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Längst ein erwachsener Mann, hat Willie Chandran noch immer nicht seinen Platz im Leben gefunden. Als seine Aufenthaltsgenehmigung in Berlin abläuft, trifft der Inder eine radikale Entscheidung: Er wird in seine Heimat zurückkehren und sich einer Gruppe von Freiheitskämpfern anschließen. In Indien angekommen, bemerkt er, wie weit er sich von der Lebensart seines Volkes entfernt hat. Er wird Mitglied einer revolutionären Zelle und muss feststellen, dass deren Kampf nicht sein Kampf ist. Schlimmer noch, er durchschaut die heuchlerische und verlogene Seite dieser "Revolution". Doch wie soll er…mehr

Produktbeschreibung
Längst ein erwachsener Mann, hat Willie Chandran noch immer nicht seinen Platz im Leben gefunden. Als seine Aufenthaltsgenehmigung in Berlin abläuft, trifft der Inder eine radikale Entscheidung: Er wird in seine Heimat zurückkehren und sich einer Gruppe von Freiheitskämpfern anschließen. In Indien angekommen, bemerkt er, wie weit er sich von der Lebensart seines Volkes entfernt hat. Er wird Mitglied einer revolutionären Zelle und muss feststellen, dass deren Kampf nicht sein Kampf ist. Schlimmer noch, er durchschaut die heuchlerische und verlogene Seite dieser "Revolution". Doch wie soll er aus dieser Sache wieder herauskommen?
Der Nobelpreisträger V.S. Naipaul schildert in seinem neuen Roman das inständige Ringen eines Mannes um seine Identität.
Autorenporträt
Vidiadhar Surajprasad Naipaul, geb. 17.8.1932 in Trinidad, lebt seit 1950 in Großbritannien. Der Romancier, Reiseschriftsteller und Journalist indischer Herkunft gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der englischsprachigen Literatur. Seine Romane 'Ein Haus für Mr. Biswas' und 'An der Biegung des großen Flusses' sowie das Sachbuch 'Eine islamische Reise' waren Welterfolge. Die meisten seiner Werke wurden ins Deutsche übersetzt. 2001 wurde V. S. Naipaul der Literatur-Nobelpreis verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2005

