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Landkarten dienen nicht nur zur Orientierung im physischen Raum, sondern sie steuern auch Imaginationspraktiken.Dünnes Studie widmet sich der frühneuzeitlichen Entstehung solcher Praktiken anhand von exemplarischen Analysen spanisch- und portugiesischsprachiger Texte von Inca Garcilaso de la Vega über Luís de Camões bis hin zu Miguel de Cervantes.

Produktbeschreibung
Landkarten dienen nicht nur zur Orientierung im physischen Raum, sondern sie steuern auch Imaginationspraktiken.Dünnes Studie widmet sich der frühneuzeitlichen Entstehung solcher Praktiken anhand von exemplarischen Analysen spanisch- und portugiesischsprachiger Texte von Inca Garcilaso de la Vega über Luís de Camões bis hin zu Miguel de Cervantes.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Schiffbruch mit Kartenzeichner

Was hat die Inka-Stadt Cuzco mit dem Römischen Reich zu tun? Jörg Dünne bringt historische Karten zum Sprechen und illustriert, wie in der frühen Neuzeit die Politik des Fingierens betrieben wurde.

Der Fund, den der Historiker Oscar Brenner im März 1886 in der Hof- und Staatsbibliothek München machte, gehört zu jenen Entdeckungen, die von den meisten Menschen ignoriert, von den übrigen aber begeistert gefeiert werden. Brenner war auf ein Exemplar der 1539 gedruckten "Carta Marina" des im italienischen Exils lebenden schwedischen Gelehrten Olaus Magnus (1490 bis 1557) gestoßen. Gedruckt wurden seinerzeit offenbar nur einige wenige Exemplare, und bis zu Brenners Fund war kein einziges davon noch zugänglich gewesen.

Allerdings kannte man noch ein weiteres Werk von Olaus Magnus: Seine 1555 gedruckte "Historia de gentibus septentrionalibus", in der er mit großer Ausführlichkeit und ohne Scheu vor dem Sagenhaften von den Völkern des Nordens erzählt. Vor allem aber hatte sich ein Beiheft zur "Carta Marina" erhalten, das in Latein und Deutsch publiziert worden war und auf jeweils fünfzehn Seiten das, was man auf der Karte sieht, erläutert. Dabei wird dasselbe Referenzsystem verwendet, mit dem auch die in neun einzelne Tafeln unterteilte Karte strukturiert ist: Großbuchstaben von A bis I bezeichnen neun Rechtecke, auf denen wiederum jeweils kleine Buchstaben einzelne erklärungsbedürftige Punkte in historischer, kultureller und geographischer Hinsicht vorstellen. Hinzu kommt eine kurze lateinische Erläuterung ebenfalls einzelner Punkte in der rechten unteren Ecke der Carta Marina.

Indem Brenner seinen Fund an die Öffentlichkeit brachte, fügte er mit Karte und Begleitheft, Bild und Text, wieder zusammen, was der Absicht ihres Urhebers nach aufs engste zusammengehört. Die Idee der Landkarte - dies veranschaulicht die Carta Marina sehr schön - war damals nicht zu trennen vom Erzählen über die abgebildete Region.

Die Carta Marina ist eines der Beispiele, die der Erfurter Romanist Jörg Dünne in seiner nunmehr als Buch erschienenen Habilitationsschrift "Die Kartographische Imagination" untersucht und hinsichtlich der Verbindung von Kartenbild und Kartentext ausgelegt hat. Zur Entstehungszeit der gedruckten Carta Marina, schreibt Dünne, war eine Entwicklung zu beobachten, nach der solche Erläuterungen, "die in mittelalterlichen und handschriftlichen frühneuzeitlichen Karten meist Bestandteil der Karte sind, in gedruckten Karten zunehmend ausgelagert" wurden.

Darin erkennt der Autor zwei Folgen: Nach wie vor behalte die Karte zwar ihre "Funktion eines Speichers historischer Ereignisse", werde aber besonders durch die Verknüpfung mit einem solchen Begleittext "zur Matrix für Operationen des Erinnerns oder Erzählens" auch in Texten, die nicht direkt auf dem Kartenblatt erscheinen. Mit anderen Worten: Was die Karte uns zu erzählen hat, ist nicht mehr an sie selbst gebunden, sondern findet auf einem anderen Medium statt. Und dieses Erzählen kann nun, zweitens, nicht nur am tatsächlichen Kartenbild entlang geschehen. Die räumliche Trennung ermöglicht "kartengestützte Praktiken des Fingierens beziehungsweise der Reflexion auf den fiktiven Status kartographisch gestützter Repräsentation".

Was das bedeutet, führt Dünne im Hauptteil seiner Arbeit als umfangreiche Untersuchung von Texten vorwiegend des iberischen Raums (und der zugehörigen Kolonien) der frühen Neuzeit aus. Da ist zunächst der 1539 in der alten Inka-Hauptstadt Cuzco geborene El Inca Garcilaso de la Vega. Der Sohn eines spanischen Eroberers und einer Inka-Prinzessin verfasste unter anderem zwei Werke zur Geschichte des Inkareichs sowie zu dessen Eroberung durch Pizarro. Dünne legt überzeugend dar, wie Garcilaso den alten Translationsgedanken vom Übergang der großen Reiche über den Erdball in westlicher Richtung aufnimmt und weiterspinnt, bis das Inkareich als legitimer Erbe des Römischen Imperiums erscheint, was sich nicht zuletzt in Garcilasos Terminologie abbildet, wie Dünne ausführt: "Wenn er die Quechua-Ausdrücke für die politische Organisation des Inkareichs ins Spanische übersetzt, verwendet er dabei durchgängig ein Vokabular, das an die Organisation des Römischen Reichs erinnert - so spricht er von ,provincias' des Reichs, von mit Verwaltungsaufgaben betreuten ,decuriones' und von einer Gesetzgebung durch die verschiedenen Inkaherrscher, die zumindest implizit ebenfalls mit dem römischen Rechtssystem in Verbindung gebracht wird." Allerdings bliebe natürlich zu untersuchen, welche Rolle hier die Absicht spielt, die Materie einem Publikum näherzubringen, das eben besonders mit dieser Terminologie etwas anfangen kann.

