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Produktdetails
  • Verlag: Arche Verlag
  • Seitenzahl: 365
  • Deutsch
  • Abmessung: 1mm x 1mm x 1mm
  • Gewicht: 425g
  • ISBN-13: 9783716023280
  • ISBN-10: 3716023280
  • Artikelnr.: 12548683
Autorenporträt
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Paul Raabe, geboren 1927 in Oldenburg, war 1968 - 1992 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 1998 - 2000 leitete er die Franckeschen Stiftungen in Halle/Salle. Er ist Ehrendoktor der Universitäten Braunschweig, Krakau und Halle. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Expressionismus sowie zum Buch- und Bibliothekswesen. 2006 erhielt Paul Raabe die Karl Preusker Medaille der Deutschen Literaturkonferenz als Würdigung seines Lebenswerkes. Er vestarb 2013.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2004

Retter des Expressionismus
Paul Raabe erinnert sich an seine Marbacher Bibliothekarsanfänge

Der nach Lessing wohl bekannteste deutsche Bibliothekar, Paul Raabe, hat, neben vielen anderen Publikationen, bislang zwei Bücher geschrieben, in denen er sich und seinen Lesern Rechenschaft abgelegt hat über seine Arbeit: Das war 1992 der Band "Bibliosibirsk oder Mitten in Deutschland" über seine Jahre als Leiter der berühmten Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, an der ihm Bibliothekare wie eben Lessing und auch Erhart Kästner vorausgingen. Und das war zehn Jahre später das Buch "In Franckes Fußstapfen", in dem Raabe die Geschichte der Franckeschen Stiftungen erzählt und von ihrem Wiederaufbau nach 1990 berichtet: Innerhalb von zehn Jahren machte der pensionierte Wolfenbütteler Bibliotheksdirektor aus den Ruinen, die die DDR von den Franckeschen Stiftungen in Halle übriggelassen hatte, wieder jene "pädagogische Provinz", an die man denkt, wenn von den Franckeschen Stiftungen die Rede ist.

Und nun kehrt Raabe in seinem neuesten Buch "Mein expressionistisches Jahrzehnt" ganz zurück und erzählt und dokumentiert seine Anfänge als Diplombibliothekar, sein Hamburger Studium der Germanistik und Geschichte und im wesentlichen die zehn Jahre von 1958 bis 1968, da er die Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach geleitet hat. Ohne Einschränkung kann man sagen: Raabe hat durch seine Aktivitäten (und die Mitarbeit vieler) Marbach zu dem gemacht, was es bis heute ist: das wichtigste Literaturarchiv in Deutschland, vorbildlich für alle anderen.

Üblicherweise ist solche Bibliotheksarbeit nicht spektakulär, hat kaum Außenwirkung. Doch Raabe machte, neben seiner organisatorischen Aufbauarbeit, in Marbach sein besonderes Interesse an expressionistischen Autoren fruchtbar. Dieses Interesse hatte sich in der Begegnung mit dem damaligen Hamburger Germanistikassistenten Karl Ludwig Schneider entzündet, für dessen Ausgabe der Werke Ernst Stadlers Raabe die Bibliographie in Ordnung brachte und an dessen Ausgabe der Tagebücher und Briefe Georg Heyms er mitarbeitete. Doch das waren Arbeiten, die damals eher neben den üblichen akademischen Themen lagen.

Noch als Raabe 1958 seine Bibliotheksarbeit in Marbach begann, ging, wie er schreibt, "die Rehabilitierung des Expressionismus, der von den Nazis als ,entartete Kunst' diffamiert worden war, ... von den Museen und Kunstgalerien aus". Der "literarische Expressionismus war kein akademisches Thema".

Aber Raabe macht ihn für sich und das Marbacher Archiv zum Thema und zur Aufgabe, die seine Jahre dort prägte. Er begann, für Bibliothek und Archiv Bücher, Nachlässe und Autographen literarischer Expressionisten zu kaufen, und knüpfte Kontakte zu Sammlern expressionistischer Literatur wie Wilhelm Badenhop, dessen reiche Bibliothek 1961 nach Marbach kam, zu Herausgebern wie Karl Otten, von dem die expressionistische Prosaanthologie "Ahnung und Aufbruch" und der Theaterband "Schrei und Bekenntnis" stammen, zu Paul Pörtner, dem Editor der Dichtungen von Jakob van Hoddis, bald auch zu Kurt Pinthus, der noch im New Yorker Exil lebte und dessen legendäre expressionistische Anthologie von 1920: "Menschheitsdämmerung" 1959 bei Rowohlt als Taschenbuch erschien, zu Ludwig Meidner, Thea Sternheim und vielen anderen.