Ich sehe was, was du nicht siehst
Rote Rosen werden zu Gewehren: V.S. Naipauls neuer Roman „Die magische Saat”
Jedermann kennt die Situation: Man sitzt abends, womöglich zu zweit, an einem Restauranttisch - da kommt ein tamilischer Rosenverkäufer herein und bietet schweigend seine Ware an. Was tun? Entweder man kauft eins der langstieligen tiefroten Gebilde und überreicht es der Dame gegenüber - dann hat man sich, möglicherweise aus Schwäche, zu einer vorgefertigten und als solchen schäbigen Geste verleiten lassen; oder man winkt ab, möglicherweise aus Geiz, und das Gegenüber muss argwöhnen, es sei einem nicht mal die allerbilligste schablonierte Romantik wert.
So heikel sind die Dinge für Einheimische. Wenn es sich aber um zwei Inder handelt, die da in einem Westberliner Restaurant der achtziger Jahre sitzen, erreicht die Lage undurchdringliche Komplexität. Willie, bereits Protagonist von Naipauls Roman „Ein halbes Leben”, hat dessen zweite Hälfte begonnen, indem er, nach einem passiven Wanderleben durch Indien, England und Mosambik, nunmehr bei seiner Schwester Sarojini Zuflucht sucht, die mit einem deutschen Dokumentarfilmer zusammenlebt. Sarojini ist es - und das charakterisiert das Verhältnis der Geschwister -, die den Rosenverkäufer herwinkt.
„Der Tamile trat an den Tisch und hielt ihnen die Rosen hin, vermied aber dabei den Blickkontakt. Er machte keine Gemeinsamkeiten mit ihnen geltend. Er war selbstbewusst, der Rosenverkäufer, durchdrungen von seinem eigenen Wert. Willie, der dem Mann nicht ins Gesicht sah, sondern auf seine braune (von einem Schneider fern von hier genähte) Hose, die übergroße vergoldete Armbanduhr und das Goldkettchen am haarigen Handgelenk (wohl kaum aus echtem Gold), sagte sich, dass der Rosenverkäufer in seiner eigenen Umgebung ein Niemand gewesen wäre, ein Mann, durch den man hindurchschaute. Hier, in einer Umgebung, die er wahrscheinlich so wenig verstand wie Willie, einer Umgebung, die er im Zweifel noch nicht einmal zu sehen gelernt hatte, schien er aus sich herausgetreten zu sein. Er war ein anderer geworden.”
Die unverständliche Stadt
Willie und der Rosenverkäufer sehen beide nicht. Das heißt nicht nur, dass sie sich gegenseitig nicht anblicken (dies wiederum unterlassen sie, weil sie einander auf ganz bestimmte, obwohl asymmetrische Weise, sehr wohl erkennen); sie „sehen” vielmehr ganz allgemein nicht die Umgebung, in der sie sich bewegen, die unverständliche Stadt Berlin, die gleichwohl jetzt ihr Schicksal ist.
Ich sehe, dass ich nicht sehe; ich sehe Dunkelheit, wo ich früher blind war: Dies ist für Naipaul der sokratische Augenblick, an dem das Begreifen einsetzen kann, stets auf eine elementarere Weise, als es zunächst nötig schien. Zu sehen gibt es beispielsweise, dass gewisse Menschen ein Leben führen müssen, in dem man einfach durch sie hindurchschaut, als wären sie nicht da. Der Rosenverkäufer, der einem Deutschen in Berlin als beschämend niedrige Präsenz vorkommen mag, als notdürftig durch die Anmut seines Handels verkleideter Bettler, hat diese Phase hinter sich, er ist sichtbar geworden und hat so einen Stolz erlangt, der seinem deutschen Kunden unsichtbar bleiben muss. Seine Rosen werden sich, wie Sarojini weiß, auf einem anderen Kontinent in Gewehre verwandeln.
Viele Augenblicke wird es für Willie im Verlauf des Buchs geben, wo er, mit fremden Augen und mit eigenen, zu sehen beginnt - peinvolle, in den Dschungelcamps und indischen Kleinstädten, und einen befreienden, als er durch eine Verkettung glücklicher Umstände, schon über fünfzig Jahre alt, in London Architektur studieren darf und zum ersten Mal die Stadt London, in ihren Gebäuden und das heißt in ihrer Geschichte „sieht”. Damit schließt das Buch, als wären die Möglichkeiten dieses speziellen Lebens, das Leben eines Verräters, Feiglings und Schmarotzers, dem man gleichwohl eine tiefe Sympathie nicht versagen kann, nunmehr glorreich erschöpft.
Zu sehen und zu lernen gibt es auch einiges für den Leser. Spät erkennt er, was den zentralen Zug dieses Buchs ausmacht: seine schweigende Verachtung für alles, was sich im weitesten Sinn als „links” bezeichnen ließe. „Links” ist Willies Schwester Sarojini, die ihn, den Antriebslosen, verbal entmannt und wirklich durch ihr Genörgel dazu bringt, es dem Rosenverkäufer nachzutun und sich einer indischen Guerillabewegung anzuschließen; ihn kostet es viele Jahre seines Lebens, die er in elenden Umständen verbringt, sie - nichts. Versehentlich, wie in einen verkehrten Zug, aus dem er nicht mehr aussteigen kann, gerät er in die falsche Gruppierung, die jahrelang sinn- und zwecklos im Dschungel marschiert und zeltet. Lächerlich ist der alte Führer Kandapalli, der, senil geworden, nur noch zusammenhanglos greint, wenn er sein Album mit Fotos armer Kinder vorzeigt; lächerlich und entsetzlich sind die Grabenkämpfe zwischen den Anhängern der Lin-Piao-Linie, die für die summarische Exekution des Klassenfeindes eintreten, und ihren Widersachern, die die Zwangsmobilisierung des eingeschüchterten „Menschenmaterals” auf dem Land befürworten. Und nur noch entsetzlich ist die Leichtigkeit, mit der getötet wird. Auch Willie tut es; wie geheißen, geht er in ein Dorf und fordert den erstbesten Bauern auf, den reichsten Mann am Ort zu erschießen, es sei ganz einfach; dieser lehnt ängstlich lächelnd ab; plötzlich steht der Gruppenleiter hinter Willie und fragt ihn: Warum machst du es nicht selbst? Hier ist das Gewehr, hier kommt der Mann gerade, siehst du ihn durchs Zielfernrohr? Und Willie sieht ihn und schießt. Man liest es zweimal, dreimal, bevor man begriffen hat, dass schon alles vorbei ist.
Der Wille zur politischen, geschichtlichen Veränderung, so muss man Naipaul wohl verstehen, hat immer unredliche Wurzeln. Denn hinter der vorgeschobenen Empörung über das Allgemeine verbirgt und verleugnet er den Schmerz: den eigenen, die erlittene Kränkung, die schwärt und Rache will; und den fremden, der dafür bluten soll. (Sarojini übrigens vollzieht, während ihr Bruder in einem indischen Gefängnis sitzt, einen kleinen zeittypischen Schwenk, übernimmt den Ashram ihres Vaters, erkennt dann, dass dort gar nicht die uralte indische Spiritualität zu Hause ist, sondern bloß der Schmu, und kehrt wieder zu ihrem Dokumentarfilmer zurück, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch gemeinsam von westdeutschen Fördergeldern.)
Der Zeuge der Schande
Naipaul ist ein Schriftsteller des Schmerzes und der Schmach von hohen Graden. Aus der aufgezwungenen Schweigsamkeit der Dschungelcamps treten nach und nach die Lebensgeschichten der Kämpfer hervor, manche so peinigend zu lesen, dass man es kaum erträgt. Zu solcher Intensität kann das Gefühl der Demütigung in einem von ihnen anwachsen, dass er seinem Lehrer, bei dem er sich mit einer Geste bedanken will, die missglückt, den Tod wünscht: erst wenn dieser Zeuge seiner Schande nicht mehr am Leben sein wird, darf er hoffen, wieder frei zu atmen.
Am tiefsten aber reicht die Schmach, die eine Frau einem Mann anzutun vermag. Die Reihe dummer, kalter, treuloser Frauen aus Naipauls früheren Romanen, die den Männern die brennende Scham des Geschlechts ins Gesicht treiben, vervollständigt sich hier. Gegen das Ende zu findet das Buch Raum für eine komplette Novelle, in der sich die Beziehung eines Londoner Anwalts zu einer Frau der Unterschicht in den Vororten entfaltet, wie er ihr beklommen verfällt und wie sie ihm schließlich, voraussagbar, „in die Zähne tritt”. In die Hände einer Frau darf ein Mann sein Leben so wenig legen wie in die der Revolution. Nicht ohne Unbehagen gesteht man es sich ein, dass Naipauls Rang als Autor innig mit seinem misstrauischen Blick auf die Frauen verwoben ist. Denn ein großes Buch: das ist „Magische Saat” bestimmt geworden.
BURKHARD MÜLLER
V. S. NAIPAUL: Magische Saat. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Claassen Verlag, Berlin 2005. 320 Seiten, 22,90 Euro.
Wer sucht den Blickkontakt mit dem Rosenverkäufer?
Foto: ddp
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2005

