14,80 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
  • Broschiertes Buch

An einem ihrer letzten Berliner Tage besteigt Gertrud Kolmar im Morgengrauen die Siegessäule, um zu springen, um Schluß zu machen, selbstbestimmt, wenn auch nicht aus freien Stücken - bevor sie von der Fabrikarbeit weggeholt und ins Vernichtungslager transportiert wird. Schließlich steigt sie wieder herunter. Sie hat beschlossen, durchzuhalten bis zum letzten Augenblick, und sei es nur, "um ein Dreck zu werden unter euren Stiefeln, Mörderbande, der euch noch tausend Jahr lang an den Sohlen kleben soll".

Produktbeschreibung
An einem ihrer letzten Berliner Tage besteigt Gertrud Kolmar im Morgengrauen die Siegessäule, um zu springen, um Schluß zu machen, selbstbestimmt, wenn auch nicht aus freien Stücken - bevor sie von der Fabrikarbeit weggeholt und ins Vernichtungslager transportiert wird. Schließlich steigt sie wieder herunter. Sie hat beschlossen, durchzuhalten bis zum letzten Augenblick, und sei es nur, "um ein Dreck zu werden unter euren Stiefeln, Mörderbande, der euch noch tausend Jahr lang an den Sohlen kleben soll".
Autorenporträt
Reinshagen, GerlindGerlind Reinshagen wurde am 4. Mai 1926 in Königsberg geboren. Nach ihrem Abitur in Halberstadt und einer anschließenden Apothekerlehre studierte sie von 1946 bis 1949 Pharmazie in Braunschweig. 1953 begann sie ein Studium an der Hochschule der Künste in Berlin, das sie 1956 beendete. Seitdem war sie freie Schriftstellerin und veröffentlichte zahlreiche Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Zuletzt lebte sie in Berlin und war Mitglied des PEN-Zentrums und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Gerlind Reinshagen ist am 8. Juni 2019 in Berlin verstorben.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.04.2008

Dass ihr ausrutscht auf mir
Gerlind Reinshagens Langgedicht über Gertrud Kolmar
„Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen, / Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,/ Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.” So heißt es in Gertrud Kolmars Gedicht „Die Fahrende” aus den zwanziger Jahren, durchaus mit prophetischer Weitsicht. Zwar galt die deutsch-jüdische Lyrikerin Kolmar lange als große Stimme des Jahrhunderts, gleich neben Annette von Droste-Hülshoff oder Else Lasker-Schüler, bekannt war sie allerdings kaum. Es dauerte nach ihrem Tod in Auschwitz sechzig Jahre, dass ihr Werk 2003 erstmals angemessen in einer Gesamtausgabe zugänglich gemacht, der Sand ihrer Gedichte mithin neu aufgeschüttet wurde.
Eingerieselt ist er nun auch in das Werk der mittlerweile einundachtzigjährigen Autorin und Dramatikerin Gerlind Reinshagen. Der schmale Band „Die Frau und die Stadt” ist ein Langgedicht, ein fiktiver Monolog Gertrud Kolmars aus einem ihrer letzten Lebensjahre, der so zwischen 1941 und 1943 hätte gehalten werden können. Als Zwangsverpflichtete arbeitete sie damals in einer Fabrik für die deutsche Rüstungsindustrie, ihr Vater war bereits nach Theresienstadt deportiert worden. Um diesem Schicksal zu entgehen, entschließt sie sich im Gedicht, ihr Leben durch einen Sprung von der Berliner Siegessäule zu beenden.
Den seh ich, den näh ich
Leben kann man das allerdings kaum noch nennen. Kolmar hat im „Dritten Reich” ihre Heimat verloren. Sie lebt in einer Stadt Berlin, die sie einst geliebt hat und die sie nun nicht wiedererkennt; unter einem Volk, dem sie sich einst zugehörig fühlte und das sie nun ausgestoßen hat. Sie ist eine Fremde geworden. Ihr Weg zur Siegessäule, die Stufen hinauf zur Aussichtsplattform, ist eine Lebensrückschau, eine letzte große Anklage, denn von allen Göttern glaubt sie nur noch an den Rachegott. Es ist auch eine Anklage an die Eltern, die sie zur Abtreibung eines unehelichen Kindes gezwungen haben; an dessen Vater, der sie sitzen ließ; an die Dichter – ihre ehemaligen Helden –, von denen nie einer einen Freund versteckt hat. Und schließlich gegen sich selbst.
Reinshagen trägt dies in freirhythmischen Versen vor und meidet so den Vergleich zum übermächtigen Werk Kolmars, das formal weitgehend der Ballade nahesteht. Auch hat sie mit der expressionistischen, bisweilen pathetischen Sprache Kolmars wenig gemein. Nicht das lyrische, sondern das private Ich Kolmars soll zur Sprache kommen. So herrschen stille Töne vor, die manchmal zu Momenten höchster Beklemmung geraten.„Herrgott, wer hat uns den gestirnten Himmel eingebrockt” ruft die Erzählerin einmal aus und lässt damit die berühmte Formulierung Kants anklingen, es seien „der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir”, die dem Geist Bewunderung abverlangen. Doch das moralische Gesetz, eine Hochleistung des deutschen Idealismus, gilt in Deutschland nicht mehr. Und der Stern markiert nun den Tiefpunkt der deutschen Kultur: „Den seh ich, den näh ich, den halt ich fest: Stern, schöner Stern!”
Auch Reinshagen greift – wie schon Nelly Sachs viele Jahre vor ihr – das Bild vom Sand in den Schuhen auf und wertet es um. Wenn sie zerschmettert am Boden liege, überlegt Reinshagens Kolmar, dann wünsche sie sich, dass sie „ein Dreck sein werde,/ unter euren Füßen, Mordsgesindel!/ Ein Lehm, der euch noch tausend Jahre lang/ an den Sohlen kleben soll! / Dass ihr ausrutscht auf mir!” JEAN-MICHEL BERG
GERLIND REINSHAGEN: Die Frau und die Stadt. Eine Nacht im Leben der Gertrud Kolmar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 58 Seiten, 14,80 Euro
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2007

