant zur Als-ob-Heilsgeschichte; denn er hoffte, dass die Ideen der praktischen Vernunft geschichtlich wirklich werden könnten. Von der Geschichtstheologie blieben ihm Fragmente einer Heilsgeschichte in Möglichkeitsform.
Die intellektuellen Brocken, die von der alten theologischen Herrlichkeit säkular übrig geblieben sind, hat das vorliegende Buch als Haupttopoi der Universalgeschichte aufgesammelt und in seinem zweiten Teil vorgestellt: Exempla, Vorsehung, Fortschritt, Individualisierung, Theodizee, Kontingenz sind als Leitbegriffe die Ruinen einer vergangenen Pracht. Und mit dem Gebäude der Universalgeschichte ist dem Verfasser die heilsgeschichtliche Zuversicht, die die Aufklärungsphilosophie begleitete, abhanden gekommen. Sein Fazit ist skeptisch: „Die Spendung von überindividueller Zuversicht kann schwerlich länger die Aufgabe der Philosophen sein. Philosophie wird der Aufklärung ihre Illusionen nehmen und die Aufklärung womöglich selbst zur Ortlosigkeit verurteilen.”
Vielleicht ist es angesichts dieser Skepsis doch tröstlich, dass 1806 Hegels „Phänomenologie des Geistes”, erschien, die die Weltgeschichte als die historische Selbstverwirklichung des Geistes beschrieb und jene Brocken der Aufklärung noch einmal neu schmiedete. Ob diese Tatsache ausreicht, auf eine neue, nötige Geschichtsphilosophie nach der Hegelschen zu hoffen?
WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN
ANDREAS URS SOMMER: Sinnstiftung durch Geschichte. Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Schwabe Verlag, Basel 2006. 582 Seiten, 57,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Seiner Besprechung von Andreas Urs Sommers Habilitationsschrift schickt Rezensent Wilhelm Schmidt-Biggemann einige Gedanken über die Rolle der Geschichtsphilosophie voraus. Nachdem durch die jüngste Geschichte klar geworden sei, dass das Ende des Kalten Kriegs keineswegs das Ende der Geschichte bedeutet hat, habe sich die verübergehend abgemeldete Disziplin wieder zurückgemeldet. "Begrüßenswert und symptomatisch zugleich" findet er deshalb, das sich Andreas Urs Sommer im vorliegenden Band mit der Geschichtsphilosophie der Aufklärung beschäftigt. Dabei entfalte er mit "skeptischer Sympathie" zunächst ein "breites Panorama" der dogmatisch theologischen Geschichtsauffassungen Bossuets, Gottfried Arnolds, Jonathan Edwards und anderer, ehe er sich den Positionen der säkularen Geschichtstheologie von Pierre Bayle bis Immanuel Kant widmet. Die Kernbegriffe der nachfolgenden aufklärerischen Geschichtsphilosophie seien nurmehr Ruinen der verabschiedeten theologischen Pracht, meint Schmidt-Biggemann nach der Lektüre des Bandes. Wohlwollend merkt er Sommers Studie eine große Faszination ihres Autors für die theologischen Bedingungen der Universalgeschichte an, bedauert jedoch, dass er letztlich vor ihren Konsequenzen zurückschrecke.

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