Jack und die Bohnenstange
Wirklichkeitswund durch die Welt: V. S. Naipauls Roman "Magische Saat"

Wer jemals ins Kino kam, als der Film schon länger lief, kennt dieses Gefühl: Irgendetwas Bedeutendes ist hier im Gang, das allen anderen vertraut scheint, von dem wir jedoch nur mühsam und allmählich eine Vorstellung gewinnen, wenn wir Szenen und Personen deuten lernen. Fernseh-Soaps arbeiten daher strikt nach dem Gesetz der Serie, so daß jeder, der vorbeizappt, gleich typische Figuren und Standardsituationen wiedererkennt. Was aber, wenn einem solche Konventionen einfach nicht bekannt sind?

So müssen wir uns wohl den jungen V. S. Naipaul vorstellen, im kolonialen Trinidad damals vor sechzig Jahren, als in der Familie sorgsam die Erinnerung an ein entrücktes Indien gepflegt wurde, während der Knabe lauter englische Romane las, deren Geschichten und Figuren ihm gleichermaßen fremd wie faszinierend vorkamen. Nach einer Selbstauskunft in "Das Lesen und das Schreiben" erging es ihm dabei wie eben dem verspäteten Kinobesucher, der sich in einer unvertrauten Welt zurechtzufinden sucht und ganz auf eigene Beobachtungen angewiesen ist. Daraus wurde das Lebensthema des Autors und Nobelpreisträgers, denn Orientierung fand und bot er stets in nichts als dem Schreiben. Seine großen Romane, Reiseerzählungen und Reportagen sind deshalb so wirklichkeitswund, weil sie sich ohne Schutzvorrichtung an alten wie an neuen Welten reiben und laufende Geschichten, auch wenn sie einem längst bekannt vorkommen, unnachgiebig zu den Anfängen zurückverfolgen. Mit seinem neuen Roman nun verschafft er Lesern allerdings das deutliche Gefühl, das Wichtigste bereits verpaßt zu haben.

