Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 17,00 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Kaum ein verlegerisches Unternehmen hat in den Medien so große Aufmerksamkeit erregt wie die Veröffentlichung des monumentalen Tagebuchwerks von Harry Graf Kessler bei Klett-Cotta. Hier nun legt der Verlag die Biographie Kesslers vor. Die erste umfassende Gesamtdarstellung dieses Lebens: kompetent wie ein Standardwerk und lesbar geschrieben wie ein Roman.
Wie in einem detailgenauen Portrait werden in dieser Biographie die Ereignisse und Bezüge eines unglaublich reichen Lebens geschildert: seine noble Herkunft, sein Weltbürgertum, sein Talent für Freundschaft und Gesellschaft, seine
…mehr

Produktbeschreibung
Kaum ein verlegerisches Unternehmen hat in den Medien so große Aufmerksamkeit erregt wie die Veröffentlichung des monumentalen Tagebuchwerks von Harry Graf Kessler bei Klett-Cotta. Hier nun legt der Verlag die Biographie Kesslers vor. Die erste umfassende Gesamtdarstellung dieses Lebens: kompetent wie ein Standardwerk und lesbar geschrieben wie ein Roman.

Wie in einem detailgenauen Portrait werden in dieser Biographie die Ereignisse und Bezüge eines unglaublich reichen Lebens geschildert: seine noble Herkunft, sein Weltbürgertum, sein Talent für Freundschaft und Gesellschaft, seine unzähligen Verbindungen in die Welt der Kunst und seine Rolle als Mäzen, Verleger und auch Diplomat. Hauptmerkmale des Dandys und Reisenden Kessler sind seine Präsenz und sein "Talent, bei den europäischen Hauptereignissen zugegen zu sein" - und seine einzigartige Beobachtungsschärfe. Zum ersten Mal wirklich verständlich wird die große und rätselhafte Wende in Kesslers Leben: die vom Ästheten zum engagierten prominenten Pazifisten. Tragisch aufscheinend Kesslers Jahre der Emigration und der einsame Tod bei Lyon. Easton stellt seinen Helden in die Atmosphäre seiner Zeit. Auf der Grundlage auch persönlichster Dokumente und des gesamten Werks ist diese Biographie die Entdeckung einer Jahrhundertfigur.
Autorenporträt
Laird M. Easton ist Associate Professor für Geschichte an der California State University. Er hat ein weiteres Buch über die "Kulturkritik in der Weimarer Republik und heute" veröffentlicht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2005

Aber der Kunstverstand!
Laird M. Eastons Biographie Harry Graf Kesslers

Als er auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Einflusses war, im Frühjahr 1906, da schreibt er in sein Tagebuch: "Niemand in Deutschland hat eine so starke, nach so vielen Seiten reichende Stellung." Ein paar Tage später bekam er Post von seiner Mutter: "Ich mache mir in jeder Hinsicht Sorgen um Dich", so schrieb sie, "Über Deine finanziellen Katastrophen weiß ich ja einiges, die übrigen ignoriere ich."

Das muß verlockend klingen für einen Biographen - zumal, wenn er weiß, daß sich die schönsten Triumphe und die größten nicht ignorierbaren Katastrophen im Leben des Harry Graf Kessler erst in den dreißig Jahren danach ereigneten. Der amerikanische Historiker Laird M. Easton hat sich zehn Jahre lang in eine der schillerndsten deutschen Lebensläufe der ersten Jahrhunderthälfte vertieft. Und anders als Peter Grupp, dessen Biographie 1995 eine erste Welle der Wiederentdeckung von Kessler auslöste, konnte sich Easton bei seiner Biographie auf die gesamten 57 Tagebuchbände stützen, die in Marbach zusammengetragen wurden und die die Jahre 1880 bis 1937 umfassen.

