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In den sechziger Jahren erlebt die Bundesrepublik ihren bis dahin radikalsten Wandel: Traditionelle Werte verlieren ihre Überzeugungskraft, die bürgerliche Kleinfamilie gilt vielen als Zwang, Studenten tragen ihren Protest aus den Universitäten auf die Straße, die erste Generation der RAF formiert sich. Als Gerichtsreporter der »Zeit« ist Uwe Nettelbeck mittendrin. Er berichtet von alltäglichen Schicksalen, aber auch über einige der spektakulärsten Strafsachen der Nachkriegszeit, etwa den Prozess gegen den »Kirmesmörder« Jürgen Bartsch oder den Frankfurter Brandstifterprozess gegen Andreas…mehr

Produktbeschreibung
In den sechziger Jahren erlebt die Bundesrepublik ihren bis dahin radikalsten Wandel: Traditionelle Werte verlieren ihre Überzeugungskraft, die bürgerliche Kleinfamilie gilt vielen als Zwang, Studenten tragen ihren Protest aus den Universitäten auf die Straße, die erste Generation der RAF formiert sich. Als Gerichtsreporter der »Zeit« ist Uwe Nettelbeck mittendrin. Er berichtet von alltäglichen Schicksalen, aber auch über einige der spektakulärsten Strafsachen der Nachkriegszeit, etwa den Prozess gegen den »Kirmesmörder« Jürgen Bartsch oder den Frankfurter Brandstifterprozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und andere. Nach fast fünfzig Jahren versammelt dieser Band erstmals die Gerichtsreportagen, die Nettelbeck zu einem der bekanntesten Journalisten des Landes machten. Bis heute gehören sie zu den besten Artikeln, die je in deutschen Zeitungen veröffentlicht wurden. Nettelbeck schreibt verständlich, stets getrieben von dem Wunsch, die Motive, die Umstände und die Geschehnisse zu begreifen und sie dem Leser begreiflich zu machen. So entsteht ein einzigartiges Panorama jener bewegten Zeit. Doch seine meisterhaften Texte sind mehr als nur Zeugnisse: Immer stellt er sich auf die Seite der Opfer von Justiz, Politik und Gesellschaft. Wo andere überreden wollen, fordert er vom Leser, Partei zu ergreifen.
Autorenporträt
Nettelbeck, UweUwe Nettelbeck (1940-2007) war Journalist, Schriftsteller und Musikproduzent. Er arbeitete unter anderem als Gerichtsreporter und Filmkritiker für DIE ZEIT, bevor er 1969 stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift konkret wurde. Zwischen 1970 und 1975 produzierte Nettelbeck die Krautrockband Faust. Von 1976 bis zu seinem Tod gab er, gemeinsam mit seiner Frau Petra Nettelbeck, die Zeitschrift Die Republik heraus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2015

Im Zweifel lieber gegen den Richter
Theo Sommer wird's nicht freuen: Nach fast fünfzig Jahren erscheinen Uwe Nettelbecks polemische Gerichtsreportagen

Wer kennt heute noch Uwe Nettelbeck? Die Jüngeren gewiss nicht mehr. Und die Älteren? Allenfalls die mit einem gewissen Hang zum Linksintellektualismus. Zur Erinnerung: Nettelbeck war Journalist. Schon mit Anfang zwanzig begann er in den frühen sechziger Jahren als Redakteur im Feuilleton der "Zeit". Er war der Typ des Senkrechtstarters. Seine Filmkritiken gelten bis heute als legendär. Zwischen 1967 und 1969 verfasste er überdies Gerichtsberichte. Die "Zeit" verließ er nach einem Streit mit Theo Sommer, dem späteren Chefredakteur, Herausgeber und zuletzt "Editor-at-Large" des Blattes. Danach war Nettelbeck kurzzeitig stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift "konkret". Schon nach einem halben Jahr setzte ihn allerdings auch deren Herausgeber, Klaus Rainer Röhl, vor die Tür.

Nettelbeck ging ins Musikgeschäft. Er wurde zum Spiritus Rector der Krautrock-Band "Faust". Als er genug von der Musik hatte, gründete er 1976 die Zeitschrift "Die Republik". Sie verstand sich als eine Art Remake der legendären "Fackel" von Karl Kraus. Nettelbeck starb Anfang 2007. Im Jahr darauf stellte "Die Republik" ihr Erscheinen ein.