Unvermittelt setzt "Magische Saat" dort ein, wo der Vorgänger "Ein halbes Leben" vor drei Jahren die Geschichte seines postkolonialen Pikaro Willie Chandran ebenso unvermittelt abbrach. Doch außer einem diskreten Hinweis im Klappentext gibt es keinerlei Hilfestellung, diesen Zusammenhang im Blick zu halten und sich in der Romanwelt, mit der wir konfrontiert werden, zurechtzufinden. Dabei mag kurioserweise deutschen Lesern der Beginn noch am vertrautesten erscheinen. Wir treffen Willie hier "am Ende eines Luftkorridors", wie es mit einer wunderbaren Wendung heißt, im längst versunkenen, alten, subventionierten "Westberlin", das in Sabine Roths treffsicherer Übersetzung sogar in ostdeutsch korrekter Schreibweise erscheint. Allerdings ist Willies Verbleib dort, wie wohl seine gesamte Existenz, nur Episode.

Die weiteren Stationen folgen im Kapiteltakt. Erst treibt es ihn nach Indien zurück, von wo er vor Jahrzehnten aufbrach und wo er sich jetzt einer revolutionär gestimmten Landguerrilla anschließt. So wird er Untergrundkämpfer und Geheimkurier, dann Spion und Deserteur, schließlich Flüchtling und Strafgefangener. Durch eine Sonderamnestie gelangt er jedoch nach London, wo er einst als Autor reüssierte und nun im Haus eines Bekannten unterkommt. Dessen Frau beginnt mit Willie ein Verhältnis. Ein reicher Gönner verschafft ihm einen Redakteursposten bei einer prestigeträchtigen Kunstzeitschrift in Bloomsbury. Ein, zwei andere Beiläufigkeiten spielen sich im Londoner Vorstadtmilieu ab, bevor auch dieser Roman unvermittelt an ein Ende kommt. Brüche sind also nicht nur für die Existenzform dieses halben Helden kennzeichnend, der auf der Suche nach dem "roten Faden in seinem Leben" durch die Welt streift; auch Naipauls Erzählung inszeniert sich im unentwegten Abbrechen und Abschweifen, im Vorläufigen und Unbeendeten. Offenkundig will sie dem Leser abverlangen, was sie der Hauptfigur versagt: die Erkenntnis sinnstiftender Verbindungen.

Dazu legt sie auch Spuren aus. Der sinnreichste - und deutlich selbstironische - Hinweis findet sich, als Willie in England auf eine neue Ausgabe seines alten Buches stößt, das er vor achtundzwanzig Jahren schrieb und dessen Klappentext ihn jetzt als "Vorreiter der postkolonialen Literatur" anpreist. Die Selbstlektüre versetzt ihn einerseits erneut in jene frühe Zeit zurück, da alles möglich schien, und gibt ihm andererseits Gelegenheit, der eigenen Geschichte, deren Faden ihm beharrlich entgleitet, provisorisch Herr zu werden. Solche Déjà-vu-Erlebnisse durchziehen den gesamten Text. Ob Willie auf seiner überstürzten Indien-Reise bei der Ankunft gleich die Panik überkommt, ganz wie es dem Reisenden in Naipauls erstem Indien-Buch "Land der Finsternis" einst erging, oder ob er sich beständig auf der Suche nach einem Zuhause fühlt, wie es auch der wackere Titelheld aus Naipauls erstem Welterfolg "Ein Haus für Mr. Biswas" war - stets ruft dieser Roman Reminiszenzen an frühere Werke seines Autors auf. So kommt es, daß man sich als neuer Leser wie im Kino fühlen muß, wenn dort das Eigentliche schon gelaufen ist. Warum also sollte man sich diese späte Filmspule überhaupt noch ansehen?

Auf diese Frage bleibt uns der Roman die Antwort schuldig. Dafür stellt er ein anderes Deutungsmuster bereit, mit dem die Episoden sich verknüpfen lassen und das er daher gleich im Titel führt. "Magische Saat" spielt auf ein Kindermärchen an, "Jack and the Beanstalk", das vormals zur Erstlektüre aller Kolonialschüler gehörte. Darin erhandelt ein Hans im Glück ein paar wunderliche Samen, aus denen über Nacht himmelhohe Bohnenranken wachsen und ihm eine Welt des Reichtums öffnen. Das Gold hütet zwar ein Riese, der mit mächtigem Geschrei - "Fee, fi, fo, fum", wie alle Kinder im Chor mitsprechen dürfen - Eindruck machen will, letztlich aber überlistet werden kann. So geht es auch Willie Chandran, wenn er sich mit List und Glück durchs Leben schlägt und immer wieder eine Bohnenranke findet, um daran hinaufzuklettern. Für den Roman indes ist solche märchenhafte Allegorisierung weitaus weniger glückbringend.