Am Ende des Schillerjahres 1959, in dem sich Marbach zum erstenmal mit einer großen Schiller-Ausstellung der Öffentlichkeit präsentierte, entstand der Plan für eine große Expressionismus-Ausstellung, die dann bereits am 8. Mai 1960 eröffnet wurde, begleitet von einem dreihundertfünfzig Seiten starken Katalog, der heute noch zu den begehrenswerten Sammlerobjekten gehört.

Diese Ausstellung - Raabes erste große Ausstellung überhaupt, die er zusammen mit Ludwig Greve, der später auch einige beachtliche Gedichtbände veröffentlichte, und Ingrid Grüninger arrangierte - wurde ein großer Erfolg, und in mannigfacher Variation reiste sie in den Jahren danach erst durch ganz Deutschland und dann durch die Welt. Sie hat im Grunde den literarischen Expressionismus in Deutschland wieder heimisch gemacht und sein eindrucksvolles Erscheinungsbild auch ins Ausland vermittelt.

Raabes Buch ist eine im Focus dieser Ausstellung geschriebene, mit viel Zitatmaterial aus der eigenen Arbeit belegte Geschichte von der Wiederentdeckung des einst von den Nationalsozialisten verfemten literarischen Expressionismus. Zur Nachwirkung dieser Ausstellung gehören auch die zahlreichen von Raabe angeregten oder selbst edierten Publikationen von Büchern und Zeitschriften des Expressionismus, gehört eine grundlegende Bibliographie, gehört aber auch die lebendige Erinnerung an viele seiner Autoren, die Raabe in seinem Marbacher, seinem "expressionistischen" Jahrzehnt kennengelernt hat und von denen er in seinem Erinnerungsbuch treffende Bilder zeichnet.

Der Bibliothekar Paul Raabe hat mit seiner Marbacher Arbeit nicht nur den Expressionismus an die Nachgeborenen weitergereicht, sondern auch eine praktische Wiedergutmachung geleistet an jenen, die ihrer Literatur wegen aus Deutschland vertrieben worden sind. Sie sind durch Raabes Arbeit wenigstens literarisch, zuweilen aber auch selbst, gleichsam in corpore, nach Deutschland zurückgekehrt.

HEINZ LUDWIG ARNOLD

Paul Raabe: "Mein expressionistisches Jahrzehnt". Anfänge in Marbach. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2004. 368 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.06.2004