Nettelbecks Gerichtsberichte - genau elf an der Zahl - sind nun als kleiner Sammelband erschienen, herausgegeben von Nettelbecks Witwe Petra. Ob das Büchlein nottut, knapp ein halbes Jahrhundert nach erstmaligem Erscheinen der Stücke, darf man schon mal fragen. Wer sich freilich zur Lektüre aufrafft, wird die Sammlung nicht mehr aus der Hand legen. Man übertreibt nicht, wenn man Nettelbecks Reportagen eine einzigartige Melange aus sprachlicher Brillanz, teils erschreckender Sachlichkeit und teils wilder Polemik nennt. Kein Zweifel: Wer so schreiben kann, verdient es, in Erinnerung zu bleiben.

Da ist etwa der Frankfurter Kindsmord-Prozess gegen Ursula Kablau, eine schlichte, um nicht zu sagen "nahezu schwachsinnige und völlig wehrlose Frau", deren Schicksal in einem Räderwerk von unzureichenden Ermittlungsarbeiten, seltsamen Verhörmethoden und der "Amateur-Psychologie" eines Vorsitzenden Richters beinahe zermahlen wird. Da ist der Fall des Sexualstraftäters Jürgen Bartsch, der für Nettelbeck zum Skandal wird, weil keiner der psychiatrischen Gutachter des "sadistischen Intelligenzverbrechers" auf einer klinischen Exploration Jürgen Bartschs bestand: "Alle drei fügten sich, als beflissene Diener des Gerichts mehr denn als Wissenschaftler, dem Wuppertaler Staatsanwalt, der vor den unübersehbaren Risiken der (zur Exploration notwendigen) Überführung nach Köln warnte".

Und da sind vor allem die Berichte über den Frankfurter Brandstiftungsprozess gegen Gudrun Ensslin und Andreas Baader sowie das Verfahren wegen Aufruhr und Landfriedensbruch gegen den Theologiestudenten Christian Boblenz. Auf verstörende Art und Weise handeln sie vom Zusammenstoß einer autoritären Justiz mit einer antiautoritären Protestbewegung. Gewiss wirken Nettelbecks Berichte für uns Heutige etwas aus der Zeit gefallen. In der Epoche des Gender-Mainstreaming und der Political Correctness verzeiht man einige seiner Sentenzen zu Frauen und Bürgern mit Migrationshintergrund vermutlich nicht einmal mehr einem Linken.

Überdies: In den sechziger Jahren konnte man noch mit gutem Recht beklagen, dass die Justiz von Protagonisten gelenkt wurde, die schon zu NS-Zeiten "Recht" gesprochen hatten und von vordemokratischen Denkweisen geprägt waren. Heute kann von einer solchen Justiz nicht mehr die Rede sein. Gleichwohl ist das Richten bis in unsere Tage eine zweischneidige Sache geblieben. Noch immer präsentieren sich Strafverfolgung und Strafjustiz nicht selten als ein Biotop aus Ermittlungspannen (NSU), Übereifer (Wulff), Indiskretion (Edathy), zweifelhaften Gutachten (Mollath), Dealerei (Ecclestone) und seltsamer Nachsicht (Hoeneß). Da wäre etwas mehr Nettelbeck ab und an durchaus am Platze.

Nettelbecks unverkennbare Sympathie mit den politischen Facetten des Frankfurter Brandstifter- und des Boblenz-Falles war eine Provokation. Immerhin hatte Nettelbeck einen Richter schlicht der Rechtsbeugung bezichtigt. Theo Sommer, damals stellvertretender Chefredakteur der "Zeit", reagierte prompt: "Hätte ich den Artikel vor der Drucklegung gesehen, so hätte ich gewiss alles aufgeboten, um sein Erscheinen in dieser Form zu verhindern. Auch habe ich mir vorgenommen, zukünftige Gerichtsberichte aus Ihrer Feder sehr genau im Manuskript zu betrachten."

Für Nettelbeck war das die Kriegserklärung. Er räumte das Feld. Bald darauf konnte man in "konkret" aus seiner Feder folgende Sätze lesen: "Mein Entschluss, nicht länger dazu beizutragen, dass die Zeit manchmal anders aussieht, als sie ist, ... war auch eine Reaktion auf die Aufforderung, meine Artikel einem Redakteur vom Schlage Theo Sommers zu einer genauen Betrachtung im Manuskript zu überlassen. ... Ich halte es für besser, Theo Sommer liest meine Artikel auch in Zukunft erst dann, wenn sie erschienen sind." Gerichtsreportagen aus der Feder von Uwe Nettelbeck sind allerdings nie mehr erschienen.

