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Am 11. Juni 1977 werden in Groningen zwei Jungen geboren. Am gleichen Morgen und keine zwanzig Kilometer entfernt findet eine Geiselnahme, die ganz Holland drei Wochen lang in Atem gehalten hat, ein brutales Ende. Viele Jahre später kommt heraus, daß die Kinder versehentlich vertauscht wurden. Besonders einer von ihnen, Octave, leidet unter dem Gedanken, in der falschen Familie aufgewachsen zu sein. Er hat eine starke Beziehung zu jener Frau entwickelt, die ihn ihr ganzes Leben beschützt und als ihren Sohn angenommen hat. Aber er lebt dennoch mit einem Schmerz, den zu unterdrücken ihm nicht…mehr

Produktbeschreibung
Am 11. Juni 1977 werden in Groningen zwei Jungen geboren. Am gleichen Morgen und keine zwanzig Kilometer entfernt findet eine Geiselnahme, die ganz Holland drei Wochen lang in Atem gehalten hat, ein brutales Ende.
Viele Jahre später kommt heraus, daß die Kinder versehentlich vertauscht wurden. Besonders einer von ihnen, Octave, leidet unter dem Gedanken, in der falschen Familie aufgewachsen zu sein. Er hat eine starke Beziehung zu jener Frau entwickelt, die ihn ihr ganzes Leben beschützt und als ihren Sohn angenommen hat. Aber er lebt dennoch mit einem Schmerz, den zu unterdrücken ihm nicht gelingen will. Das Gefühl wird immer drängender, daß er herausfinden muß, was dieser Schmerz bedeutet, bevor er sich der Verantwortung des Lebens als Erwachsener stellen kann.
Autorenporträt
Jaap Scholten, 1964 geboren, studierte Design und graduierte an der Kunstakademie in Rotterdam als Graphikdesigner. Er ist Drehbuchautor und Filmemacher.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.07.2002

Übrigens sauinteressant
Jaap Scholten erzählt von Verwechseln und Entführen
Zwei Neugeborene werden in der Klinik in Groningen verwechselt, weil unweit ein entführter Zug steht und Weißkittel aller Rangstufen und Schichtzeiten auf einmal der Einlieferung schwer verletzter Geiseln und Verbrecher entgegenfiebern und in ihrer Nervosität Fehler machen. Der 1964 geborene Niederländer Jaap Scholten erzählt in seinem zweiten Roman, wie einer mit dem Schicksal ringt, nicht das biologische Kind seiner Eltern zu sein.
Der Roman erzählt also zwei Geschichten – das klingt zunächst einmal interessant. Zumal er eine humoristische Anlage hat und zugleich die Komponente des Grauens enthält: Hier das so genannte Identitätsfinden eines dunkelhaarigen Jungen, der in eine blonde Familie verpflanzt wurde – dort ein in den Eingeweiden der Abteile grummelnder Zug: voller Menschen, ohne Wasser zum Waschen, in der Sommerhitze. Terroristen. Polizisten.
Jaap Scholten, Grafikdesigner und Drehbuchautor, klebt mal kurze, mal längere Schnipsel aneinander. Die Identitätsfindung ist auf Dauer angelegt und wird nicht chronologisch dargeboten, sondern in Zeithopsern durch den Ich- Erzähler Octave. Von der Kindheit bis zum Vaterwerden – vor, zurück, zur Seite, ran. Dazwischen ein bisschen Entführungsreportage.
Mit Schicksalsbruder
Das erzeugt nur den Anschein von Tempo. Die Schnitte sind so verwirrend gesetzt, dass sie in Wirklichkeit eine Verzögerung bewirken: Immer wenn man – was selten vorkommt – wissen will, wie es ausgerechnet jetzt weitergeht – Schnitt. Davon leben auch manche Langzeitserien im Fernsehen, etwa die „Lindenstraße”.
Scholtens Geschichte aber bleibt bei aller vorgeblichen Dramatik sehr blass. Für eine Identitätsfindung ist keine Verwechslungsgeschichte nötig. Diesen Plot gab es in den Schwarzweiß-Zeiten als Filmlustspiel. Scholten hat seinen für sich genommen schlichten psychologischen Darstellungen und Erwägungen nur das Korsett einer Handlung umgezurrt.
Und was hat es mit dem politischen Hintergrund auf sich? Der ist zwar nicht erfunden: Angehörige der 30000 Angehörige umfassenden molukkischen Minderheit in den Niederlanden kapern im Mai 1977 zum zweiten Mal binnen weniger Jahre einen Zug und nehmen Geiseln, um ihrer Forderung nach einem eigenen Staat Süd-Molukken Nachdruck zu verleihen. Man erfährt in Scholtens Roman aber nichts darüber bis auf entführungstechnische Details, beispielsweise dass die Spitzen der Fäkalienhaufen unter dem Zug mehrmals abgetragen werden mussten.
Über die uninteressante und sprachlich kunstlose Beschreibung des Ekels hinaus politisiert der Romancier bloß, etwa in den nörgeligen Agitationstiraden des biologischen Sohnes seiner Zieheltern, den er selbst ausfindig macht. Der Schicksalsbruder wächst in der Unterschicht auf, was Scholten durch Umgangssprachlichkeit zu illustrieren sucht. Doch erschöpft sich diese in mittels Apostroph abgekürzten unbestimmten Artikeln und wenigen plumpen Wortkombinationen: „Es ist übrigens sauinteressant, dass es zwischen den Geiseln und den Kidnappern fast immer zu 'ner Art Identifikation kommt.”
Der ganze Versuch war mehr gewollt als gekonnt. Verwechslung, Sex und Kot plus Politik multipliziert mit Lebensweisheiten fürs Poesiealbum jung gebliebener Leserinnen und mit Zeitsprüngen ganz modern geschnitten – so einfach ist ein Roman nicht zu haben, jedenfalls kein guter.
MARTIN Z.
SCHRÖDER
JAAP SCHOLTEN: Morgenstern. Roman. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 218 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2002

