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Gitta Serenys Lebensthema heißt Deutschland. Schon früh drängten sich mit dem "Anschluss" Österreichs Hitler und die Nationalsozialisten in ihre Biographie. Während des Kriegs arbeitete sie in Frankreich als Fürsorgerin in einem Heim für Flüchtlingskinder. Dieselbe Arbeit setzte sie nach dem Krieg in Lagern für von den Nazis verschleppte Menschen und für KZ-Überlebende fort. Dabei lernte sie zu verstehen, wie das Nazigift in das Leben der Menschen eindrang. Die Arbeit mit Nazi-Opfern und die Suche nach gestohlenen Kindern ließ sie das Ausmaß der Menschenverachtung begreifen, die das Wesen der…mehr

Produktbeschreibung
Gitta Serenys Lebensthema heißt Deutschland. Schon früh drängten sich mit dem "Anschluss" Österreichs Hitler und die Nationalsozialisten in ihre Biographie. Während des Kriegs arbeitete sie in Frankreich als Fürsorgerin in einem Heim für Flüchtlingskinder. Dieselbe Arbeit setzte sie nach dem Krieg in Lagern für von den Nazis verschleppte Menschen und für KZ-Überlebende fort. Dabei lernte sie zu verstehen, wie das Nazigift in das Leben der Menschen eindrang. Die Arbeit mit Nazi-Opfern und die Suche nach gestohlenen Kindern ließ sie das Ausmaß der Menschenverachtung begreifen, die das Wesen der Nazi-Ideologie bestimmte. Anhand ihrer eigenen Erfahrungen sowie anhand der Biographien von Nazi-Tätern, mit denen sie intensive Gespräche führte, versucht Gitta Sereny, Hintergründe und Motive, Gefühle und Taten zu erhellen, um das scheinbar Unfassbare im Konkreten, im einzelnen Leben greifbar werden zu lassen. Der Nationalsozialismus - seine Verdrängung wie seine bewusste Aufarbeitun g - hat das Selbstverständnis der Deutschen in den letzten 50 Jahren entscheidend geprägt und beeinflusst weiterhin die deutsche Politik. Die renommierte Autorin ist aber zutiefst überzeugt, dass Millionen Deutsche die tiefe Wunde, die von der nationalsozialistischen Tyrannei auch in den nachfolgenden Generationen geschlagen wurde, annehmen. Dass Deutschland heute das Herz Europas sein kann, gerade weil Deutsche jeden Alters sich dieser Wunde bewusst sind.
Autorenporträt
Gitta Sereny ist ungarisch-österreichischer Abstammung. Seit über fünfunddreißig Jahren beschäftigt sich die in London lebende Journalistin (Sunday Times, The Independant, Die Zeit, Le Nouvel Observateur u.a.) immer wieder mit zwei Themen: zum einen mit Kindern, die durch politische Umstände oder private Schicksalsschläge psychisch geschädigt wurden, zum anderen mit dem Dritten Reich. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter "Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker" und "Schreie, die keiner hört"- die Lebensgeschichte der Mary Bell, die als Kind tötete (Tb 72638). Albert Speer sah sie erstmals 1946 auf der Anklagebank in Nürnberg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2002

Ordnung muss sein
Gitta Sereny setzt aus den Puzzlestückchen ihrer Erinnerung das zusammen, was sie bis heute verfolgt: das deutsche Trauma
GITTA SERENY: Das deutsche Trauma. Eine heilende Wunde, C. Bertelsmann, München 2002. 505 Seiten, 24,90 Euro.