Schwester im Leid
Gerlind Reinshagens Ode auf Gertrud Kolmar

Schon mit ihrem ersten Stück, "Doppelkopf" (1968), war Gerlind Reinshagen auf einen Regisseur mit Zukunft gestoßen: Claus Peymann. Und mit ihren "Sonntagskindern" (1976), die auch sogleich mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurden, sorgte sie für eine kleine Wende in der vom Dokumentarstück beherrschten Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit. Nicht mehr auf die Repräsentanten politischen Handelns und ihre Entscheidungssituation, nicht mehr auf die Schauplätze der Gewalttäter und ihrer Opfer blickte sie, sondern auf die Orte alltäglicher Gewöhnung und Anpassung an das nationalsozialistische System. Sie öffnete die Bühne der Alltagsgeschichte.

Die Technik, das Geschehen vorwiegend aus der Optik einer Person, hier des Mädchens Elsi, zu sehen, hatte sie schon in dem Stück "Himmel und Erde" (1974) entwickelt, im Monolog einer Sterbenden. Diese Optik geht auch in den folgenden Stücken nicht verloren, am wenigsten in der "Clownin" (1985): Einer alternden, alkoholsüchtigen Schauspielerin verschwimmen Traum, Phantom, Erinnerung und Wirklichkeit ineinander. Und sie kehrt auch wieder im ersten Roman, "Rovinato oder Die Seele des Geschäfts" (1981), wo die Einbildungskraft eines Packers im Keller das Bild eines kleinen Kosmos zwischenmenschlicher Beziehungen entstehen lässt. Im folgenden Roman, "Die flüchtige Braut" (1984), taucht ein weiteres Leitmotiv des Werkes auf, die Stadt Berlin, Gertrud Reinshagens Heimat seit den fünfziger Jahren. Die Form- und Motivreihen laufen zusammen in ihrem jüngsten Text "Die Frau und die Stadt. Eine Nacht im Leben der Gertrud Kolmar".

Nicht selten nahmen Autoren die Gestalt eines anderen Dichters zum literarischen Vorwurf. Die Erinnerung an die Dichterin Gertrud Kolmar (eigentlich Chodziesner) hat mehrfach Ulla Hahn wachgerufen. Die Hommage der Berlinerin Gerlind Reinshagen an die jüdische Berliner Dichterin Gertrud Kolmar (1884 bis 1943), die nach Auschwitz deportiert wurde und dort für immer verschollen blieb, ist ein umfassenderer Entwurf, ein großes episch-dramatisches Gedicht in acht Szenen, acht "Gesängen", ein innerer Monolog der Zwangsarbeiterin Gertrud Kolmar, die eines Nachts über die zweihundertfünfzig Stufen der Berliner Siegessäule hinaufsteigt, um sich durch einen Sturz von oben das unerträglich gewordene Leben zu nehmen.

