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In den gegenwärtigen Debatten der Kultur-, Medien- und Geschichtswissenschaft spielt die Wahrnehmungstheorie eine entscheidende Rolle: Sie leistet die Verbindung zwischen einer Theorie der Bildmedien und des Betrachters, zwischen einer Untersuchung der physiologischen und psychologischen Voraussetzungen und einer Kulturgeschichte der Wahrnehmung. Jonathan Crarys neues Buch gibt den Diskussionen eine überraschende Wendung, indem es den Begriff der Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt rückt. Die Aufmerksamkeit, d.h. die Art und Weise, in der wir etwas bewußt wahrnehmen, ist das Ergebnis von…mehr

Produktbeschreibung
In den gegenwärtigen Debatten der Kultur-, Medien- und Geschichtswissenschaft spielt die Wahrnehmungstheorie eine entscheidende Rolle: Sie leistet die Verbindung zwischen einer Theorie der Bildmedien und des Betrachters, zwischen einer Untersuchung der physiologischen und psychologischen Voraussetzungen und einer Kulturgeschichte der Wahrnehmung. Jonathan Crarys neues Buch gibt den Diskussionen eine überraschende Wendung, indem es den Begriff der Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt rückt. Die Aufmerksamkeit, d.h. die Art und Weise, in der wir etwas bewußt wahrnehmen, ist das Ergebnis von radikalen Veränderungen der Wahrnehmung selbst, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Hier setzt eine »Modernisierung« des Blicks ein, die mit einer Industrialisierung und massenweisen Verbreitung der visuellen Medien Hand in Hand geht. Am Beispiel von drei Malern der Moderne - Manet, Seurat und Cézanne - zeigt Jonathan Crary die entscheidenden und folgenreichen Verschiebungen des Konzeptes und des Bereiches der Wahrnehmung auf. Aufmerksamkeit entwirft eine brillante und materialreiche Archäologie der gegenwärtigen Technologien der Wahrnehmung.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2002

