Wer ist Kalligaro? Ein Flaneur, ein Betrachter, ein Liebhaber seiner Stadt (Budapest), ein Freund ganz bestimmter Cafés und des Kognaks, ein Mann der Frauen. Ein höchst sonderbares, zwiespältiges Individuum; in der Provinz, der er entstammt, ebenso beheimatet wie in der Großstadt; ein Eremit; ein Erleidender historischer Verläufe. Krieg, Judenverfolgung, Diktatur und Reformdiktatur bringt er ebenso hinter sich wie die Wende zur Demokratie. Darin zugleich aber ein Handelnder: Dissident, Stadtplaner, Politiker, Dichter, Wortführer, Präsident verschiedener Akademien; ein Reisender zwischen New York, Berlin und Ky?to. Kurzum: In der Gestalt des Herrn Kalligaro begegnen wir einer neuen Spiegelung des György Konrád und seines Lebensweges. Aber anders als die linear erzählten Lebensläufe, die uns aus anderen Werken Konráds vertraut sind, splittert sich die neue Lebensgeschichte in einen Kosmos von mehr als 200 kurzen Erzählungen, Beobachtungen, Reflexionen, und so ist dieses Buch vieleszugleich: eine mosaikartig sich zusammensetzende Autobiographie, ein artistischer Selbstversuch, ein Aphorismenschatz, ein Vademecum der stoischen Lebenskunst; eine Zeitreise zwischen Gestern und Morgen, ein Geschichts- und Geschichtenbuch des 20. Jahrhunderts; ein Buch der Epiphanien, eine musikalische Komposition. Ein Reflexionsepos in der europäischen Traditionslinie von Rousseau, Rilke, Valéry, Pessoa und Benn. Vor allem aber: ein Buch des Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2007Puff, das Leben zerfetzt
György Konrád schreibt seine Anti-Memoiren fort
Mögen andere im Alter an der eigenen Legende weben, sich in Memoirenbänden als souveräne Architekten ihres Schicksals entwerfen - der ungarisch-jüdische Schriftsteller György Konrád tut in seinem autobiographischen "Buch Kalligaro" das Gegenteil. "Dieses Buch handelt von Abwesenheit, davon, all das Zerstreutwerden, all das Sichsammeln anzunehmen." In einer Revue aus mehr als zweihundert Prosaskizzen ohne geordnete Chronologie reflektiert Konrád sein Leben und bekennt, dass er seine Figur "Kalligaro" genannt hat, weil ihm "der ständige Gebrauch des Wortes ,Ich' langweilig" sei. Kalligaro sieht Konrád also zum Verwechseln ähnlich; er ist ein Doppelgänger par excellence, eine Projektion innerer Zerrissenheit.
"Kalligaro" ist das dritte Buch in Folge, in dem Konrád, Jahrgang 1933, rechenschaft über sein Leben ablegt. "Glück" (deutsch 2003) und "Sonnenfinsternis auf dem Berg" (deutsch 2005) reichen vom Zweiten Weltkrieg bis zur Sonnenfinsternis von 1999, mit der Konrád ein von menschlichen Katastrophen verdunkeltes Jahrhundert symbolhaft zu Ende gehen lässt. "Das Buch Kalligaro" liefert eher Variationen dieser Werke, als dass es inhaltlich etwas ganz Neues vorstellt. Politisches und Privates wechseln sich darin ab.
Markanter als seine Vorgänger hebt dieses Buch die Differenz zwischen Privatmensch und öffentlicher Person hervor. Schon in einem frühen Essay hatte Konrád es als Aufgabe des Schriftstellers bezeichnet, an die Spannung zwischen "Gesicht und Maske" eines jeden Menschen "zu erinnern": Denn "unsere Maske ist begrenzt, unser Gesicht unfassbar". Das Fazit ist ernüchternd: "In den achtziger Jahren hatte er allmählich das Gefühl, dass die Dissidentenkluft anfing, dem reichverzierten ungarischen Hirtenmantel", einer "Uniform" gar, "zu ähneln". Oder: "In Berlin hat Kalligaro sechs Jahre lang den Präsidenten der Akademie der Künste gespielt."
Den Gegenpol zur öffentlichen Existenz bilden der Garten, das Private, die Familie. In diesen Abschnitten gibt sich Konrád als zufriedener Privatier, der das Leben mit stoischer Gelassenheit hinnimmt und zugleich seine Fülle preist. Die Perspektive der Gefährdung bleibt: "Das Wichtigste können sie ihm nicht wegnehmen." Die durch Totalitarismen eingefressenen Ängste sind aktuell, auch heute ist Konrád in Ungarn antisemitischen Pöbeleien ausgesetzt.
