Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.05.2002Wie die Träume der Revolution wohl zu deuten wären
Der Grausamkeitstrieb hat kein Gegenteil: Jacques Derrida verkündet das „künftige psychoanalytische Denken”
Mit der Einberufung der Generalstände dürfte, zumindest in Frankreich, jedes Schulkind den Auftakt zur Revolution, zur Enthauptung des Königs und zu Diktatur und Terror des Wohlfahrtsausschusses verbinden. Hundert Jahre nach Erscheinen von Freuds „Traumdeutung” in der revolutionären Hauptstadt zu „Generalständen der Psychoanalyse” einzuladen darf und sollte daher wohl auch, von der Wortspielerei abgesehen, als politischer Akt verstanden werden. Damals, am 10. Juli 2000, griff der als Gastredner geladene Jacques Derrida Titel und Thema der Veranstaltung in einem Grußwort auf, das sich jetzt auch in deutscher Sprache nachlesen lässt.
War die Einberufung von „Generalständen” zunächst ein usurpatorischer Akt im zersplitterten Reich der Psychoanalyse, in das die zerstrittenen berufsständischen Vereinigungen sich teilen, so erzeugte die revolutionäre Inszenierung einen politischen Überschuss, auf den hin Derrida die Situation beleuchtet. In seiner hintergründigen Rede ruft er die Psychoanalyse dazu auf, sich um ihren eigensten Themenbereich zu kümmern und zugleich politisch zu werden. Die Rede ist also nicht nur eine erneute Reflexion über die Psychoanalyse, von der sein Denken durchdrungen ist, sondern er schließt damit auch an die Reihe seiner politischen Überlegungen an, am dichtesten wohl an die Benjamin-Lektüre in „Gesetzeskraft”. Waren es dort Gewalt und Recht, so werden jetzt Grausamkeit und Souveränität einander gegenübergestellt. In der Grausamkeit, dem leiden machen oder leiden lassen ohne Zweck, erblickt Derrida das eigenste der Psychoanalyse und das Thema, das einen unmittelbaren Bezug auf das Politische hat. Im Umkreis dieses Begriffes werde Freuds Argumentation stets „am stärksten politisch und in ihrer Logik am strengsten psychoanalytisch”.
Dafür dann die Todesstrafe
Während es Sache der Politik wäre, die Grausamkeit einzudämmen, ihr im Namen von Frieden oder Sicherheit nach Hobbes’ Modell die souveräne Herrschaft entgegenzustellen, so weist Derrida der Psychoanalyse die Aufgabe zu, ausgehend von den Gegebenheiten des Psychischen „die Axiome des Ethischen, Rechtlichen und Politischen zu denken, in sie einzudringen und sie zu verändern”. Die ihr von Derrida zugedachte Rolle eines trojanischen Pferdes der Dekonstruktion hat die Psychoanalyse allerdings bislang noch nicht übernehmen wollen, die genannten metaphysischen Axiome sind von ihr „noch gar nicht berührt, geschweige denn ,dekonstruiert‘ worden”.
Derrida zeigt an einer Lektüre des Briefwechsels zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein aus den Jahren 1931 und 1932, der unter dem Titel „Warum Krieg?” veröffentlicht wurde, welche dekonstruktiven Ressourcen in der Geschichte der Psychoanalyse noch ungenutzt sind. Ist es möglich, der Grausamkeit Ethik, Recht oder Politik einfach entgegenzusetzen, oder geht es nicht vielmehr, in der Paraphrase eines Freud-Briefes, „um die unlösbare Verbindung dieser Grausamkeit mit der Souveränität des Staates, mit der Staatsgewalt und mit dem Staat, der die Gewalt, statt sie zu bekämpfen, monopolisiert”? Ist das Festhalten an Einrichtungen wie der Todesstrafe – Derrida nennt die USA – nicht ein Beleg für diese untergründige Allianz?
Derridas – wie Freuds – Antwort ist illusionslos: der Grausamkeitstrieb ist „irreduzibel”, er hat „kein Gegenteil”. Die institutionelle Absicherung des menschlichen Zusammenlebens ist nur über Umwege zu erreichen: „Kultiviert werden muss eine differentielle Transaktion, eine Ökonomie des Umwegs und des Aufschubs (différance), eine Strategie der indirekten Fortbewegung: ein indirekter, stets indirekter Weg, den Grausamkeitstrieb zu bekämpfen.” Diese Einsicht heißt er einen „ernüchternden Rationalismus” und eine „neue Aufklärung für unsere Zeit”.
Allerdings bleibt Derrida nicht bei diesem desillusionierenden und für die habitués der Dekonstruktion wohl auch etwas banalen Befund stehen. Wenn der Grausamkeitstrieb schon kein Gegenteil hat, so doch ein doppelt jenseitiges Jenseits: zum einen agiert die Psychoanalyse jenseits von Gut und Böse, sie enthält sich der ethischen Wertung „guter” oder „schlechter” Strebungen; zum anderen positioniert sie sich jenseits der Opposition von Eros und Thanatos, also an einem Ort, der noch hinter dem Jenseits des Lustprinzips liegt.