Assoziativ tauchen im Bewusstseinsstrom Kindheit und Jugend, die Prüfungen in der Liebe und im preußisch strengen jüdischen Elternhaus das Hereinbrechen der Finsternis über Deutschland, die bald von den brennenden Synagogen grell erhellt wird, und die Zeit im Zeichen des gelben Sterns wieder auf. Gertrud Kolmar war vornehmlich Lyrikerin, und Gerlind Reinshagen weiß, dass man die Essenz dieser Gestalt nicht in der Prosa des Alltags wiederbeschwören kann. Sie wählt deshalb den Vers, nicht den klassischen Blankvers, sondern die heute unser Ohr eher erreichende rhythmische Prosa in freien Versen. Übermäßiges Einschwingen in den Rhythmus verhindern die Störfeuer der Synkopen.

Das Werk Gertrud Kolmars und die Kommentare sind erst kürzlich in kritischen Ausgaben von Regina Nörtemann vervollständigt worden. So lässt sich nun besser beurteilen, wie kunstvoll Gerlind Reinshagen Details der Biographie und des Werks mit der dichterischen Fiktion verschränkt. Der geistige Austausch Gertrud Kolmars mit ihrem Vetter Walter Benjamin, ihre Sorge um den alten Vater, dessentwegen sie den Bitten ihrer Geschwister, ihnen ins Exil zu folgen, hartnäckig widersteht - als der Vater nach Theresienstadt abtransportiert wird, ist es zu spät -, die Qual der Arbeit im Rüstungsbetrieb, ihre Liebe zur Stadt Berlin und immer wieder das Trauma ihres Lebens, die durch die Mutter erzwungene Abtreibung eines unehelichen Kindes, die bleibende Sehnsucht nach einem Kind, dazu Fixsterne ihrer Dichtung wie die Gräfin Walewska, die Geliebte Napoleons: dies alles ist eingebunden ins Assoziationsgeflecht des Monologs. Erfunden ist das Grundmuster der Handlung: der Vorsatz zum Sprung von der Siegessäule, dazu eine Vielfalt von Details wie die Begegnung mit dem einst verehrten Gottfried Benn, der ihr stellvertretend steht für alle wegschauenden Kollegen: "Hat denn ein einziger von euch jemals geholfen? / hat einer aufgehört zu dichten / und einen Freund versteckt?"

Im Spannungsbogen zwischen Anfang und Ende, zwischen dem Entschluss zum Selbstmord und der Rückkehr in die Stadt Berlin, in die Ausweglosigkeit, sorgt der Wechsel zwischen Erinnerung und Handlungsimpulsen für ständige Umschläge. Ihre Enttäuschung steigert den Zorn auf die Schergen und Henker, bricht aber um in die Suada der Selbstherabsetzung ihres Künstlertums, dann in die Anrufung des Rachegotts, bis - jenseits des "kalten Zorns" und des Rachebegehrens - der Wille zum Weiterschreiben und Weiterleiden die endgültige Rückkehr herbeiführt. Man mag hier einen Zug zum Heroismus entdecken, der sich auch aus der Nähe des Textes zum Dramatischen versteht. Bezeugt ist eine eher resignative Ergebung ins (wie sie meinte) "vorbestimmte" Schicksal des jüdischen Volkes.

Die Autorin macht ihre Figur zu einer exemplarischen Gestalt, in deren Entwurf unser großer Respekt für die Passion der Dichterin Gertrud Kolmar schon mitenthalten ist. Dieser Text ruft nach dem Leser, dem Hörer, dem Theaterpublikum, nach dem Regisseur und der großen Schauspielerin.

WALTER HINCK

Gerlind Reinshagen: "Die Frau und die Stadt. Eine Nacht im Leben der Gertrud Kolmar", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 58 S., br., 14,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Jean-Michel Berg liest den Text als "fiktiven Monolog" der Dichterin Gertrud Kolmar aus ihren letzten Lebensjahren. Allerdings möchte Berg von "Leben" lieber gar nicht sprechen, derart geprägt von Klage erscheinen ihm die von Gerlind Reinshagen verfassten freirhythmischen Verse. Dass Reinshagen bei ihrem Versuch der Annäherung an die Dichterin nicht deren "bisweilen pathetischen" Stil übernimmt, findet Berg ihrem Vorhaben angemessen, nicht das lyrische, sondern das private Ich Kolmars zu thematisieren. Die in diesem Buch vorherrschenden "stillen Töne" verdichten sich im Ohr des Rezensenten manchmal zu Augenblicken "höchster Beklemmung".

© Perlentaucher Medien GmbH
»Der schmale Band Die Frau und die Stadt ist ein Langgedicht, ein fiktiver Monolog Gertrud Kolmars aus einem ihrer letzten Lebensjahre. ... Nicht das lyrische, sondern das private Ich Kolmars soll zur Sprache kommen. So herrschen stille Töne vor, die zu Momenten höchster Beklemmung geraten.« Jean-Michel Berg Süddeutsche Zeitung