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Eine der schwierigsten Fragen, die die Geschichts- und Sozialwissenschaften beschäftigt, ist die, wie es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer bisher unvorstellbaren Eskalation der Gewalt hatte kommen können, die mehr als 70 Millionen Menschen das Leben kostete. Diese Frage steht im Mittelpunkt des Bandes. Beginnend mit den Debatten um die Zukunft der Kriegsführung vor dem 1. Weltkrieg, analysiert Volker Berghahn die Kriegswirklichkeit von 1914 bis 1918 sowohl im Westen als auch im Osten. Es war ein totaler Krieg zwischen Industrienationen, der sich nach 1918 als Bürgerkrieg…mehr

Produktbeschreibung
Eine der schwierigsten Fragen, die die Geschichts- und Sozialwissenschaften beschäftigt, ist die, wie es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer bisher unvorstellbaren Eskalation der Gewalt hatte kommen können, die mehr als 70 Millionen Menschen das Leben kostete. Diese Frage steht im Mittelpunkt des Bandes.
Beginnend mit den Debatten um die Zukunft der Kriegsführung vor dem 1. Weltkrieg, analysiert Volker Berghahn die Kriegswirklichkeit von 1914 bis 1918 sowohl im Westen als auch im Osten. Es war ein totaler Krieg zwischen Industrienationen, der sich nach 1918 als Bürgerkrieg fortsetzte. Aus der z. T. pathologischen Verarbeitung dieser Gewalterfahrungen entstehen in den 30er Jahren Feindbilder und Visionen, die die Achsenmächte später in die Tat umgesetzt haben. Deren Utopie einer europäischen Neuordnung stieß mit jener Vision einer zukünftigen Gesellschaft zusammen, die am klarsten von den Amerikanern vertreten wurde. Das Jahr 1942 stellt in diesem Ringen den Höhepunknd zugleich den Wendepunkt dar.
Entsprechend geht es im letzten Teil des Buches nicht nur um die Schilderung der Zerstörung jener auf militärischer Gewalt gebauten faschistischen Utopie, sondern auch (zumindest im Westen) um die Durchsetzung einer diametral dazu auf Konsum hinorientierten Zivilgesellschaft.
Autorenporträt
Volker R. Berghahn ist seit 1998 Seth Low Professor für Geschichte an der Columbia University.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2002