Sie war ein Kind, zehn oder elf, saß in einem Zug von Wien Richtung Kanalküste, auf dem Weg in ein englisches Internat. Aufenthalt in Nürnberg, Schwestern des Roten Kreuzes nahmen sie mit zum Reichsparteitag: „Ich war überwältigt von der Symmetrie des Aufmarsches, von den fröhlichen Gesichtern, den rhythmischen Klängen, der magischen Beleuchtung. Bald klebte ich hingerissen an meinem Sitz, bald sprang ich auf und stimmte in den Jubel der Menge ein...” In den Tagen des österreichischen „Anschlusses” stand sie, inzwischen fünfzehn geworden, Schauspiel-Elevin im Max Reinhardt-Seminar, „inmitten einer Menschenmenge unter dem Balkon des Hotels Imperial und hörte Hitler reden. Am deutlichsten ist mir – zu meinem Entsetzen – in Erinnerung geblieben, wie freudig erregt ich war, während ich diesem Mann zuhörte. Was trieb mich, in den Chor der Masse einzustimmen? ”
Ja, was? Die Ungarin Gitta Sereny, längst Britin geworden und eine hoch respektierte Journalistin englischer Sprache, hat auf diese Grundfrage des Phänomens Nazismus keine schlüssige Antwort. Es kennzeichnet die Aufrichtigkeit der Autorin, dass sie die eigene, nun keineswegs mehr kindliche Verwirrung in der Konfrontation mit der anästhesierenden Macht des „Führers” im Jahre 1938 nicht verschweigt. Sie selber trug eine Ahnung des „deutschen Traumas”– so der Titel dieser Sammlung von zwanzig Texten – durch ihr wechselhaftes Leben. Aber es geschieht nicht zu oft, dass Gitta Sereny vorgestanzte Meinungen kritiklos übernimmt. Ihr Wahrheitswillen, der sich nur auf den eigenen Spürsinn verlässt, behält in der Regel die Oberhand. In den französischen Okkupationsjahren, in denen sie sich dem Schutz und der Pflege elternloser Kinder widmet, teilt sie natürlich den Hass der Résistance gegen die teutonischen Besatzer. Das hält sie nicht davon ab, die faire Hilfe deutscher Offiziere beim Namen zu nennen, und sie verschweigt nicht, dass deutsche Soldaten sie über die Pyrenäen entkommen ließen. Über Spanien konnte sie sich nach Amerika retten.
Dennoch: Der Blick auf die Nachtseite des Zwanzigsten Jahrhunderts dominiert das neue Buch, das nicht nur eine Textsammlung, sondern auch eine fragmentarische Autobiographie ist. Es zeugt für ihre bemerkenswerte psychische Energie, dass sie in ihrem chronischen Dialog mit Deutschland dem nackten Entsetzen niemals auswich. Das gilt vor allem für jenes Kapitel, das sie „Gespräch mit einem Gewissen” nannte – eine Art Digest des Buches „Am Abgrund”, in dem sie 1978 ihre intensiven Unterredungen mit Franz Stangl beschrieb, dem Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, der im Dezember 1970 nach einem Prozess von neun Monaten wegen Beihilfe zum Mord an Neunhunderttausend Menschen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde. Stangl, immer korrekt, versuchte die abertausend Opfer, die täglich unter seiner Aufsicht durch die Todesschleusen in die Giftkammern gejagt wurden, als bloße „Ware” zu betrachten – um in ihnen keine Menschen sehen zu müssen. Doch als sich ein Jude bei der Ankunft darüber beklagte, einer der litauischen Begleitoffiziere habe ihm die Uhr geklaut, befahl Stangl dem gesamten Wachpersonal, „die Taschen umzudrehen”. „Was Recht ist, muss Recht bleiben, oder nicht?” sagte er zu Gitta Sereny. Die Uhr wurde nicht gefunden. Es kümmerte ihn nicht, dass der Bestohlene wie alle anderen kurz danach in den Tod ging.
Recht muss Recht bleiben. Kein Hauch von Zynismus schien da durch. Die Schizophrenie gewann den Rang der Normalität. So funktionierte das System. Wohl erinnerte sich Stangl nach all den Jahren an ein schönes „Stubenmädchen”, das den Herrn Kommandanten in gutem Deutsch seine Verachtung spüren ließ. Er fühlte sich beschämt, doch er dachte nicht daran, die junge Frau zu bestrafen. Ihr Geschick interessierte ihn nicht. Es war unabänderlich. Es entsprach der „Normalität”, dem Alltag der Todesmaschinerie. Nur einmal deutete er in seinen langen Sitzungen mit Gitta Sereny Schuldbewusstsein an. Einen Tag nach dem letzten Gespräch starb er an einem Herzinfarkt.