An Marmortischen
Paul Raabe serviert einen halben expressionistischen Hahn
Einer seiner ersten Marbacher Aufgaben nach dem Krieg war für den leidenschaftlichen Archivar und Bibliothekar Paul Raabe die „Neuaufstellung” der „NS”-Autoren - womit nicht etwa die Völkischen, sondern die „Nichtschwaben” gemeint waren. Die literarische Welt hielt wieder Einzug in Marbach; und Raabe, Jahrgang 27, das „helle Pfeifen” der Sprengbomben und des Krieges noch in den Ohren, begrüßte sie alle mit der passenden Signatur. Mit seinen Marbacher Erinnerungen hat Raabe nun seine Bildungsbiographie aus dem Geist der Bibliothek, ein einmaliges Unternehmen der alten Republik, abgeschlossen.
In der „Trilogie” seiner „drei Lebenswerke”, die Raabe rückwärts erzählt, sind bereits seine Erinnerungsbände über seine Wirkungsjahre nach der Wende bei den Franckeschen Stiftungen in Halle und seine Jahre als Direktor der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel erschienen. Nachdem er in diesen Bänden die aufgeklärte Bibliothekslandschaft in Franckes und Lessings „Fußstapfen” abgeschritten hat, ist er nun bei seinen Anfängen angekommen - in seinem „expressionistischen Jahrzehnt.”
Blei ohrfeigt Hiller
Als Raabes expressionistisches Jahrzehnt Ende der Fünfziger in Marbach begann, lag die Hochzeit der Bewegung vier Jahrzehnte zurück. Nur noch drei Beiträger der legendären Anthologie „Menschheitsdämmerung”, die Kurt Pinthus 1959 nach vierzig Jahren bei Rowohlt neu herausgab, waren am Leben. Tod, Emigration und Depression hatten gewaltige Lücken gerissen. „Die meisten beteiligten Autoren waren tot, früh umgekommen, aus Deutschland verjagt worden oder in der Emigration gestorben. Nur noch wenige lebten im Exil, waren zurückgekehrt wie Kurt Hiller und Willy Haas oder hatten Deutschland überlebt wie Kasimir Edschmid und Hermann Kasack, einige wenige waren Nazis geworden wie Hanns Johst.”
Herabgesunken in Erinnerung war jene fiebrige Vorkriegszeit, als die Dichter sich rühmten, „aus Wilmersdorf zu sein”, und man in den Cafés an der Gedächtniskirche das Erscheinen einer neuen Nummer des „Sturm” oder der „Aktion” kaum erwarten konnte. So unmittelbar die bewegten Jahre sich auch in einzelnen Plaudereien der Überlebenden hielten - „Kurt Hiller erzählte, wie Franz Blei ihm einmal am Ausgang des Cafés des Westens eine Ohrfeige verpasst hatte” - das große expressionistische Kaffeehausgespräch war Geschichte geworden. Wer nun an seinen Memoiren saß, wie der vergessene Niederländer Nico Rost, der mit all den großen Expressionisten im Romanischen Café verkehrt hatte, der überschrieb sie - „An Marmortischen”.
Über Kafka schrieb Raabe in einer kleinen Oldenburger Zeitung früh ein Feuilleton, wie er stolz anmerkt, „eine der ersten Nachkriegswürdigungen des in Deutschland noch unentdeckten Autors”. Glückliche Fünfziger, in denen noch so viel zu entdecken war. Das ganze alte expressionistische Netzwerk musste neu rekonstruiert werden. Wie polygam verwinkelt es in jenen Jahren zuging, erhellt Kurt Hillers Auskunftsnotiz über die frühexpressionistische Muse „Gladys”: „Gladys war, wie jeder wusste, Lesbierin. Aus weißderteufel welchem Grunde aber verheiratet mit (dem vielleicht in Ostberlin noch lebenden) Leo Horwitz, einem verunglückten Litteraten, er hatte kurze Zeit, irgendwann zwischen 1905 und 10, zusammen mit einem gewissen Halbert oder Halpert, eine Zeitschrift Kritik der Kritik herausgegeben, welche keineswegs ohne war.”
Keineswegs ohne war auch die große Marbacher Expressionismus-Ausstellung („Literatur und Kunst 1910-1923”), die Raabe aus solchen Auskünften und unzähligen Archivalien konzipierte und auf die seine reizenden kleinen Erinnerungen zulaufen. 1960 eröffnet, trat sie von Marbach ihren Siegeszug um die Welt an. Vor allem die Jungen stürmten die Ausstellung, wie der „eifrige Student” und spätere Bielefelder Literaturprofessor Jörg Drews, „der alles über Albert Ehrenstein wissen wollte”. Aber auch die alt gewordenen expressionistischen Dichter und Maler oder deren Witwen setzten sich noch einmal in den Zug, pilgerten nach Marbach und beugten sich über die Vitrinen. In den Stolz, endlich gerühmt und ausgestellt zu werden, mischte sich auch ein Gram Unbehagen. Endgültig waren sie nun historisch geworden. Was sich einmal unter Bewegungsparolen versammelt hatte, war nun unter Vitrinenglas stillgestellt.