Insgesamt besticht "Das Buch Kalligaro" durch Ehrlichkeit. Mit einem gewissen Mutwillen ramponiert Konrád ein idealisiertes Bild vom Dissidententum und sägt an den Podien und Podesten herum, auf denen er als Repräsentant saß. Manches Privatissimum und manch larmoyantes Detail hätte es allerdings nicht gebraucht. Doch ist es wohl die Absicht dieser Anti-Memoiren, die sich nach außen wie gegen die Vielheit der eigenen Person abgrenzen, jeglichen Konsens zu unterlaufen: "Stets wusste er, womit er die konformistische Mehrheit gegen sich aufbringen konnte. Fast schon bringt man ihm Wohlwollen entgegen, und dann, puff, zerfetzt er es."
JUDITH LEISTER
György Konrád: "Das Buch Kalligaro". Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 292 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
György Konrád schreibt seine Anti-Memoiren fort
Mögen andere im Alter an der eigenen Legende weben, sich in Memoirenbänden als souveräne Architekten ihres Schicksals entwerfen - der ungarisch-jüdische Schriftsteller György Konrád tut in seinem autobiographischen "Buch Kalligaro" das Gegenteil. "Dieses Buch handelt von Abwesenheit, davon, all das Zerstreutwerden, all das Sichsammeln anzunehmen." In einer Revue aus mehr als zweihundert Prosaskizzen ohne geordnete Chronologie reflektiert Konrád sein Leben und bekennt, dass er seine Figur "Kalligaro" genannt hat, weil ihm "der ständige Gebrauch des Wortes ,Ich' langweilig" sei. Kalligaro sieht Konrád also zum Verwechseln ähnlich; er ist ein Doppelgänger par excellence, eine Projektion innerer Zerrissenheit.
"Kalligaro" ist das dritte Buch in Folge, in dem Konrád, Jahrgang 1933, rechenschaft über sein Leben ablegt. "Glück" (deutsch 2003) und "Sonnenfinsternis auf dem Berg" (deutsch 2005) reichen vom Zweiten Weltkrieg bis zur Sonnenfinsternis von 1999, mit der Konrád ein von menschlichen Katastrophen verdunkeltes Jahrhundert symbolhaft zu Ende gehen lässt. "Das Buch Kalligaro" liefert eher Variationen dieser Werke, als dass es inhaltlich etwas ganz Neues vorstellt. Politisches und Privates wechseln sich darin ab.
Markanter als seine Vorgänger hebt dieses Buch die Differenz zwischen Privatmensch und öffentlicher Person hervor. Schon in einem frühen Essay hatte Konrád es als Aufgabe des Schriftstellers bezeichnet, an die Spannung zwischen "Gesicht und Maske" eines jeden Menschen "zu erinnern": Denn "unsere Maske ist begrenzt, unser Gesicht unfassbar". Das Fazit ist ernüchternd: "In den achtziger Jahren hatte er allmählich das Gefühl, dass die Dissidentenkluft anfing, dem reichverzierten ungarischen Hirtenmantel", einer "Uniform" gar, "zu ähneln". Oder: "In Berlin hat Kalligaro sechs Jahre lang den Präsidenten der Akademie der Künste gespielt."
Den Gegenpol zur öffentlichen Existenz bilden der Garten, das Private, die Familie. In diesen Abschnitten gibt sich Konrád als zufriedener Privatier, der das Leben mit stoischer Gelassenheit hinnimmt und zugleich seine Fülle preist. Die Perspektive der Gefährdung bleibt: "Das Wichtigste können sie ihm nicht wegnehmen." Die durch Totalitarismen eingefressenen Ängste sind aktuell, auch heute ist Konrád in Ungarn antisemitischen Pöbeleien ausgesetzt.
Insgesamt besticht "Das Buch Kalligaro" durch Ehrlichkeit. Mit einem gewissen Mutwillen ramponiert Konrád ein idealisiertes Bild vom Dissidententum und sägt an den Podien und Podesten herum, auf denen er als Repräsentant saß. Manches Privatissimum und manch larmoyantes Detail hätte es allerdings nicht gebraucht. Doch ist es wohl die Absicht dieser Anti-Memoiren, die sich nach außen wie gegen die Vielheit der eigenen Person abgrenzen, jeglichen Konsens zu unterlaufen: "Stets wusste er, womit er die konformistische Mehrheit gegen sich aufbringen konnte. Fast schon bringt man ihm Wohlwollen entgegen, und dann, puff, zerfetzt er es."
