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Produktdetails
  • Gewicht: 836g
  • ISBN-13: 9783770052967
  • ISBN-10: 377005296X
  • Artikelnr.: 27567300

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2010

Ottos Resonanzraum
Der Reichstag in der öffentlichen Wahrnehmung bis 1890

Das offizielle Zeremonienbild zeigt eine feierliche Reichstagseröffnung als Kulisse für die öffentliche Inszenierung des Herrschaftsantritts Wilhelms II. im Jahr 1888. Bei der Kaiserproklamation Wilhelms I. 1871 waren noch ganz andere Visualisierungsakzente gesetzt worden. Abgeordnete waren zu dem von Anton von Werner für die Nachwelt festgehaltenen Festakt im Spiegelsaal von Versailles nicht einmal eingeladen. Zweifellos dominierten auch 1888 die monarchischen Elemente deutlich. Die ausdrückliche Absicht, dem Reichstag in der Krönungsdarstellung einen Platz einzuräumen und der Reichsmonarchie dadurch eine zusätzliche demokratische Legitimierung zu verleihen, bezeugt dennoch einen Sinneswandel. Wie der Reichstag sich als parlamentarische Institution in der öffentlichen Wahrnehmung des jungen deutschen Nationalstaats zusehends etablierte, lässt sich der instruktiven Studie von Andreas Biefang entnehmen. Im Mittelpunkt steht die das politische System des Kaiserreichs prägende Ära Bismarck. Einmal mehr geht es um die Frage nach Macht und Einfluss des Parlaments in jenen Jahren. Bislang vernachlässigte symbolpolitische Aspekte der Parlamentsgeschichte, wie sie sich in Architektur, Zeremonien oder öffentlichen Reden spiegeln, werden betrachtet. So gewinnt Biefang Erkenntnisse über die Beziehungen von Reichstag und Öffentlichkeit, Parteien und Exekutive sowie der Abgeordneten untereinander.

Das 1866/67 eingeführte allgemeine und gleiche (Männer-)wahlrecht verschaffte dem Parlament Aufmerksamkeit. Der Reichstag repräsentierte die Bevölkerung und war mithin auf die Kommunikation mit der Öffentlichkeit angewiesen. Entsprechende Bedeutung kam dem parlamentarischen Gehäuse zu: dem Reichstagsgebäude. Gleich zwei Bauvorhaben wurden damals in Angriff genommen. Da es sich bei Planung und Ausführung des erst 1894 vollendeten monumentalen Parlamentsbaus von Paul Wallot um ein langfristiges Projekt handelte, entstand - als erster politischer Neubau des Kaiserreichs - das provisorische Reichstagsgebäude in der Leipziger Straße 4. Die dortigen Zuschauertribünen erfreuten sich regen Zuspruchs. Wie heute wieder gehörte seit den 1870er Jahren der Besuch einer Reichstagssitzung zu den touristischen Attraktionen der Hauptstadt. Reichstagsreden erreichten somit eine breitere Öffentlichkeit. Und so nutzte auch Reichskanzler Otto von Bismarck - trotz seiner Vorbehalte gegenüber Parlament und Parlamentariern - den "Resonanzraum" des Reichstags immer wieder gezielt für medienwirksame Auftritte.

Dem öffentlichen Interesse trug der enge Austausch zwischen Parlament und Presse Rechnung, der für eine permanente Präsenz des Reichstags und seiner Vertreter in Wort und Bild sorgte. Damit stärkte der expandierende Markt der Medien die Position des Parlaments. Das führt eine der wichtigsten medienpolitischen Erfindungen Bismarcks vor Augen: die regelmäßigen parlamentarischen Soireen und Frühschoppen, bei denen unter der Regie des Reichskanzlers Regierungsmitglieder und Parlamentarier zusammentrafen. Indem ausgesuchte Pressevertreter darüber berichteten, was Bismarck wem gegenüber äußerte, dienten diese Veranstaltungen als Politbarometer und dazu, Bismarck als Mittelpunkt des politisch-parlamentarischen Lebens in Szene zu setzen. Die steigende Bedeutung der Veranstaltungen zeigte sich unter anderem darin, dass der junge Kaiser Wilhelm ab 1889 aus eigener Initiative an diesen Soireen teilnahm, was anfangs für erhebliches Aufsehen sorgte. Dies stand eigentlich dem - in der Bismarckschen Verfassung angelegten - Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Krone entgegen.

Die Abgeordnetentätigkeit mit dem Parlament als Arbeitsplatz - als Ort des politischen Austauschs und der außerparlamentarischen Geselligkeit - prägte den Lebensstil und formte so das Profil des Berufspolitikers. Insofern korrespondierte die Dynamik im parlamentarischen Raum mit der Herausbildung einer "Lebensform M.d.R.". Mit einer Fülle schriftlicher und visueller Quellen zeigt Biefang überzeugend auf, dass es dem Reichstag in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Nationalstaatsgründung sehr wohl gelang, zu einem Symbol der politischen Nation zu werden, das neben den monarchischen, dynastischen und militärischen Repräsentationsformen zu bestehen vermochte. Umso auffälliger erscheint nach diesem Befund, dass die allmählichen Zugewinne an symbolischer Macht nicht doch einen deutlicheren Parlamentarisierungsschub nach sich zogen. Den betrachtete gewiss nur eine Minderheit als vorrangiges Ziel. Eklatant ist diese Diskrepanz gleichwohl.

ANDREA HOPP.

Andreas Biefang: Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im "System Bismarck" 1871-1890. Droste Verlag, Düsseldorf 2009. 355 S., 49,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Überzeugend kann der Autor der Rezensentin Andrea Hopp mittels einer Fülle schriftlicher und visueller Quellen nachweisen, dass der Reichstag um 1889 als parlamentarische Institution und Symbol der politischen Nation taugte. Den politischen Einfluss des Parlaments vermag Andreas Biefang anhand bisher wenig geläufigen symbolpolitischen Aspekten, zum Beispiel Architektur, Parteien, Öffentlichkeit, aufzuzeigen. Besonders beeindruckt hat Hopp hier das vom Autor dokumentierte medienpolitische Geschick des Reichskanzlers Bismarck, der mit seinen parlamentarischen Soireen und Frühschoppen wahre Politbarometer kreierte.

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