Leise japsen die Synapsen
Nabelfreie Aufmerksamkeit: Für Jonathan Crary ist Wahrnehmung eine Frage der Disziplin
„Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht, darum verblasst der Reichtum neben der Prominenz”, hat Georg Franck in seinem Buch über die „Ökonomie der Aufmerksamkeit” geschrieben. Zu den Einkommensmillionären in Sachen Aufmerksamkeit gehören bei ihm auch die Stars des Wissenschaftsbetriebs, all jene, die Kollegen an der richtigen Stelle zu zitieren wissen und in Danksagungen die renommierten Größen ihres Fachs umarmen. Der Trick ist ganz einfach: Durch die Einbeziehung fremder Namen ins eigene Werk werden die Einkommen der Kollegen stillschweigend und ohne irgendwelchen Zusatzaufwand geschöpft. Für Franck überragt diese erzeugende und vergütende Doppelnutzung der Aufmerksamkeit alles an Witz, was sich Organisationsplaner und Betriebsberater je ausgedacht haben.
Zur schillernden Prominenz der Wissenschaft gehört seit einigen Jahren auch der amerikanische Kunsttheoretiker Jonathan Crary, der nach seiner Studie über die „Techniken des Betrachters” in Deutschland jetzt sein zweites Buch veröffentlicht. „Aufmerksamkeit” lautet der Titel, und Crary versteht sich aufs Geschäft: In seinem Vorwort dankt er nicht etwa fünf oder zehn Personen, er weiß sich insgesamt 96 Freunden und Kollegen verbunden, die er in einer „mehr als nur summarischen Erwähnung” allesamt auflistet. „Aufmerksamkeit” beginnt also mit einem illustren Netzwerk aus Namen und Institutionen, mit einem symbolischen Geldregen für den Wissenschaftsbetrieb, bevor der Autor seinen Gegenstand in der „Spektakelkultur” des neunzehnten Jahrhunderts verortet.
Allgemeine Verunsicherung
Worum geht es? Es geht um eine Geschichte der Wahrnehmung. Zwischen 1810 und 1840 haben die vorherrschenden Diskurse und Praktiken des Sehens den Bruch mit dem klassischen Regime der Visualität vollzogen, so Crary in Anlehnung an Foucault, und die Wahrheit des Sehens statt dessen in der Materialität des Körpers gesucht. Diese Verschiebung bringt es mit sich, dass die Funktion des Sehens von seiner Ausübung durch den Betrachter abhängig und also unzuverlässig wird. Weder das Sehen noch irgendeine andere Sinneswahrnehmung kann fortan den Anspruch auf Objektivität oder Gewissheit erheben. Hermann von Helmholtz, Gustav Theodor Fechner oder Wilhelm Wundt heißen bei Crary die Gewährsleute, die die Konturen dieser allgemeinen epistemologischen Verunsicherung einige Jahre später in ihren wissenschaftlichen Arbeiten umreißen. Sie rücken dabei in den Blick, was zuvor zwar in anderen Bereichen, aber in der Wissenschaft kaum eine Rolle spielte: die Aufmerksamkeit. Warum wählt die Aufmerksamkeit gewisse Empfindungen aus und nicht andere? Wie viele Ereignisse sind der Aufmerksamkeit simultan zugänglich? Wo liegen ihre quantitativen und physiologischen Grenzen?
Fragen wie diese werden allerdings nicht nur in der Wissenschaft, sondern – jenseits der Laboratorien – auch in Arbeits- und Lebenswelt zum erheblichen Problem. Das Aufkommen der industriellen Großproduktion, die immer neuen Reizquellen und Informationen sorgen dafür, dass „Zerstreuung” überhand nimmt. Von Seiten des Kapitals wird diese „Krise der Aufmerksamkeit” als Gefahr gesehen, die mit Methoden des Managements reguliert werden muss. Crary identifiziert die Strategien sozialer Kontrolle mit jener Experimentalpsychologie der Aufmerksamkeit, wie sie in der Psychophysik zeitgleich erprobt wird. In beiden Fällen gehe es um „Projekte der Disziplinierung”. In beiden Fällen werde Aufmerksamkeit gesteuert.
Der Autor will seine Fragestellung jedoch nicht auf das Kalkül der Kontrolle reduzieren. Er geht einen Schritt weiter und blickt auf die bildende Kunst als einen Ort, an dem die historischen Diskurse der Aufmerksamkeit nicht nur durchgespielt werden, sondern ein Subjekt aufscheint, das sich den disziplinären Imperativen zu entziehen vermag. Bilder, wie Manets „Im Wintergarten”, Seurats „Parade de cirque” und Cézannes „Kiefern und Felsen” nehmen in seiner Interpretation „eine psychische, soziale und imaginäre Position” ein. Sie sind nicht einfach determiniert von den institutionellen Räumen, in denen sie entstehen.
Das alles hört sich, zugegebenermaßen, nach einer ziemlich reibungslosen Geschichte an. Um so erstaunlicher ist es, wenn Crary immer wieder darauf hinweist, dass es um eine solche gar nicht gehen soll. Seine drei Gemälde sind in ihrer disparaten Anordnung als Fallstudien gedacht, deren Verhandlung die „wechselseitige Resonanz” von Philosophie, Kunst und Wissenschaft aufzeigen soll. Der Autor verknüpft sie durch einen assoziativen Schreibstil, mit dem er auf einer einzigen Seite mühelos von den Gestaltpsychologen Köhler, Wertheimer und Ehrenfels über Ernst Mach und William James zu Seurat zurückfindet. Er macht Ausflüge zum „Attention deficit disorder” des späten 20. Jahrhunderts, fasst nebenbei Bergsons „Materie und Gedächtnis” zusammen und „ganz kurz” auch die Theorie des britischen Neurologen Charles Scott Sherrington.
Reiz von kurzer Dauer
Gegen ein solches Vorgehen ist wenig zu sagen. Allerdings konsolidiert Crary sein nicht-linear angelegtes Buch mit einer These, die in ihrer Geradlinigkeit allzu glatt erscheint. Ihm gilt die Experimentalpsychologie der Aufmerksamkeit als disziplinarische Antwort auf den nunmehr unzuverlässigen Betrachter. Das Tachistoskop etwa, jenes Instrument, mit dem visuelle Reize von extrem kurzer Dauer erzeugt und die Aufmerksamkeit auf den bestimmten Augenblick ihres Erscheinens gelenkt wird, ist Crary zufolge „Bestandteil des umfangreichen Projekts zur Rationalisierung des wahrnehmenden Menschen”.
Dass Experimentaltechniken aber nicht nur Herrschaft bedeuten, dass sie auch Störungen, Unfälle und Fehler implizieren; dass Aufmerksamkeit in Labors nicht unbedingt nur stabilisiert, sondern auch destabilisiert wurde, interessiert ihn wenig. Richtete man den Blick auf eben diese Störungen, um auch ihren „Resonanzen” in der Kunst nachzuspüren, wäre die Geschichte, die keine sein soll, um einiges komplizierter. Vielleicht ist das aber gar nicht nötig. Denn Aufmerksamkeit ist Jonathan Crary ohnehin gewiss.
JULIA ENCKE
JONATHAN CRARY: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Deutsch von Heinz Jatho. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 512 Seiten, 39,90 Euro.
Der Blick lohnt sich: Anders als ihr versonnener Kollege von der Finanz hat Herta Däubler-Gmelin die Ökonomie der Aufmerksamkeit im entscheidenden Moment im Auge.
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2002