Die bereits 2002 in den Vereinigten Staaten erschienene Biographie Eastons wird nun mit dreijähriger Verspätung auch in Kesslers Heimatland veröffentlicht - und trifft hierzulande auf ein gut vorbereitetes und aufnahmewilliges Publikum, da der Verlag Klett-Cotta vor knapp zwei Jahren damit begonnen hat, die Tagebücher Kesslers neu herauszugeben und die Figur des schöngeistigen Grafen somit endlich jene Aufmerksamkeit erlangt, die sie schon immer verdient hätte.

Es ist ein atemberaubendes Leben, das Easton erzählen darf: Der Sechsjährige bringt Blumen ans Bett des kranken Bismarck; im Salon des Sechzigjährigen geben sich dann Josephine Baker und Albert Einstein die Klinke in die Hand. Dazwischen: unzählige Reisen, zweimal um die ganze Welt, ein kosmopolitisches Leben zwischen Weimar, Paris, Berlin, London und Los Angeles, unglückliche Liebesverhältnisse, Gründung der Zeitschrift "PAN" und der Cranach-Presse, ein Leben für die Kunst und die Kultur, Freundschaften mit Hofmannsthal und Rodin, mit Johannes R. Becher und Gerhart Hauptmann, die Wohnung gestaltet von van de Velde und Maillol. Das ist das Leben im weißen Anzug des Dandys, in dem Edvard Munch ihn verewigt hat.

Es gibt aber noch ein zweites Leben: das des Soldaten in den Karpaten und Verdun, des ungeschickten Diplomaten, des Vortragsreisenden, des Pazifisten, des von der Idee des Völkerbundes Beseelten und des Reichstagskandidaten der DDP mit Wahlkampfauftritten in Bückeburg. Die detaillierte und prononcierte Schilderung dieser politischen Biographie Kesslers ist die besondere Stärke von Laird Eastons Darstellung. "Der rote Graf" heißt sein Buch - so wie er auch schon seine Dissertation betitelt hatte, die sich mit Kesslers politischen Missionen in den zwanziger Jahren befaßte. Easton erzählt in seiner Biographie die Geschichte eines Mannes, der sein Leben lang sehnlichst versuchte, Botschafter zu werden, aber schon die kleinsten diplomatischen Missionen vergeigte: aus Ungestüm, aus Pech oder aber, wie meist, weil er die wahren politischen Machtverhältnisse falsch einschätzte.

Symptomatisch für Kesslers unbeirrbaren Glauben an das Gute des Menschen ist seine Entlassung aus dem einzigen offiziellen Posten, den er je innehatte: dem des Direktors des Großherzoglichen Museums in Weimar. Kessler plante eine Ausstellung mit Rodin-Aquarellen, die geöffnete Frauenschenkel zeigten - direkt neben einer Darstellung hatte Rodin die Werke sogar dem bigotten Großherzog gewidmet. Als die Ausstellung eröffnet wurde, weilte Kessler jedoch gerade in London. Und auch als ihm seine Freunde die Zeitungsausschnitte zusandten, die von dem Skandal berichteten, war er sich, wie so häufig, fälschlicherweise sicher, daß sich die Gemüter wieder beruhigen würden.

Easton hat große Sympathie für seinen Helden, und vielleicht gerade deswegen gelingt es ihm auch, anschaulich zu schildern, woran Kessler immer wieder scheiterte: an sich selbst. So mitreißend sein Enthusiasmus war, so ziellos war er gleichzeitig, er plante immer mehrere riesige Projekte gleichzeitig, ein Libretto mit Hofmannsthal, ein Vergil-Druck mit Maillol, ein Nietzsche-Denkmal mit van de Velde. Er wollte die Polen mit den Deutschen versöhnen, die Deutschen mit den Franzosen und, als inoffizieller Gesandter Berlins in Genf, den Völkerbund mit Berlin. Und er tat es auch immer mit viel Eleganz und Eloquenz, aber letztlich konfliktscheu und realitätsverdrängend. Kessler agierte ein Leben lang an der Grenzlinie zwischen Kunst und Politik, doch je näher er der Politik kam, um so hastiger und um so erfolgloser wurde er. Easton beschreibt präzise - und von Klaus Kochmann in ein sehr angenehmes Deutsch übersetzt -, wie Kesslers immer neue Anläufe, in den diplomatischen Dienst aufgenommen zu werden, in den unendlichen Fluren des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße torpediert wurden. Er schildert auch, wie parallel dazu die finanziellen Sorgen Kesslers größer wurden. Er, der an der Jahrhundertwende jeden Künstler in Berlin und Paris förderte, mit dem er eine Tasse Tee getrunken hatte, mußte Ende der zwanziger Jahre seine großartige Sammlung moderner Kunst verkaufen, um sein Überleben zu sichern.