Diese „gewisse Erfahrung des Unentscheidbaren” qualifiziert die Psychoanalyse in Derridas Augen für ihre dekonstruktive Aufgabe, er nennt sie ihre „Seelenstände” – in der wörtlichen Übersetzung von „états d’âme” etwa ihre „Gemütsverfassungen”. Vielleicht ist das auch die sehr höfliche Andeutung eines Redners, der sein Gastrecht nicht missbrauchen möchte, um die Notwendigkeit einer „Revolution der psychoanalytischen Vernunft” anzukündigen, die sich wohl von ganz alleine ergeben würde, kümmerte sich die Psychoanalyse nur mehr um ihre eigene Verfassung.
Denn mit der Erfahrung des Unentscheidbaren wird der Psychoanalyse ein besonderer und exklusiver Bezug zu einem „Unbedingten ohne Souveränität und damit ohne Grausamkeit” unterstellt, für das Derrida andernorts die Namen der Gabe, der Gastfreundschaft oder der Verzeihung bereithält. Das von ihm verkündete „künftige psychoanalytische Denken” hat die Gestalt dieses Unmöglichen, es ist „unbedingtes Kommen des Anderen”.
Wussten die Zeitgenossen der Französischen Revolution schon sehr bald, dass mit der Einberufung der Generalstände die Geburtsstunde des souveränen Volkes geschlagen hatte, so bleiben für den Leser Derridas Fragen offen: Hat die Revolution schon stattgefunden, oder steht sie noch aus? Werden die Generalstände, die sich „dem Besuch eines Fremden” ausgesetzt haben, dieses Gastgeschenk angenommen haben?
SONJA ASAL
JACQUES DERRIDA: Seelenstände der Psychoanalyse. Deutsch von Hans-Dieter Gondek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 2002. 104 Seiten, 14,90 Euro.
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Der Grausamkeitstrieb hat kein Gegenteil: Jacques Derrida verkündet das „künftige psychoanalytische Denken”
Mit der Einberufung der Generalstände dürfte, zumindest in Frankreich, jedes Schulkind den Auftakt zur Revolution, zur Enthauptung des Königs und zu Diktatur und Terror des Wohlfahrtsausschusses verbinden. Hundert Jahre nach Erscheinen von Freuds „Traumdeutung” in der revolutionären Hauptstadt zu „Generalständen der Psychoanalyse” einzuladen darf und sollte daher wohl auch, von der Wortspielerei abgesehen, als politischer Akt verstanden werden. Damals, am 10. Juli 2000, griff der als Gastredner geladene Jacques Derrida Titel und Thema der Veranstaltung in einem Grußwort auf, das sich jetzt auch in deutscher Sprache nachlesen lässt.
War die Einberufung von „Generalständen” zunächst ein usurpatorischer Akt im zersplitterten Reich der Psychoanalyse, in das die zerstrittenen berufsständischen Vereinigungen sich teilen, so erzeugte die revolutionäre Inszenierung einen politischen Überschuss, auf den hin Derrida die Situation beleuchtet. In seiner hintergründigen Rede ruft er die Psychoanalyse dazu auf, sich um ihren eigensten Themenbereich zu kümmern und zugleich politisch zu werden. Die Rede ist also nicht nur eine erneute Reflexion über die Psychoanalyse, von der sein Denken durchdrungen ist, sondern er schließt damit auch an die Reihe seiner politischen Überlegungen an, am dichtesten wohl an die Benjamin-Lektüre in „Gesetzeskraft”. Waren es dort Gewalt und Recht, so werden jetzt Grausamkeit und Souveränität einander gegenübergestellt. In der Grausamkeit, dem leiden machen oder leiden lassen ohne Zweck, erblickt Derrida das eigenste der Psychoanalyse und das Thema, das einen unmittelbaren Bezug auf das Politische hat. Im Umkreis dieses Begriffes werde Freuds Argumentation stets „am stärksten politisch und in ihrer Logik am strengsten psychoanalytisch”.
Dafür dann die Todesstrafe
Während es Sache der Politik wäre, die Grausamkeit einzudämmen, ihr im Namen von Frieden oder Sicherheit nach Hobbes’ Modell die souveräne Herrschaft entgegenzustellen, so weist Derrida der Psychoanalyse die Aufgabe zu, ausgehend von den Gegebenheiten des Psychischen „die Axiome des Ethischen, Rechtlichen und Politischen zu denken, in sie einzudringen und sie zu verändern”. Die ihr von Derrida zugedachte Rolle eines trojanischen Pferdes der Dekonstruktion hat die Psychoanalyse allerdings bislang noch nicht übernehmen wollen, die genannten metaphysischen Axiome sind von ihr „noch gar nicht berührt, geschweige denn ,dekonstruiert‘ worden”.