Erobert das Unsichtbare!
Für Jonathan Crary ist Aufmerksamkeit ein Mittel zur Repression

Jonathan Crarys' Untersuchung "Techniken des Beobachters. Sehen und Moderne im neunzehnten Jahrhundert" (1990, deutsch 1996), in welcher der Kunsthistoriker an der Columbia University die Entwicklung der Sehpraxis der Moderne in einem Feld von medialen Techniken und Diskursen darstellte, ist schnell zu einer Art Bibel der kritischen Wahrnehmungsforschung geworden. Das hat sich in dem neuen Buch, in dem die Folgen der Verschiebung des Sehmodells dargestellt werden sollen, gelegentlich in einem Verkündigungston niedergeschlagen, was der Aufmerksamkeit der Gemeinde vermutlich keinen Abbruch tun wird. Der Hauptbegriff (attention) war in den Kognitionswissenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts aufgrund seiner Mehrdeutigkeit lange Zeit verpönt, in den letzten Jahren kommt er jedoch in der Hirnforschung, der kognitiven Psychologie, der Linguistik und der Informatik wieder in die Diskussion, obwohl eine anerkannte Definition fehlt. Crary macht sich das Schillernde des Begriffs freilich gerade dialektisch und suggestiv zunutze.

Reziprok zu Benjamins und Adornos Kritik der zerstreuten Rezeption erklärt er die auffällige Rolle, die Aufmerksamkeit in der Wissenschaft der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts spielte, aus der Entwicklung nachklassischer Erkenntnistheorie und Sehpraxis wie der kapitalistischen Warenproduktion und Gesellschaftsform. Aufmerksamkeit werde da zu einer Möglichkeitsbedingung der Wahrnehmung und zugleich zur Idee einer leistungsorientierten und steuerbaren Subjektivität. In einer zunehmend fragmentarisierten Kultur, in der das Vertrauen in die Fähigkeit zu synthetischer Wahrnehmung schwinde, diene, so Crary, die Betonung der Aufmerksamkeit der Aufrechterhaltung einer kohärenten Vorstellung von der Wirklichkeit, damit aber der Disziplinierung des Subjekts. Umgekehrt erhält Unaufmerksamkeit in der Mechanisierung und Spezialisierung der Arbeitsabläufe den "Charakter einer Gefahr, eines ernsten Problems".