Easton erzählt auch als erster die Liebesgeschichten Kesslers. Während vor zwei Jahren im ersten Band der Tagebücher den Lesern noch groteskerweise weisgemacht werden sollte, daß die Verhältnisse Kesslers zu Regimentskameraden nicht über das damals übliche Freundschaftsverhältnis unter Soldaten hinausgingen, lernt der Leser in Eastons Buch mit Otto von Dungern, Schoeler (einem vornamenlosen Staatsadjudanten), Gaston Colin (einem Radfahrer, den Kessler mit Reifen für die Tour de France unterstützt) und Max Goertz vier von Kesslers Liebhabern genauer kennen. So ist eine umfassende, anschauliche und beeindruckende Biographie entstanden. Und doch scheint über Harry Graf Kessler noch nicht alles gesagt. Denn so präzise Easton den Menschen, den Politiker, den Denker, den Reisenden, den Krieger und den Diplomaten einfängt, so sehr hält sich der amerikanische Historiker zurück, wenn es um die Einschätzung von Kessler als Augenmenschen geht und als Stilist. Denn immer, wenn man in der Biographie auf Originalzitate Kesslers trifft, ist der Leser betört von dessen unbestechlichem Blick und mitreißendem Stil - etwa wenn er über Anton von Werner sagt "erst wollte man lachen, jetzt möchte man weinen, wenn die Langeweile nicht jeden Affekt ausschlösse" oder wenn er gleich das ganze deutsche Jahrhundert abwatscht: "Man vergleiche Overbeck mit Ingres, Feuerbach mit Puvis de Chavannes, Böcklin mit Delacroix, Leibl mit Manet; lauter zweite Garnituren."

Was Kessler kulturvermittelnd zwischen Deutschland und Frankreich geleistet hat, als Kunstkritiker, Förderer und Ästhet, das verdiente noch einmal eine Schilderung, die der wahren Größe dieses Schöngeistes gerecht wird. Wie sich etwa Kessler, der frühe Entdecker van de Veldes, der stets sein Haus in Weimar behielt, in den zwanziger Jahren zum Bauhaus verhielt (und dessen Meister zu ihm), was seine Sammlung über sein ästhetisches Programm verrät und wie es ihm gelang, die französische Kunst im aufgeheizten Vorkriegsdeutschland zu protegieren, das würde man gerne noch einmal genauer lesen.

Also: Soll man diese Biographie kaufen, gehört sie, wie man früher gesagt hätte, in jeden bürgerlichen Bücherschrank? Ja. Aber heißt das, daß nunmehr alles über den Grafen gesagt ist, über sein Auge und seine Wirkung auf die Kunst im Deutschland der Jahrhundertwende? Nein.