Und als Theo Sommer vom Amtsgericht Hamburg wegen schwerer vorsätzlicher Steuerhinterziehung in mehreren Fällen zu einem Jahr und sieben Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde, da war Nettelbeck fast auf den Tag genau schon sieben Jahre tot.

PETER RAWERT.

Uwe Nettelbeck: "Prozesse". Gerichtsberichte 1967-1969. Hrsg. von Petra Nettelbeck. Mit einem Nachwort von Henrik Ghanaat. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 188 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.04.2015

Mörder
und andere Menschen
Uwe Nettelbecks grandiose Gerichtsreportagen
Nirgendwo sonst auf der Welt erlebt man das Unglück, die Verzweiflung und den Zweifel so konzentriert und so kalt gepresst wie im Gerichtssaal. Nirgendwo sonst ist die Bühne des Schicksals so fahl ausgeleuchtet wie in der Großen Strafkammer. Dort, wo Mord und Totschlag verhandelt werden, erfährt man die Brüchigkeit menschlicher Existenz. Oft bekommt dort das Wort „Kapitaldelikt“ einen ganz besonderen Sinn, weil es um Situationen geht, in denen das Menschliche kapituliert hat – nicht selten schon lange vor der Tat.
  Im Strafprozess werden Straftaten ausgemessen mit den Paragrafen des Strafgesetzbuchs. Die Richter machen das bisweilen sehr penibel, bisweilen recht schlampig. Oft zeigt sich, dass diese Paragrafen keine sehr guten Maßstäbe sind, dass es aber keine besseren gibt. Oft reichen sie nicht weit, sie taugen nicht, um die Abgründe des Alltags auszumessen; aber für ein Urteil reichen sie immer.
  „Das Strafgesetz ist nicht für einen, sondern für alle da. Nur trifft es eben immer einen Menschen, der keinem anderen gleicht, und richtet es stets über einen Fall, der ohne Beispiel ist.“ Uwe Nettelbeck schreibt das am Ende seines Textes über den Fall des Malergesellen Eckart Mellentin, der zum Doppelmörder wurde. Es sind dies die letzten zwei Sätze dieses Berichts, der so beginnt: „Am Abend des 6. Oktober 1965 tötete der damals vierundzwanzigjährige Malergeselle aus Hamburg-Eppendorf, daran ist nicht mehr zu zweifeln, in seinem Mercedes 190 seine dreiunddreißigjährige Geliebte, die Redressiererin und spätere Sekretärin Ingrid Griebau, und den acht Monate alten Thorsten, ihr gemeinsames Kind.“ Zwischen diesem dürren ersten Satz und den zitierten zwei letzten Sätzen entfaltet Nettelbeck die menschliche Tragödie – das Drama eines jungen, fleißigen Mannes, der zwischen zwei Frauen steht, sich für eine entscheiden musste.
  Aber dieser Eckart Mellentin hat es nicht versucht, die Fäden zu entwirren in einer für ihn unerträglichen Situation. Der Gerichtsreporter schreibt: „Er wehrte sich, aber so radikal und unbeholfen auch, wie sich nur Menschen wehren, denen der Verstand nicht gegeben ist, den der Mensch so nötig braucht, um zwischen Erdulden und Raserei den Weg zu finden.“
  Dieser Satz zeigt die Meisterschaft des Gerichtsreporters Uwe Nettelbeck. Er schreibt Texte, die dort anfangen, wo die heute so populären, kalten Kriminalgeschichten des Schriftstellers und Strafverteidigers Ferdinand von Schirach aufhören. Es sind Texte, die versuchen, in die Abgründe zu schauen, Erklärungen zu finden. Aber Nettelbeck weiß auch: Alle Erklärungen erklären das eine nicht – die Unwiderruflichkeit des Mords. Uwe Nettelbeck ist 2007 im Alter von 67 Jahren gestorben. Das vorliegende Buch sammelt seine Gerichtsberichte, die in den Jahren 1967 bis 1969 erschienen sind.
  Was rechtfertigt die Publikation von jahrzehntealten Artikeln? Wer nur die erste Reportage gelesen hat, die vom Schicksal des Mörders Mellentin handelt, der fragt nicht mehr – der liest weiter, immer weiter, gefesselt von der Meisterschaft des Gerichtsreporters; man liest den Text über den Prozess gegen den „Kirmesmörder“ Jürgen Bartsch und den Text zum Frankfurter Kaufhausbrandprozess gegen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, man liest über Prozesse, die immer noch zu den spektakulärsten der Nachkriegszeit zählen und über solche Prozesse, die längst vergessen sind. Man liest Texte, die sich manchmal verlieren in den Details und in eher spinösen Überlegungen – die aber immer zum Besten gehörten, was je auf dem Gebiet der Gerichtsreportage in deutscher Sprache erschienen ist.