Zu einem Fokus der Reflexion moderner Kultur wird Aufmerksamkeit in dem Moment, in dem die Idee der Gegenwärtigkeit und der Ganzheitlichkeit der Wahrnehmung getilgt wird, so daß sie nunmehr nur noch pragmatisch als "Simulation von Präsenz" fungieren kann. Medien- und kulturkritisch sieht Crary die Konstruktion und das Gebot aufmerksamer Wahrnehmung als Regulierungsstrategie moderner Gesellschaftssysteme, die Kreativität in "vorgefertigten Rhythmen, Bildern, Geschwindigkeiten und Kreisläufen" kanalisieren soll. Mit Foucault erkennt der Sehforscher daher im Aufmerksamkeitsbegriff der Wissenschaft und der Technologie des neunzehnten Jahrhunderts eine "Interiorisierung disziplinärer Imperative".

Andererseits aber sieht er in der reflektierten, auf sich selbst gerichteten ästhetischen Aufmerksamkeit ein entschleunigendes Heilmittel gegen den "Fieberwahn" des Modernisierungsprozesses - "mittels der Aufmerksamkeit kann ein individueller Betrachter diese subjektiven Grenzen überwinden und die Wahrnehmung zu seiner eigenen machen". Gegen die dynamische Logik der Kulturindustrie, die im Spektakel eine ruhige und stabile Wahrnehmung unterminiert, bietet er emphatisch die schöpferischen Zustände "von Trance, Unaufmerksamkeit, Wachtraum und Fixierung" auf, rekurriert auf eine romantisch-visionäre Tradition von William Blake bis Cézanne.

In den Hauptkapiteln zu Manets "Im Wintergarten" (1879), Seurats "Parade du cirque" (1887/88) und vor allem Cézannes "Kiefern und Felsen" (um 1900) zeigt Crary im Kontext der neuen Techniken maschineller Wahrnehmung und Simulation, wie sich die Veränderungen des Sehens in der Verfahrensweise der Malerei niederschlagen. In Manets Bildern wird im Ineins von Innen- und Außenperspektive der Traum einer neuen, modernen Unmittelbarkeit und Synthese sinnfällig. Gegen die Standardisierung der Aufmerksamkeit, die ihre Fortsetzung in den "digitalen und kybernetischen Imperativen" von heute finden wird, versucht Manet tapfer eine "Befreiung des Sehens". Seurats Werk ist bereits untrennbar mit den Konsequenzen der neuen Modelle des subjektiven Sehens, der Ablösung "des klassischen Regimes der Visualität", verbunden. Auf das physiologische Modell der "Dauer einer Lichtimpression auf der Netzhaut" reagiert er zugleich mit Anpassung und kalkulierter Subversion der "auf der Renaissance basierenden pikturalen Ordnung", die auf eine "tröstliche Verdunklung des Selbst" verzichtet. Das Kunstwerk "hält seinen Betrachter in der Schwebe zwischen der Unterwerfung unter seine empirischen Operationen und der Antizipation einer lichterfüllten Verschmelzung" des momentan Unversöhnten.

In Cézannes "Neuerfindung der Synthese" zeigen sich schließlich die Aktivitäten eines Auges, "das mit einer unmöglichen Aufmerksamkeit blicken können sollte". Damit bildet Cézannes Werk den Höhepunkt und die Auflösung des romantisch-visionären Paradigmas der Unendlichkeit des Möglichen. "Was Blake in einer figürlichen Sprache zu erreichen versuchte - eine heroische Überwindung von Schwerkraft, von Wahrnehmungszwängen und chromatischer Opazität -, das verwirklichte Cézanne in den transparenten, unmotivierten Feldern seiner späten Aquarelle und Landschaften."

Der moderne Widerspruch, daß die Idee einer unwillkürlichen Präsenz in der Kunst nur durch Aufmerksamkeit und Willkür zum Vorschein gebracht werden kann, löst sich schließlich in der Selbstreferenz: Cézannes "unermüdliche Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit selbst" führe zur "Überwindung der verwalteten Wahrnehmung der spektakulären Kultur, in welcher die Aufmerksamkeit auf alles aufmerken soll, nur nicht auf sich selbst".