Jahrhundertkatastrophen im Leistungsvergleich
Volker Berghahns Kurzgeschichte der Weltkriege erzählt von drei totalitären Despotien des 20. Jahrhunderts: von Kommunismus, Faschismus und Kolonialismus – und am Ende vom Konsum
„Am nächsten Morgen kam ein großer Haufen Soldaten in das Dorf. Wir wurden auf die Straße geschleppt und mit Stricken um den Nacken zusammengebunden, so dass wir nicht entfliehen konnten. Die Soldaten schlugen uns mit ihren Gewehrkolben und zwangen uns, zum Lager zu marschieren. Sie befahlen, die Frauen getrennt zu fesseln, zehn pro Strick; ebenso die Männer. Die Soldaten brachten uns Körbe mit Lebensmitteln, die wir zu tragen hatten; einige enthielten geräuchertes Menschenfleisch.”
Das Jahrhundert der Gewalt begann nicht im August 1914, sondern Jahre zuvor südlich der Sahara. Der Bericht der Leibeszeugin stammt aus den Wäldern des Kongo. In den Kolonien lernte der europäische „Gewaltmensch” das Handwerk der Ausrottung. Im Januar 1904 starteten deutsche Truppen den Vernichtungsfeldzug gegen die Hereros. Zwischen 1890 und 1920 kostete das belgische Kolonialregime im Kongo mindestens zehn Millionen Menschen das Leben. Drei totalitäre Despotien brachte das letzte Jahrhundert hervor: den Kommunismus, den Faschismus – und den Kolonialismus.
Es ist ein Vorzug von Volker Berghahns pointierter Kurzgeschichte der europäischen Katastrophen, dass sie über die Grenzen des Kontinents hinausweist. Krieg und Terror erprobten die Europäer in Afrika, das fordistische Gesellschaftsmodell des Massenkonsums jedoch, das zur Jahrhundertmitte den Krieg ablösen sollte, übernahmen sie von den USA. Was das 20. Jahrhundert anlangt, lassen sich die Basistrends in Europa mit einem kontinentalen, geschweige denn nationalen Zugang schwerlich feststellen.
Mit souveränen Strichen zeichnet Berghahn, der an der Columbia University in New York lehrt, eine Geschichte nach, die vom Sozialtypus des modernen „Gewaltmenschen” regiert wurde. Während am Vorabend des Großen Krieges die liberale Bewegung noch an die friedvollen Effekte des internationalen Handels glaubte, träumten viele deutsche und französische Militärs längst von einer raschen Vernichtungsoffensive. Moltke, der deutsche Stabschef, rechnete indes von vornherein mit einem langen Ermattungskrieg. Verdun war in seinem Kalkül ebenso vorgedacht wie die Totalisierung des Krieges als gesellschaftliches Großprojekt.
Zu den Offizieren und Frontkämpfern gesellten sich nach dem Krieg die Freikorps, die faschistischen Stoßtrupps und die kommunistischen Putschisten. Veteranenverbände und Militaristen diverser Couleur betrieben in Deutschland die nationale Mobilmachung, in der UdSSR installierten Parteiaktivisten und Tschekisten frühzeitig das Terrorsystem des Gulag und der Zwangskollektivierung.
Leider verzichtet Berghahn darauf, den Habitus des Gewaltmenschen psychohistorisch zu präzisieren. So informativ und klarsichtig die Darstellung insgesamt ausfällt, zuletzt verspielt sie die Chancen, die ein internationaler Vergleich kollektiver Gewaltdispositionen bieten könnte. Im Fortgang der Geschichte verengt sich die Perspektive zusehends auf den deutschen Kriegs- und Verfolgungsterror. Den spanischen Bürgerkrieg, dieses Experimentierfeld des Weltbürgerkriegs, streift Berghahn nur beiläufig; für die italienischen und japanischen Eroberungszüge sind nur wenige Passagen reserviert. Der Prototyp des „Gewaltmenschen” ist für Berghahn vornehmlich deutscher Nationalität.
Sein Idealbild scheint geradezu dem Ausbildungskatalog der SS und der Wehrpsychologie entnommen. Willenskraft, Selbstdisziplin und stählerne Härte machen seinen Charakter aus. Die schneidigen Offiziere des Blitzkriegs rechnet Berghahn ebenso zu diesem Sozialtypus wie die diplomierten Terrorbürokraten der SS, die Parteibonzen und kleinen KZ-Wächter, die Euthanasieärzte und die Vordenker der Bevölkerungsplanung, schließlich auch die ukrainischen Hilfskräfte des Völkermordes – eine zusammengewürfelte Armee des Terrors mit durchaus verschiedenen Motivlagen und Mentalitäten.
Bekanntlich entsprachen die wenigsten Gewalttäter dem rassistischen Idealbild der Propaganda. Dass sie allesamt unter dem „Fluch des Kolonialismus” standen, ist unwahrscheinlich. Die ungarischen Pfeilkreuzler oder Rumäniens eiserne Gardisten kamen ohne jedes koloniale Vorbild aus. Für die Verwandlung des Homo sapiens in einen Krieger und Schlächter genügen im allgemeinen die Gelegenheiten, die ein Regime seinen Untertanen bietet. Auch die Kolonialmächte Belgien, Frankreich, Großbritannien oder die Niederlande brachten unzählige Menschen hervor, denen Gewalt zur Gewohnheit geworden war. Aber keine dieser Nationen vergab die freie Lizenz zum Massenmord auf europäischem Boden.
1945 erlitt der deutsche Gewalttäter eine totale Niederlage. Doch war seine Verwandlungsfähigkeit ungebrochen. Binnen kurzem mutierte er zum folgsamen Konsumenten. Die nordatlantische Region wurde zu einer Zone friedlicher Prosperität. Die Kriegsordnung wich der Konsumordnung, eine Option, die sich schon in der ersten Jahrhunderthälfte angedeutet hatte, kurz vor 1914 und zwischen 1924 und 1935. Doch erst auf den Gräbern des Zweiten Weltkrieges wurde das Reich des allgemeinem Wohlstands errichtet. Nun konnten sich immer mehr Westeuropäer die Objekte der Begierde leisten, die Kühlschränke, Kinokarten, Waschmaschinen und Automobile.
Mit trotzigem Optimismus hält Berghahn an dem Glaubenssatz fest, Industrie und Massenkonsum böten das Fundament für eine humanere Zivilgesellschaft. Nicht umsonst beruft er sich auf Herbert Spencers alte Lehre von der Entwicklung der militaristischen zur friedlichen Industriegesellschaft. Mittlerweile scheint manchen europäischen Gesellschaften die Fähigkeit zur Kriegsführung abhanden gekommen zu sein. Doch verschwunden war die Gewalt zu keiner Zeit. Nach der Befriedung Europas war sie nur zurückgekehrt in die Kolonialregionen, wo sie schon zu Beginn des Jahrhunderts gewütet hatte. Die Gewaltmenschen hatten nur wieder einmal die Schlachtplätze gewechselt.
WOLFGANG SOFSKY
VOLKER BERGHAHN: Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt. Fischer, Frankfurt a. M. 2002. 205 S., 10,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eine "pointierte Kurzgeschichte europäischer Katastrophen" erblickt Rezensent Wolfgang Sofsky in Volker Berghahns "Europa im Zeitalter der Weltkriege". Als einen Vorzug von Berghahns Buch würdigt er dabei, dass es über die Grenzen des Kontinents hinausweist - schließlich beginnt für den Autor die Geschichte der totalitären Despotien mit dem europäischen Kolonialismus, wo die Europäer das Handwerk von Krieg und Terror erlernten, das sie dann im Faschismus und im Kommunismus perfektionieren sollten. Mit souveränen Strichen zeichne Berghahn eine Geschichte, die vom Sozialtypus des modernen "Gewaltmenschen" regiert wurde, lobt Sofsky. Bedauerlich findet er allerdings, dass Berghahn den Habitus des Gewaltmenschen nicht psychohistorisch präzisiere. So informativ und klarsichtig seine Darstellung insgesamt ausfalle, klagt Sofsky, "zuletzt verspielt die Chancen, die ein internationaler Vergleich kollektiver Gewaltdispositionen liefern könnte."

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