  Die gute Gerichtsreportage ist kein angeschärfter Polizeibericht, keine publizistische Kanonade gegen den Angeklagten. Sie ist ein Sozialreport aus dem Gerichtssaal. Nettelbeck hält es mit Paul Schlesinger (Sling), dem in der Weimarer Zeit berühmten Reporter der Vossischen Zeitung. Er steht auf der Seite der Angeklagten, ohne sich mit ihnen gemein zu machen, er gibt ihrer Stummheit eine Sprache, er beschreibt, erschreckt und verstört, den Weg, den sie bis zur Tat genommen haben. Nettelbeck ist kein Mörderversteher, er ist ein Menschenversteher. Das macht aus seinen Artikeln journalistische Kunstwerke.
  Nettelbeck war knapp dreißig Jahre alt, als er diese Gerichtsreportagen geschrieben hat. Er war ein Frühbegabter; sein Aufstieg in den Himmel des Journalismus war kometenhaft; Gerhard Mauz vom Spiegel brachte ihn dazu, Gerichtsberichte zu schreiben. Es wurden nicht sehr viele - denn Nettelbeck geriet bald in Konflikt mit seinem Chef Theo Sommer, der damals stellvertretender Chefredakteur der Zeit war, und dem es gar nicht gefiel, wie sein junger Gerichtsreporter die Justiz als Klassenjustiz beschrieb und sich über den Justizapparat und dessen bisweilen aggressive Tumbheit empörte. Das kulminierte in seinem Text über den Frankfurter Kaufhausbrand-Prozess, den er als „Inszenierung“ bezeichnete, mit der „sich die herrschende Ordnung gegen den Versuch verteidigt, sie abzuschaffen“.
  Im Henrik Ghanaats glänzendem Nachwort zum Buch erfährt man, wie es zum Ende des Gerichtreporters Nettelbeck kam: Theo Sommer hatte Nettelbeck nach einem Bericht über die Verurteilung des demonstrierenden Theologie-Studenten Christian Boblenz vorgeworfen, er habe „stupide APO-Floskeln“ hergebetet, Gerichtsberichte aus seiner Feder werde er künftig „sehr genau im Manuskript betrachten“. Nettelbeck kündigte sofort, zog sich dann in die Lüneburger Heide und später in ein französisches Dorf zurück, wurde Produzent der Krautrock-Gruppe Faust; der Schriftsteller Nettelbeck publizierte dann, weit abseits vom Mainstream, wunderbare und wunderliche Texte – unter anderem in seiner unregelmäßig, aber zweimal im Jahr erscheinenden Zeitschrift Die Republik, in der er es sich im Impressum vorbehielt, Abonnenten das Abonnement zu verweigern. Das Buch mit seinen Gerichtsberichten setzt ihm nun ein Denkmal.
HERIBERT PRANTL
Uwe Nettelbeck: Prozesse. Gerichtsberichte 1967 – 1969. Hrsg. von Petra Nettelbeck. Suhrkamp Verlag, 2015. 188 S., 19,95 Euro.
Nettelbeck empörte sich über
den Justizapparat und seine
bisweilen aggressive Tumbheit
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Lektüre für Linksintellektuelle hat Rezensent Peter Rawert zu annoncieren. Uwe Nettelbecks elf Gerichtsberichte aus seiner Zeit bei der Wochenzeitung "Die Zeit" stoßen beim Rezensenten zwar zunächst durchaus auf leichten Widerwillen und die Frage, wozu eine erneute Veröffentlichung nach fünfzig Jahren gut sein soll, doch die Skepsis weicht rasch großer Freude. Durch sprachliche Brillanz, Sachlichkeit und scharfe Polemik zeichnen sich die Texte laut Rawert aus. Und wenn der Autor den Frankfurter Brandstiftungsprozess gegen Ensslin/Bader dokumentiert, so wirkt das zwar leicht aus der Zeit gefallen, wie Rawert erklärt, und nicht immer p.c., doch als Kritik an einer autoritären Justiz durchaus noch immer frisch, wie er versichert.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Walter Benjamins Ideal einer 'analytischen Deskription' erfüllte sich in Nettelbecks besten Texten.«
Peter von Becker, Der Tagesspiegel