Solches Vexierspiel der Aufmerksamkeit als Vermögen des Geistes, Haltung und Sehpraxis hat freilich etwas von einem Taschenspielertrick, der auf der Ablenkung der Aufmerksamkeit des Lesers beruht. Dabei macht der rückwärtsgewandte Prophet und der Kritiker der Entzauberung der Welt reichlich zirzensisch Reklame für die Neuheit des eigenen Ansatzes. Crary redet während seiner Demonstrationen gleichsam pausenlos auf den Leser ein, so daß der nur schwer dazu kommt, die Litanei von der Moderne als fortgesetzter Krise, als entscheidenden Bruch der Kontinuität und als finstere Strategie der Wahrnehmungsverordnung in Frage zu stellen. In Vereinseitigung Foucaultscher Thesen von der Überwachung im klassischen Regime läßt Crary übersehen, daß sich das romantisch-visionäre Paradigma so nicht gegen den modernen Funktionalismus ausspielen läßt.

Denn entgegen seiner Setzung gab es jedenfalls in der englischen und deutschen Diskussion des achtzehnten Jahrhunderts durchaus schon ein Bewußtsein für den verhaltensregulierenden Charakter der Aufmerksamkeit sowie das nicht zuletzt bei Goethe formulierte Gegenmodell einer auf das "Selbst und die inneren Geistesoperationen gerichteten" Haltung. Bei Novalis ist Aufmerksamkeit als ruhige Betrachtung Erfordernis des Naturfreunds, des Liebenden und des Künstlers, zugleich aber erklärt sie das Sichtbare in platonischer Tradition zur bloßen Außenseite des Unsichtbaren und der Unendlichkeit des Möglichen, die Präsenz aber zum Durchgangsstadium der Futurität und Transzendenz. In Caspar David Friedrichs Bildern wird ein solcher Blick alsbald zu sehen sein. Da ist die Paradoxie von Naturüberhöhung und Naturentwertung längst aufgebrochen. Auch diese Tradition partizipierte von vornherein als "Eroberung des Unsichtbaren" am modernen Machbarkeitswahn der Herstellbarkeit aller Phänomene.

Daß Crary am Ende, vermittelt durch einen Brief Sigmund Freuds aus Rom, ein Anderes gegenüber der modernen Verblendung als Spektakel der "Konvivialität" gerade dort findet, wo es Goethe und die deutschen Künstler des späten achtzehnten Jahrhunderts auch schon suchten, nämlich auf einer Piazza der Ewigen Stadt, gibt dieser mit allen postmodernen medientheoretischen und kulturkritischen Wassern gewaschenen, wunderbar suggestiv illustrierten und auch in ihrer Fragwürdigkeit bewundernswerten Darstellung einen sympathischen Zug von Unzeitgemäßheit.

FRIEDMAR APEL

Jonathan Crary: "Aufmerksamkeit". Wahrnehmung und moderne Kultur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 408 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Zum Thema Aufmerksamkeit - den "Schlüssel zum Ausgang aus der unverschuldeten Ungewissheit" nennt Elisabeth von Thadden sie - sind jede Menge Bücher erschienen. Eines davon, Jonathan Crarys Grundlagen-Studie "Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur", hält die Rezensentin für besonders erwähnenswert. Methodisch ausgreifend und profund, schreibt sie, ergründet diese Kulturgeschichte der Wahrnehmung die Rolle der Aufmerksamkeit bei der Entstehung der modernen Subjektivität und wandert durch die Wissenschaften vom Gehirn, von der Psyche und durch Theorien der Massenkultur. Wahrnehmung in der Wechselbeziehung mit Modernisierung, als historisches Phänomen - der Autor illustriert diese Sicht anhand von Kunstwerken, diagnostiziert die Wahrnehmungskrise gegen Ende des 19. Jahrhunderts und analysiert die Reaktionen der Zeitgenossen. Sinnvoll findet Thadden auch den Blick auf die "andere Seite": Indem der Autor die Vorgänge der Wahrnehmung beschreibt, gelingt es ihm zu zeigen, "wie verlockend es ist, sich dieser Techniken zur Erzeugung von Aufmerksamkeit zu bedienen". Dass bei Crary die Psychoanalyse als Technik der Aufmerksamkeit das letzte Wort hat, irritiert Thadden allerdings ein wenig, "wenn man heute die neurologische Besetzung des Problems gewohnt ist".

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