Alle Eltern kidnappen ihre Kinder
Die Familie als Schule des Verdachts: Jaap Scholten erzählt in seinem Roman "Morgenstern" von vertauschen Identitäten

Der zweite Roman des 1964 geborenen Niederländers Jaap Scholten schildert ein außergewöhnliches Familiendrama. Im Zentrum steht ein uraltes Motiv: das der Kindesvertauschung, dem in früheren Jahrhunderten manche Novelle ihren Konflikt, manche Komödie ihre Erkennungsszene zu verdanken hatte. In der Gegenwartsliteratur kommen Kindesvertauschungen kaum mehr vor - es sei denn unter ganz unwahrscheinlichen Umständen.

Bei Jaap Scholten ist es der Ausnahmezustand des Sommers 1977, als in der Nähe von Groningen eine Gruppe molukkischer Terroristen, Nachkommen von Immigranten aus den Kolonien, einen Personenzug mitsamt Reisenden kaperte und sich darin wochenlang verschanzte: das größte Geiseldrama der Niederlande, das in einer spektakulären militärischen Befreiungsaktion endete. Da herrschte im ganzen Land Aufregung und Chaos, insbesondere aber im Groninger Krankenhaus, wo man sich auf die medizinische Versorgung zahlreicher Opfer vorbereitete. Zu dieser Stunde, an diesem Ort werden Octave und Finn geboren.

In einer Familie von stämmigen Blonden wächst ein Schlanker, Dunkelgelockter auf; bei den Schlanken, Dunkelgelockten ein stämmiger Blonder. Männer, den einfachen Erklärungen zuneigend, drängen zum Vaterschaftstest, was bei Frauen nie gut ankommt. Mißtrauen hängt in der Luft und der Ehesegen bald ziemlich schief. "Sie sind nicht der Vater", versichert schließlich der Arzt. Und fügt, kaum beruhigend, hinzu: "Und Sie nicht die Mutter. Tragik entsteht vor allem durch die verschiedenen Reaktionen und Wünsche der Beteiligten. Octaves Vater, der überfordert wirkende Nachfahre einer großen Fabrikantendynastie, und seine weniger privilegierten leiblichen Eltern könnten sich vielleicht auf eine Korrektur der Verhältnisse einigen. Aber für Octaves Mutter ist nicht die DNS entscheidend; Sohn ist für sie das Kind, das sie liebt und großgezogen hat. Der Vater verschanzt sich nun immer öfter im Hobbyraum, wo er sich vor allem im Öffnen von Flaschen übt. Als er schließlich eines Tages am Eßtisch mit blanken Worten dem Sohn das Geheimnis offenbart, rammt ihm die Mutter eine Gabel in die Schulter. "Sei froh, daß das hysterische Weib nicht deine Mutter ist", lautet der letzte Satz, bevor der Nicht-Erzeuger die Nicht-mehr-Familie verläßt.

"Morgenstern" hat die Intensität eines autobiographischen Berichts, aber es ist ein kunstvoll gebauter Roman, der seine Stränge spannungssteigernd verzahnt: das langsame Sterben der Mutter, die Geschichte der Zugentführung, die Kindheits- und Jugenderinnerungen des Erzählers Octave. Eindringlich vergegenwärtigt er Situationen, in denen er als Kind den Boden der Identität unter den Füßen verlor. Das beginnt harmlos mit tantenhaften Feststellungen: "Meine Güte, von wem hat er nur dieses schöne dicke Haar?" Daß er "anders" sei, wird dem Achtjährigen dann vom Bruder, der die Eltern belauscht hat, ins Gesicht gesagt. Und in der Schule kommt es zu einer peinlichen Szene, als eine Mitschülerin Octave als Gegenbeispiel für die gesetzmäßige Vererbung von Augenfarben anführt: daß zwei blauäugige Eltern eben doch ein braunäugiges Kind haben können. Octave versucht, sich einen Reim auf sein Anderssein zu machen. Warum ist die Ehe der Eltern so schlecht? Warum bevorzugt der Vater den Bruder so entschieden? Das Familienleben wird zur Schule des Verdachts.