JUDITH LEISTER
György Konrád: "Das Buch Kalligaro". Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 292 S., geb., 22,80 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2007So was von mit sich selbst zufrieden
György Konrád erzählt in „Das Buch Kalligaro” von seinem Glück
György Konrád ist Kalligaro. Weil er behauptet, es sei langweilig, von sich in der ersten Person zu sprechen, gebraucht er das Wort „Ich” nur ein einziges Mal. Da erklärt er, wie er zu seinem neuen literarischen Namen kam: „Gefunden habe ich ihn in Hegymagas, einem Dorf am Plattensee, auf Brunnenkränzen und Tränkrinnen, er gefiel mir, und ich eignete ihn mir an.” Ob „Kalligaro” etwas bedeutet, erklärt Konrád nicht. Der Name schmückt wie Pfauenfedern. Man kann ihn sich ins Haar stecken und veredelt sich damit zum Indianerhäuptling.
Es hat also nichts mit Bescheidenheit zu tun, dass Konrád auf das Wörtchen „ich” verzichtet. Ganz im Gegenteil. Über sich selbst als einen Anderen zu sprechen erlaubt, jegliche Zurückhaltung aufzugeben. Eines wird sehr schnell klar: Kalligaro ist ein toller Typ. Ein unbestechlicher Intellektueller, der sich im Laufe des schrecklichen 20. Jahrhunderts durch nichts erschüttern ließ. Ein sportlicher, potenter Kerl, der auf Frauen eine unwiderstehliche Wirkung ausübte. Und schließlich nennt er Haus und Garten sein eigen, blickt auf Kinder und Enkel in reicher Zahl herab und darf deshalb mit Fug und Recht behaupten, die Welt sei gut geraten: „Das Bestehende würde er seinen Kindern im großen und ganzen so, wie es ist, gern hinterlassen.”
Kalligaro ist ein glücklicher Mensch. Das ist bei seiner Biographie, die an Auschwitz knapp vorbei und im kommunistischen Ungarn in die Randgebiete des Samisdat führte, nicht selbstverständlich. „Das Buch Kalligaro”, wie der Erinnerungsband in der deutschen Übersetzung geradezu biblisch und in angemessener Unbescheidenheit heißt, hat deshalb tatsächlich etwas Prophetenhaftes. Es ist eine Lebensgeschichte und zugleich die Lehre vom guten Leben. „Wer von den Leuten nichts besonderes will, muss ihnen auch nicht unbedingt gefallen”, lehrt Kalligaro. Umso mehr gefällt er sich selbst. Das ist das eigentliche Geheimnis seiner Daseinszufriedenheit. An die Welt gerichtete Botschaften darüber hinaus habe er nicht, behauptet er. Ob er deshalb so viel von sich selbst redet?
Das Buch besteht aus rund 250 kurzen, einigermaßen chronologisch sortierten Erinnerungssplittern, die selten länger sind als ein bis zwei Seiten. Es sind Reflexionen, Beobachtungen, Abschweifungen, tagebuchhafte Alltagsnotizen und manchmal auch einfach nur selbstgefälliges Geschwätz. Dabei entsteht das Bild eines Budapester Flaneurs und Caféhausgängers, der die Gesellschaft liebt und der sie zugleich flieht. Die Überwachung durch die Staatssicherheit, die eigene prekäre Existenz als osteuropäischer Intellektueller, der nur im Westen veröffentlichen konnte, entsprach durchaus seinem Naturell. Solange er einigermaßen in Ruhe gelassen wurde, war es ihm recht. Konrád möchte sich sein Leben nicht durch die historischen Umstände enteignen lassen.
Dissident und Rentier
Deshalb erklärt er es für selbstbestimmt und richtet sich nach dem Glaubenssatz der Liberalen, wonach jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll. Ein Kritiker habe ihn einmal beschimpft, weil er überall glücklich sein könne, auch in Zeiten des Kommunismus. Doch eben darin besteht ja seine Lebenskunst. Der erzwungene Müßiggang der inneren Emigration unterscheidet sich jedenfalls nicht von seiner heutigen Existenzform, wo er im ländlichen Garten sitzt, Pfeife raucht, Schnäpschen trinkt, und sich von den weit zurückliegenden Auslandsaufenthalten in New York, Tokio und Berlin erholt. Der Dissident von einst und der Rentier von heute – sie sind bei Licht betrachtet kaum auseinanderzuhalten.