Laird M. Easton: "Der Rote Graf". Harry Graf Kessler und seine Zeit. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Kochmann. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2005. 575 S., geb., 39,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.12.2005

Schlürfen und schmieden
Laird M. Easton über Harry Graf Kessler in stürmischer Zeit
Neun Bände wird die vollständige Publikation der Tagebücher des Grafen Harry Kessler umfassen; die ersten Bände sind erschienen. Dass diese eines der großen Zeugnisse autobiografischer Art der deutschen (Kultur-) Geschichte sein werden, konnte man seit mehr als vierzig Jahren zumindest ahnen, als ein Auswahlband erschien, aber erst, seit sich 1984 ein Banksafe in Palma de Mallorca öffnete, war klar, welcher Schatz hier verborgen lag. Der amerikanische Historiker Laird M. Easton stellt dem eine voluminöse Biografie an die Seite, auf der Grundlage auch der in Marbach liegenden, noch unpublizierten Teile der Tagebücher.
Welch eine Gestalt, dieser „rote Graf”, ein zweischneidiger Ehrentitel, den er sich nach 1918 verdiente: Sohn eines frisch geadelten gründerzeitlichen Erfolgsbankiers und einer in Bombay geborenen Anglo-Irin, die ihrerseits eine persische Großmutter hatte. Alice Harriet Kessler, vom Sohn „Mémé” genannt, war eine weithin bekannte Beauté, der sogar der deutsche Kaiser Wilhelm I. so deutlich seine Reverenz erwies, dass Kessler immer wieder mit der unberechtigten Vermutung zu kämpfen hatte, er sei ein illegitimer Spross der Hohenzollern.
Er genoss, natürlich, eine hervorragende Ausbildung, die ein juristisches Studium einschloss, er gehörte zum engsten Kreis um die Kunstzeitschrift „Pan”, er versuchte, letztlich scheiternd, im Weimar der Zeit nach 1900 die klassische Epoche um 1800 auf dem Feld der Kunst zu revitalisieren und verbündete sich dazu mit Henry van de Velde, er unterstützte aus seinem lange Zeit märchenhaften Vermögen Künstler wie Edvard Munch und Aristide Maillol, trug quasi nebenbei eine der erlesensten privaten Kunstsammlungen zusammen (die er in schlechteren Zeiten dann wieder losschlagen musste), er war mit Sergej Diaghilew befreundet, mit Gerhart Hauptmann, mit Rilke und André Gide, mit Hofmannsthal und Cocteau, mit Max Reinhardt, Max Klinger und Richard Strauss, und er hat noch den umnachteten Nietzsche besuchen können.
Ballettpremiere bis Völkerbund
Das würde für ein „normales” Leben bereits genügen, und es wäre, wie bei so manchen anderen Menschen vom Typus „macht- und rentengeschützte Innerlichkeit”, darauf hinausgelaufen, dass Kessler nach 1918 den Zusammenbruch seiner Welt der Salons und Museen, der Galerien und Akademien, der Vor- und Hinterhöfe der politischen und der Meinungsmächte beklagt hätte und sich in ein mehr oder weniger komfortables Einsiedlerleben der Kunst und Kultur zurückgezogen hätte.
Dieses Leben aber entwickelte sich in eine ganz andere Richtung, und das macht die Gestalt Kesslers so einzigartig: Statt zu resignieren, wandelt er sich, der zu Anfang des Ersten Weltkriegs noch großräumige deutsche Kriegsziele verfocht und auf Sieg und Expansion setzte (da unterschied er sich von der deutschen Aristokratie weit älteren Ursprungs keineswegs), langsam, aber um- so sicherer zum Pazifisten und Europäer. Geholfen hat ihm dabei sein Aufenthalt im neutralen Bern, wo er die zweite Hälfte des Krieges als eine Art Kulturattaché (was auch Propagandist hieß) an der deutschen Botschaft verbrachte.