Familiäre Desaster lassen oft Menschen zurück, die sich selbst genug zu sein versuchen, programmatische Egoisten, wie Octaves Alter ego, der zynisch abgeklärte Finn, der sich früh zu einem veritablen Kotzbrocken entwickelt - und der doch eine faszinierende Figur von scharfer Intelligenz ist. Man hört ihm gebannt zu, wenn er im Mittelteil des Buches, als Octave ihn zum ersten Mal besucht, mit allen Details die Geschichte der dreiwöchigen Zugentführung erzählt, in einer lässigen, slanggesättigten Redeweise (gelungen übersetzt von Ira Wilhelm), die einen wirksamen Kontrapunkt zur Hysterie der Ereignisse bildet.

Scholten gelingt hier eine überzeugende Verschränkung von privater und öffentlicher Geschichte. "Seien wir ehrlich, alle Eltern kidnappen ihre Kinder", meint Finn. Entführung und Geiselnahme, Entwurzelung und gescheiterte Integration sind Motive, die die Problematik der beiden jungen Männer beleuchten und spiegeln. Umgekehrt erscheint das politisch-soziale Drama der molukkischen Terroristen als überdimensionale Familientragödie: "Der Vater hat sich als Soldat für die Kolonialmacht Holland den Arsch aufgerissen. Zum Dank verfrachten die Holländer Papa, Mama und acht Kinder nach Holland und stecken sie dort in 'ne Baracke. Um die Ehre des Vaters zu retten, entführt der Sohn 'nen Zug ... 'n richtiges Familienepos!" In Gang gebracht nicht zuletzt von der Ästhetik des Bürgerkriegs, die in den Siebzigern in Westeuropa herrschte, als in jedem zweiten Jugendzimmer Che Guevara hing. Auch die Guerrillaromantik hatte als Ausdruck des Generationskonflikts familiäre Dynamik. Spiegelungen, wohin man blickt: die Verhandlungsführer der Polizei richten ihre Taktik an der Familienpsychologie aus; im Zug entwickelt sich zwischen Entführern und Geiseln eine Art Eltern-Kind-Gefälle.

Scholten erzählt psychologisch, vermeidet jedoch das Psychologisieren. Daß seine Erfahrungen als Filmemacher und Drehbuchautor dem Buch zugute kommen, beweist neben der Ökonomie der Komposition die suggestive, nur selten plakative Bildhaftigkeit der Erzählsequenzen - allein die Schlußeinstellung ist ein Extralob wert. Ohne zu philosophieren, rührt das Buch an Schicksalsfragen. Sie drängen sich auf, wenn ein Mensch am eigenen Leib erfährt, welche gewaltige Bedeutung ein Zufall, welche Folgen ein kleines Versehen für das ganze Leben haben kann. Schicksal, das ist das Unumkehrbare. Um es mit Octaves leiblicher Mutter zu sagen: Man kann aus einem Huhn eine Hühnersuppe machen, aber aus einer Hühnersuppe kein Huhn.

Jaap Scholten: "Morgenstern". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Ira Wilhelm. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002. 230 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Kunstvoll gebaut und "in seinen Strängen spannungssteigernd verzahnt" findet Rezensent Wolfgang Schneider diesen Roman, der seinen Ausgang, wie wir erfahren, im Sommer 1977 nimmt. Damals kaperten molukkische Terroristen in der Nähe der niederländischen Stadt Groningen einen Personenzug samt Passagieren und verschanzten sich wochenlang darin. Das durch die Wirren der militärischen Befreiung verursachte Chaos in einem Krankenhaus habe am Rand auch zur Vertauschung von zwei Säuglingen geführt, deren Schicksal der Roman, Schneider zufolge, ebenfalls verhandelt. Voller Bewunderung lobt der Rezensent daran auch die "Intensität eines autobiografischen Berichts" und die "überzeugende Verschränkung von privater und öffentlicher Geschichte". Als Motive des Romans nennt er "Entführung und Geiselnahme, Entwurzelung und gescheiterte Integration": Das politisch-soziale Drama der molukkischen Terroristen sieht er auch als "überdimensionale Familientragödie" dargestellt. Der niederländische Autor erzählt psychologisch, vermeidet jedoch das Psychologisieren, schreibt Schneider und hebt auch die "Ökonomie der Komposition" hervor sowie die "suggestive, nur selten plakative Bildhaftigkeit der Erzählsequenzen". Allein die Schlusssequenz sei ein Extralob wert.

© Perlentaucher Medien GmbH"
"Spannung und Rührung und Reflexion bilden ein wundervolles Ganzes in diesem neuen Roman von Jaap Scholten." (Thomas van den Bergh/Elsevier)