Derrida zeigt an einer Lektüre des Briefwechsels zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein aus den Jahren 1931 und 1932, der unter dem Titel „Warum Krieg?” veröffentlicht wurde, welche dekonstruktiven Ressourcen in der Geschichte der Psychoanalyse noch ungenutzt sind. Ist es möglich, der Grausamkeit Ethik, Recht oder Politik einfach entgegenzusetzen, oder geht es nicht vielmehr, in der Paraphrase eines Freud-Briefes, „um die unlösbare Verbindung dieser Grausamkeit mit der Souveränität des Staates, mit der Staatsgewalt und mit dem Staat, der die Gewalt, statt sie zu bekämpfen, monopolisiert”? Ist das Festhalten an Einrichtungen wie der Todesstrafe – Derrida nennt die USA – nicht ein Beleg für diese untergründige Allianz?
Derridas – wie Freuds – Antwort ist illusionslos: der Grausamkeitstrieb ist „irreduzibel”, er hat „kein Gegenteil”. Die institutionelle Absicherung des menschlichen Zusammenlebens ist nur über Umwege zu erreichen: „Kultiviert werden muss eine differentielle Transaktion, eine Ökonomie des Umwegs und des Aufschubs (différance), eine Strategie der indirekten Fortbewegung: ein indirekter, stets indirekter Weg, den Grausamkeitstrieb zu bekämpfen.” Diese Einsicht heißt er einen „ernüchternden Rationalismus” und eine „neue Aufklärung für unsere Zeit”.
Allerdings bleibt Derrida nicht bei diesem desillusionierenden und für die habitués der Dekonstruktion wohl auch etwas banalen Befund stehen. Wenn der Grausamkeitstrieb schon kein Gegenteil hat, so doch ein doppelt jenseitiges Jenseits: zum einen agiert die Psychoanalyse jenseits von Gut und Böse, sie enthält sich der ethischen Wertung „guter” oder „schlechter” Strebungen; zum anderen positioniert sie sich jenseits der Opposition von Eros und Thanatos, also an einem Ort, der noch hinter dem Jenseits des Lustprinzips liegt.
Diese „gewisse Erfahrung des Unentscheidbaren” qualifiziert die Psychoanalyse in Derridas Augen für ihre dekonstruktive Aufgabe, er nennt sie ihre „Seelenstände” – in der wörtlichen Übersetzung von „états d’âme” etwa ihre „Gemütsverfassungen”. Vielleicht ist das auch die sehr höfliche Andeutung eines Redners, der sein Gastrecht nicht missbrauchen möchte, um die Notwendigkeit einer „Revolution der psychoanalytischen Vernunft” anzukündigen, die sich wohl von ganz alleine ergeben würde, kümmerte sich die Psychoanalyse nur mehr um ihre eigene Verfassung.
Denn mit der Erfahrung des Unentscheidbaren wird der Psychoanalyse ein besonderer und exklusiver Bezug zu einem „Unbedingten ohne Souveränität und damit ohne Grausamkeit” unterstellt, für das Derrida andernorts die Namen der Gabe, der Gastfreundschaft oder der Verzeihung bereithält. Das von ihm verkündete „künftige psychoanalytische Denken” hat die Gestalt dieses Unmöglichen, es ist „unbedingtes Kommen des Anderen”.
Wussten die Zeitgenossen der Französischen Revolution schon sehr bald, dass mit der Einberufung der Generalstände die Geburtsstunde des souveränen Volkes geschlagen hatte, so bleiben für den Leser Derridas Fragen offen: Hat die Revolution schon stattgefunden, oder steht sie noch aus? Werden die Generalstände, die sich „dem Besuch eines Fremden” ausgesetzt haben, dieses Gastgeschenk angenommen haben?
SONJA ASAL
JACQUES DERRIDA: Seelenstände der Psychoanalyse. Deutsch von Hans-Dieter Gondek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 2002. 104 Seiten, 14,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Als heilsam empfindet Elke Bruens diesen aus dem Sommer 2000 stammenden Appell Derridas an die Generalstände der Psychoanalyse, "sich selbst politisch zu denken". Derridas auf Freud zurückgehenden Ratschlag, den Todestrieb, anstatt ihn zu verurteilen, "umzuleiten und in ein System differenzieller Zwischenglieder und Bezugsgrößen einzubinden", hält Bruens nicht nur für ungewohnt klar vorgetragen, sondern auch für erstaunlich aktuell, wenn es um das Doppelmotiv von Souveränität und Grausamkeit am Beispiel der USA geht. Würde hier nicht der Meister der Dekonstruktion sprechen, meint sie, würde das, was hier gesagt wird, heute unter das Verdikt des Antiamerikanismus fallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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