Stangl hatte zu den SS-Schützlingen des Vatikan-Bischofs Alois Hudal gehört, der ihn mit einem Rot-Kreuz-Pass versorgte und zur Flucht nach Brasilien verhalf. Viele von den Kindern der Henker aber, mit denen die Autorin sprach, konnten und wollten vor der Wahrheit nicht davonlaufen. Monika, die Tochter eines Generals der SS-Einsatzgruppen, der 1946 hingerichtet wurde, fragte sich ein Leben lang: „Was ging in diesen Männern vor, als sie mit ihren Verbrechen konfrontiert wurden? Haben sie sich selbst ihre furchtbare Schuld eingestanden? Und vor allem: Tat es ihnen Leid? Haben sie bereut, bevor sie gestorben sind?” Fast nebenbei erfahren wir, dass ein Bruder Reinhard Heydrichs, des Strategen der Vernichtung, sich dem Widerstand anschloss, als er sich an der Ostfront mit dem Morden konfrontiert sah; 1944 machte er seinem Leben ein Ende.
Am Ende ihrer Odyssee durch die deutsche Vergangenheit bescheinigt uns Gitta Sereny, „das moderne Deutschland” habe „mehr als jedes andere Land der westlichen Welt seit dem Zweiten Weltkrieg einen tiefgreifenden Wandel zuwege gebracht”. Die jüngere Generation sei „weniger anfällig für den Rassismus als in vielen anderen europäischen Ländern”. Sie betrachte das Dritte Reich weniger emotional als die Eltern und Großeltern: „Aber an dem Ernst, an den moralischen Motiven und an ihrer Besorgnis über die Missstände in der Gegenwart hat sich nichts geändert.” Darum der Untertitel der deutschen Ausgabe ihres Buches, dem sie den gleichen Rang wie dem Haupttitel zuerkennt: „Eine heilende Wunde”.
KLAUS HARPPRECHT
Der Rezensent ist Schriftsteller und Journalist und lebt in Frankreich.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Viel Lob hat Klaus Harpprecht für die Textsammlung Gitta Serenys, in der sie ihre Erinnerungen zur Erfahrung mit der Deutschen Geschichte aufgezeichnet hat. Die britische Autorin ungarischer Abstammung hat, wie wir vom Rezensenten erfahren, selbst im Kindesalter die Faszination gespürt, die von den Reden Hitlers ausgegangen sei, welche sie in Nürnberg verfolgen konnte. Vor diesem Hintergrund ist Harpprecht von der "Aufrichtigkeit" Serenys beeindruckt, mit der sie ihre persönlichen Eindrücke schildert. Gefallen hat ihm der Wahrheitswille, der in der Regel die Oberhand behalte und sich "nur auf den eigenen Spürsinn" verlasse. Deshalb ist das vorliegende Buch seiner Ansicht nach nicht einfach eine Textsammlung, sondern "auch eine fragmentarische Autobiografie". Obwohl auch positive Erfahrungen fairerweise aufgeführt würden, die Sereny mit deutschen Offizieren beispielsweise während der Besatzungszeit in Frankreich gemacht hat, dominiere doch "der Blick auf die Nachtseite" des zwanzigsten Jahrhunderts das Buch, so der Rezensent. Besonders in einem von Harpprecht herausgestellten Kapitel - 'Gespräch mit einem Gewissen' - zeige sich die "bemerkenswerte psychische Energie" Serenys, mit der sie in Gesprächen mit den Nachkommen von SS-Verbrechern versucht, deren Schuldbewusstsein auf die Schliche zu kommen. Durch das Ende des Buches, in dem die Autorin der jüngeren deutschen Generation einen tiefgreifenden Wandel hinsichtlich der Anfälligkeit für Rassismus bescheinigt, sieht Harpprecht schließlich den Untertitel von der 'heilenden Wunde' gerechtfertigt, der jedoch nicht - und auch hier zollt er Sereny Respekt - über die gegenwärtigen Missstände hinwegtäuschen könne.

© Perlentaucher Medien GmbH
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