Easton zeichnet diese Entwicklung präzise nach und kann zeigen, welch langsamer Prozess es war, der Kessler dann nach 1918 zum „roten Grafen” machte. Aus dem Kunstmäzen und dandyhaften Kulturschlürfer wird der Politiker, der einer der energischsten Propagatoren des Völkerbundes wird. War er früher zwischen den Metropolen von der Ausstellungseröffnung zur Ballettpremiere gehetzt, so hetzt er jetzt in diplomatischer Mission, aber auch als Redner der Friedensbewegung, der erstaunt feststellt, dass er auch größere Versammlungen rhetorisch beeindrucken kann, von Ort zu Ort. „Jetzt komme ich endlich zu meinem eigentlichen Lebenswerk: praktisch an erster Stelle mithelfen, Europa zu schmieden”. Warum dies alles letztlich nicht zum Erfolg führt, das stellt Easton, ausgewiesener Kenner der Geschichte der Weimarer Republik, in aller notwendigen Breite und Deutlichkeit dar.
Kessler, der mit Rathenau und Stresemann von gleich zu gleich diskutierte, scheint seine Möglichkeiten überschätzt zu haben. Nur kurzfristig Gesandter in Warschau und erfolgloser Bewerber um ein Reichstagsmandat, glaubte er als eine Mischung aus grauer Eminenz und Emissär für schwierige Aufgaben die Außenpolitik der Weimarer Republik mitgestalten zu können - er überschätzte sich dabei ebenso wie die Kraft der Friedensbewegung und der Völkerbund-Idee in einer Epoche, die von Hass, politischem Mord, wirtschaftlicher Not und Ressentiments vergiftet war. In diesem Klima konnten radikale Kurvorschläge Gehör finden, nicht aber die Stimme der Vernunft, wie sie Rathenau, Stresemann, und eben auch Kessler vertraten.
Die Rathenau-Biographie aus Kesslers Feder ist sein bleibender Beitrag zur Erkenntnis der Epoche. Schon Mitte der zwanziger Jahre lässt er das Experiment Politik enttäuscht versanden. Als dann im Jahr 1929 kurz hintereinander seine Freunde Hofmannsthal und Diaghilew sterben, wie auch Gustav Stresemann, erlahmt die rastlose Energie Kesslers. Glücklicherweise kann er noch den ersten Band seiner Autobiographie „Gesichter und Zeiten” vollenden, die auch in der fragmentarischen Form (sie geht bis zur Jahrhundertwende) eines der großen Memoirenwerke der deutschen Geschichte geworden ist.
Der Biograf verkennt leider die Bedeutung dieses Buches erheblich und behandelt es nur am Rande; da war Peter Grupps erste Kessler-Biographie, die vor zehn Jahren erschien, hellsichtiger. Easton schildert die letzten Jahre Kesslers in allen ihren deprimierenden Umständen. So wie er zuvor deutlich, aber nicht indiskret die Homosexualität Kesslers thematisiert hatte, so beschreibt er nun die Einsamkeit des einstigen Weltmannes im von finanziellen Sorgen überschatteten Exil in Mallorca und am Ende in Frankreich. Der zuvor großzügigster Mäzen sein konnte, ist jetzt auf Almosen seiner Schwester angewiesen, lebt schließlich in einem heruntergekommenen Hotel in der Nähe von Lyon. Der mit den Großen dieser Welt vertraut war, hat nur noch seine Hunde und den Hotelpächter als Gesellschaft. Der Tod kommt 1937 in einem Lyoner Krankenhaus; das letzte Photo zeigt einen knochigen Schädel, über dem sich die Haut pergamenten spannt, der immer schmale Mund ist zu einer bitteren Scharte geworden.