Die ungemeine Stärke dieses Autors, wie er selbst einmal erklärt hat, liegt im Grunde darin, daß er keinerlei Erfindungsgabe besitzt. Alle magische Selbstermächtigung von Erzählern, die raunend das Imperfekt beschwören und damit ganze Welten herbeizaubern, ist ihm zutiefst suspekt. Naipauls Macht liegt nicht im Erschaffen, sondern im Beobachten von Wirklichkeit, die er in makellose Sätze bannt. Doch in "Magische Saat" finden sich nur wenige Passagen, etwa die West-Berliner Episode, wo der scharfe Blick auf unscheinbare Einzelheiten plötzlich weite Horizonte freilegt. statt dessen überwiegt der Eindruck einer souveränen Collagierung aus bewährten Versatzstücken, die eher einer Fernsehserien-Dramaturgie zu folgen scheint. Gewiß mag man beispielsweise aus der neuerlichen Entlarvung von Dritte-Welt-Revolutionären als kleingeistiger Terrortruppe eine nützliche Erkenntnis ziehen, aber hier mischt sich in deren Schilderung eine Spur Häme, die das Erkenntnisinteresse schwächt. Ebenso grell und zuweilen überraschend krude gerät im zweiten Teil das Sittenbild aus dem tristen Mittelklasseleben Londons. Da läßt Naipaul die Protagonisten nicht nur ihre kindischen Vorstadtaffären ausbreiten, sondern muß zum Schluß auch noch die Ideologie des Multikulturalismus abstrafen, was so absehbar wie überflüssig ist. Strenger Hochmut war seit langem seine wirkungsvollste Maske, hier aber trägt er sie doch allzu pflichtgemäß zur Schau.

All das wäre mit Sicherheit bei der Lektüre sofort vergessen, wenn der Erzähler nur seine oft bewiesene Gestaltungskraft für komische oder überhaupt prägnante Szenen aufgeboten hätte. Davon aber macht er äußerst sparsamen Gebrauch. Statt dessen geben die Figuren ihre Ansichten in Rampenmonologen kund und tragen Wortwechsel im Spruchbandformat aus. Auch wenn also Willie Chandrans Lebensgeschichte bislang weder erschöpft noch schlüssig beendet zu sein scheint, sehnt man eine Fortsetzung in einem etwaigen dritten Band kaum mehr herbei. Selbst bei einem Riesen der Gegenwartsliteratur wie Naipaul wachsen wohl nicht alle Bohnenranken in den Himmel.

V. S. Naipaul: "Magische Saat". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Roth. Claassen Verlag, Berlin 2005. 320 S., geb., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Rezensent Tobias Döring ist enttäuscht diesem Roman V.S. Naipauls. Aus seiner Sicht hat der Nobelpreisträger hier seine Fähigkeit nicht in gewohnter Qualität entfaltet - nämlich eine genaue, sich an der Wirklichkeit wund reibende Beobachtungsgabe in makellose Sätze zu gießen. Stattdessen überwiegt der Eindruck "einer souveränen Collagierung aus bewährten Versatzstücken", die Döring einer Fernsehseriendramaturgie zu folgen scheinen. Der Roman knüpft seinen Informationen zufolge unvermittelt dort an, wo das Vorgängerbuch "Ein halbes Leben" die Geschichte seines postkolonialen Helden Willie Chandran ebenso unvermittelt abgebrochen hat. Der Rezensent bemängelt, dass es außer einem diskreten Hinweis im Klappentext keinerlei Hilfestellung gibt, diesen Zusammenhang im Blick zu behalten. Insgesamt sieht der Rezensent die Erzählung "im unentwegten Abbrechen und Abschweifen, im Vorläufigen und Unbeendeten" inszeniert. Allerdings findet er das für den Roman ebenso wenig glückbringend, wie die märchenhafte Allegorisierung der Handlung. Insgesamt ist ihm der Roman zu plakativ. Seine Figuren sieht er darin Ansichten in Rampenmonologen kund tun und Wortwechsel im Spruchbandformat austragen. Und obwohl die Geschichte des Helden auch diesmal zu keinem, für ihn schlüssigen Ende gekommen ist, sehnt der Rezensent keinen dritten Band herbei.

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