So „prächtig” vielen die Ausstellung „schmeckte” - Kurt Hiller aß den Katalog „wie einen halben Hahn vom Grill” - viele fühlten sich nun als „historisch erledigt”. Mancher empfand Raabe auch als Räuber im fremden Revier. „Warum wollen Sie über den Expressionismus schreiben?” - ereiferte sich der erblindete Karl Otten - „Sie sind doch Beamter. Das sollten Sie mir überlassen.” Vom Klappentext des Ausstellungskataloges - „Die als Empörer auftraten, wir sehen Geschlagene” - sah sich der Spätexpressionist und damalige Darmstädter Akademie-Präsident Kasack „aufs Haupt geschlagen”.
Wer sich am Beginn des Jahrhunderts begeistert unter die Fahne des Expressionismus gestellt hatte, lehnte nun die „Abstempelung” und Katalogisierung zur Bewegung ab. Der Literaturstratege Hiller hielt die Etikette Expressionismus „für einen provokanten Caféhaus oder Atelierwitz.” Und Kurt Wolff, der die erste expressionistische Reihe in seinem Programm hatte, ächzte: „Es wurde mein verfluchter, verhasster Ruhm, Verleger des Expressionismus gewesen zu sein.” Nach den Zerwürfnissen und Katastrophen empfand man sich nicht mehr als eine Bewegung. Allesamt sahen sie sich nun als vergessene Einzelne.
In zauberhaften Miniaturen ruft Raabe die Vergessenen wieder in Erinnerung. Alfred Kubin, dem Dichter und Buchillustrator, folgt der Bibliothekar in die Berge. In einen „schwarzen Umhang” gehüllt, empfängt Kubin ihn hoch oben zwischen einer „Mausefallenfabrik” und einem plätschernden „Forellenbächlein”, in einer seiner phantastischen Romanlandschaften - auf der „anderen Seite des Lebens”.
Fast allein steht Raabe an einem kalten Wintertag 1963 in Stuttgart-Degerloch am Grab des Aktions-Dichters Franz Jung, des kommunistischen Aktienspekulanten und Schiffsräubers, den kein Geistlicher zeitlebens auf seinem autobiographischen „Weg nach unten” begleitet hatte. Aber nun, „als er in die Grube gesenkt wurde, betete und sprach der katholische Priester, die Messknaben schwenkten die Weihrauchgefäße.”
Auch an der Ostküste wird Raabe Zeuge erstaunlicher Bekehrungen. In New York sucht er Dr.Charles R. Hulbeck, einen Facharzt für Psychatrie, auf. Wer hätte gedacht, dass dieser distinguierte Gentleman, der im weiträumigen Salon am Central Park West elegant zum Tee bittet, einmal der Dadaist und Bürgerschreck Richard Huelsenbeck war? „Der neue Mensch zieht es vor”, hatte Huelsenbeck schon 1917 prophetisch erklärt, „ein guter Akademiker zu sein, wenn er die Möglichkeit hat, ein schlechter Revolutionär zu werden.”
Als 1968 eine neue Generation von Bürgersöhnen und Akademikern wieder einmal die andere, schlechtere Variante vorzog, endete Raabes „expressionistisches Jahrzehnt”. Er folgte dem Bibliotheksruf aus Wolffenbüttel.
STEPHAN SCHLAK
PAUL RAABE: Mein expressionistisches Jahrzehnt. Anfänge in Marbach am Neckar. Arche Verlag, Zürich-Hamburg 2004. 367 Seiten, 24 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Rezensent Heinz Ludwig Arnold lobt den Erinnerungsband des "nach Lessing wohl bekanntesten deutschen Bibliothekars". Paul Raabe sieht er darin nicht nur ganz zurück an seine Anfänge als Student der Germanistik und Geschichte gehen. Interessanter findet er Raabes Rückblick auf seine Marbacher Jahre (1958-1968), in denen er Arnold zufolge aus der Bibliothek Deutschlands bedeutendstes Literaturarchiv gemacht hat. Besonders fällt für den Rezensenten Raabes Wiederentdeckung der Literatur des im Nationalsozialismus verfemten Expressionismus ins Gewicht, der er 1960 eine große Ausstellung gewidmet habe. Das Buch nun findet der Rezensent im Focus dieser Ausstellung geschrieben, "eine mit viel Zitatmaterial aus der eigenen Arbeit belegte Geschichte" von der Wiederentdeckung der Literatur des Expressionismus. Auch die vielen "treffenden Bilder" und Erinnerungen an expressionistische Autoren tragen für den Rezensenten zum positiven Gesamteindruck bei.

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