Eastons Biografie ist von großer historischer Kompetenz getragen und hat die Tagebücher gut genutzt. Ein stichprobenartiger Vergleich mit dem Original zeigt, dass sich die Eloquenz und Geschmeidigkeit der Sprache des Buches zu einem guten Teil der vorzüglichen Übersetzung Klaus Kochmanns verdankt. Harry Graf Kessler, der Politiker und Genosse stürmischer Zeiten, steht nun in präzisem Umriss da. Die Darstellung der Weimarer Republik und der Kesslerschen Rolle in ihr ist die große Stärke dieses Buches, ein Höhepunkt dabei die Schilderung der Beziehung zu Rathenau. Schwächer entwickelt ist der Blick des Biografen für die künstlerisch-ästhetische Seite von Kesslers Natur. Seine Leidenschaft fürs Theater kommt kaum in den Blick, da hätte für die deutsche Version das Buch Tamara Barzantnys über Kessler und das Theater (2002) nützlich sein können. Die ganze Matrix Max Reinhardt - Diaghilew - Hofmannsthal - Strauss bleibt unterbelichtet.
Der subtil organisierte Mensch
Die berühmt gewordene leidige Affäre um Kesslers Anteil am „Rosenkavalier”, für den ihn Hofmannsthal mit der Bezeichnung „Helfer” abspeisen wollte, wo Kessler sich, wohl zu Recht, als „Mitarbeiter” sah, wird in ihren Tiefen nicht ausgelotet. Ein Porträt des so subtil organisierten Menschen Kessler ohne eine Analyse des schon lange vorliegenden Briefwechsels mit Hofmannsthal und speziell der „Rosenkavalier”-Angelegenheit, an der die enge Freundschaft letztlich verkümmerte, muss unergiebig bleiben. Man muss nur die entscheidenden Briefe Kesslers in dieser Sache auf ihre Zwischentöne abhorchen, um zu verstehen, dass er und nicht Hofmannsthal der „moralische Sieger” bleibt, dass er der subtilere Menschenkenner war und zumindest hier auch der größere Stilist.
Kessler, der Mann der Zeitgeschichte - ihn hat Easton brillant und ausführlichst porträtiert, hier gibt es nichts zu vermissen oder einzufordern. Kessler, der Kunstfanatiker und Sprachkünstler, der eminente Briefschreiber und eloquente Biograf Rathenaus und seiner eigenen Lebensgeschichte, die ästhetische Existenz, die er auch war - dies wird jedoch nicht ausreichend gewürdigt. Hofmannsthal immerhin hat Kessler zugebilligt, mehr als ein Künstler zu sein, ein Künstler nämlich in lebendigem Material, der Seelen einen Anblick verschaffe und Erscheinungen einander zuführe. Wer das in aller Fülle begreifen will, der wende sich an die Erinnerungen und die Tagebücher des roten Grafen - voilà un artiste.
JENS MALTE FISCHER
LAIRD M. EASTON: Der Rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit. Aus dem Englischen von Klaus Kochmann. Klett-Cotta, Stuttgart 2005. 575 Seiten, 39,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gefallen hat Rezensent Jens Malte Fischer eine umfangreiche Biografie über Harry Graf Kessler, die der amerikanische Historiker Laird M. Easton den ersten Bänden der schon publizierten und ebenfalls voluminösen Tagebücher an die Seite gestellt habe. Die auf der Grundlage noch unveröffentlichten Materials basierende Biographie sei von "großer historischer Kompetenz getragen" und vorzüglich übersetzt. Sie vermittle nicht nur das anschaulichen Bild eines bewegten Lebens, sondern zeige auch die inneren Entwicklungen auf, die den Adeligen zum politischen Genossen werden ließen. Vom Kunstfreund, Sammler und Mäzen, der in den Berliner Salons der späten Kaiserzeit von sich reden machte, über den Verfechter des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten und politisch engagierten Europäer in der Weimarer Republik, zu dessen bleibendem Werk auch eine Biographie über Rathenau gehöre, resümiert der Rezensent. Genau hier liege auch die Stärke der Biografie, die Kesslers Rolle in der Weimarer Republik in den Blick nehme und weniger die "künstlerisch-ästhetische Seite", zu der auch eine Leidenschaft fürs Theater gehörte. Trotzdem hat der Rezensent mit Gewinn gelesen und findet Graf Kessler als "Mann der Zeitgeschichte" hervorragend porträtiert.

© Perlentaucher Medien GmbH