Dünne geht es in der Folge exemplarisch um Garcilasos Beschreibung der Stadt Cuzcos, an herausgehobener Stelle seines Werks: Die Topographie Cuzcos stelle dabei "die politische Geographie des Inkareichs" dar, und Garcilaso nutze "genau diese Geographie, um sie in sein Verständnis von Translatio einzutragen, indem er den Stadtplan von Cuzco nicht nur zur Erinnerung an die politische Geographie der Inka und ihres Reichs verwendet, sondern auch, um die spätere Besetzung dieser Geographie durch die Spanier auf ihm abzubilden", was wiederum gerade keine bruchlose Kontinuität verheißt, sondern "eine Serie von Verwerfungen" deutlich macht. Und dieser Befund, den Dünne in der Folge noch ausbaut, ist das eigentlich Dramatische dieses Textes: Die Frage, wie denn das Erbe der Inka in der nicht nur topographischen Beschreibung bewahrt und in die aktuellen Verhältnisse überführt werden kann, findet beim Autor Garcilaso eine naturgemäß andere Antwort als bei seinen heutigen Lesern.

Weitere Abschnitte von Dünnes Studie widmen sich exemplarisch portugiesischen Schiffbruchberichten, die in ihrem Verhältnis zum Nationalepos des Landes, den "Lusiadas" von Luís de Camões, betrachtet werden, also auf dem Weg von der Schilderung einer außerliterarischen Realität in die Fiktion, und schließlich Cervantes' 1617 publizierten Abenteuerroman "Los Trabajos de Persiles y Sigismunda", der verschiedene Grade von topographischer Fiktionalisierung durchspielt - und zwar, wie Dünne zeigt, von einem Autor, der ganz offensichtlich sehr genau weiß, in welcher Tradition er steht, wenn er etablierte topographische Muster einer neuerlichen Anverwandlung unterzieht. Dabei gerät auch die "Carta marina" in den Blick. Dünne zufolge "oszilliert der Status der ,Carta marina' zwischen dem, was man heute die Darstellung der faktischen physischen Geographie Skandinaviens nennen würde, und einer geographischen Visualisierung historiographisch belegter Quellen, in denen beispielsweise die mythische Insel Thule ganz selbstverständlich auftaucht" - und, könnte man ergänzen, noch ganz anderes Seemannsgarn. Etwa eine ominöse Insel namens "Frislanda", von der in einem Reisebericht von zweifelhafter Authentizität die Rede ist, den ein Venezianer namens Nicolò Zeno 1558 angeblich aus alten Familienbriefen edierte. Ihm zufolge unternahm einer seiner Vorfahren gemeinsam mit dessen Bruder im späten vierzehnten Jahrhundert eine Nordmeerreise, wobei sie ebenjenes Frislanda bewohnt und kultiviert vorfanden und später vielleicht sogar amerikanischen Boden erreichten - knapp hundert Jahre vor Kolumbus, zum nachträglichen Glanz der venezianischen Republik.

Für Dünne aber liefert die genaue Betrachtung der Carta marina - in der er die Spur ihres katholischen Urhebers erkennt, der die Reformation des Nordens als Prüfung für den wahren Glauben ansieht - einen Schlüssel zu einer Reihe von Passagen des Romans, und dies vor allem dort, wo Cervantes sich des Vorgefundenen eklektizistisch bedient. Denn wenn der Forscher über die gesamte Strecke dieser umfangreichen Studie das Ziel verfolgt, Karten zum Sprechen zu bringen, dann geht es im Weiteren auch um den Prozess des Zuhörens bei Belletristen wie Cervantes und des darauf folgenden schöpferischen Aktes.

Nach der Lektüre sieht man Karten mit anderen Augen. Und wittert ihre Spur noch in ganz anderen Texten als den besprochenen. Darauf sollte sich aufbauen lassen.

TILMAN SPRECKELSEN

Jörg Dünne: "Die kartographische Imagination". Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit.

Wilhelm Fink Verlag, München 2011. 442 S., Abb., br., 59,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Tilman Spreckelsen sieht so manchen Text ganz anders, seit er Jörg Dünnes Habilitationsschrift zum Verhältnis von (literarischer) Imagination und kartografischer Wirklichkeit gelesen hat. Was bei Dünne als Untersuchung von Kartenbild und Kartentext beginnt, mündet laut Rezensent in eine umfangreiche Darstellung zu Texten der frühen Neuzeit, die sich die Trennung von Text und Kartenbild zunutze machen, um ein bisschen drauflos zu fantasieren beziehungsweise zu fingieren. Spreckelsen findet das recht spannend und gelangt zusammen mit dem Autor von der quasi sprechenden Karte zum geschickt mit topografischen Momenten improvisierenden Autor. Karte und Buch - beide ganz neu, den Rezensent freut es.

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