Und doch wirkt das Lob der Abgeschiedenheit nicht ganz glaubwürdig. Allzu heftig schwelgt Kalligaro in seiner präsidialen Aura, wenn er immer wieder auf seine Jahre als Präsident der Berliner Akademie der Künste zu sprechen kommt. Er verkehrte gerne mit den Angesehenen, und wenn man ihm glaubt, wurde Árpád Göncz 1990 nur deshalb ungarischer Staatspräsident, weil er ihn während eines Spaziergangs durch Budapest dazu überredete. Skeptisch beobachtete Konrád den Verlauf der nationalen Erhebung und der Wende nach 1989, weil er den nationalistischen Tönen misstraute und aufmerksam die Anzeichen einer neuen Judenhetze registrierte.
Eindrucksvoll wird sein „Buch Kalligaro”, als er mit einem Freund eine Reise nach Auschwitz unternimmt und dort die Orte besucht, die doch auch für ihn als Juden vorgesehen waren. Am stärksten aber sind die Passagen, die vom Altern, vom Verfall und vom Tod handeln. Da bewährt sich die in langen Jahren antrainierte politische Gelassenheit auf einer existentiellen Ebene. Die in ihrer Nüchternheit fast schon brutale Beschreibung des Sterbens der Mutter und des Vaters oder die Schilderung einer fürchterlichen Zahnoperation, bei der Kalligaro sämtliche Zähne gezogen werden, sind beeindruckende Beispiele des praktizierten Stoizismus. „Schläge machen unmoralisch”, lautet eine der gelungenen Sentenzen Konráds, die seine Lebenserfahrung in Kommunismus und Nachwendezeit prägnant zusammenfasst. Also sorgt er dafür, dass die Schläge, die ihm zugedacht waren, ihn nicht mehr erreichen, stopft die Pfeife und zählt die Schar seiner Enkel. JÖRG MAGENAU
GYÖRGY KONRÁD: Das Buch Kalligaro. Aus dem Ungarischen von Hans-Hennig Paetzke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 294 S., 22,80 Euro.
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György Konrád erzählt in „Das Buch Kalligaro” von seinem Glück
György Konrád ist Kalligaro. Weil er behauptet, es sei langweilig, von sich in der ersten Person zu sprechen, gebraucht er das Wort „Ich” nur ein einziges Mal. Da erklärt er, wie er zu seinem neuen literarischen Namen kam: „Gefunden habe ich ihn in Hegymagas, einem Dorf am Plattensee, auf Brunnenkränzen und Tränkrinnen, er gefiel mir, und ich eignete ihn mir an.” Ob „Kalligaro” etwas bedeutet, erklärt Konrád nicht. Der Name schmückt wie Pfauenfedern. Man kann ihn sich ins Haar stecken und veredelt sich damit zum Indianerhäuptling.
Es hat also nichts mit Bescheidenheit zu tun, dass Konrád auf das Wörtchen „ich” verzichtet. Ganz im Gegenteil. Über sich selbst als einen Anderen zu sprechen erlaubt, jegliche Zurückhaltung aufzugeben. Eines wird sehr schnell klar: Kalligaro ist ein toller Typ. Ein unbestechlicher Intellektueller, der sich im Laufe des schrecklichen 20. Jahrhunderts durch nichts erschüttern ließ. Ein sportlicher, potenter Kerl, der auf Frauen eine unwiderstehliche Wirkung ausübte. Und schließlich nennt er Haus und Garten sein eigen, blickt auf Kinder und Enkel in reicher Zahl herab und darf deshalb mit Fug und Recht behaupten, die Welt sei gut geraten: „Das Bestehende würde er seinen Kindern im großen und ganzen so, wie es ist, gern hinterlassen.”
Kalligaro ist ein glücklicher Mensch. Das ist bei seiner Biographie, die an Auschwitz knapp vorbei und im kommunistischen Ungarn in die Randgebiete des Samisdat führte, nicht selbstverständlich. „Das Buch Kalligaro”, wie der Erinnerungsband in der deutschen Übersetzung geradezu biblisch und in angemessener Unbescheidenheit heißt, hat deshalb tatsächlich etwas Prophetenhaftes. Es ist eine Lebensgeschichte und zugleich die Lehre vom guten Leben. „Wer von den Leuten nichts besonderes will, muss ihnen auch nicht unbedingt gefallen”, lehrt Kalligaro. Umso mehr gefällt er sich selbst. Das ist das eigentliche Geheimnis seiner Daseinszufriedenheit. An die Welt gerichtete Botschaften darüber hinaus habe er nicht, behauptet er. Ob er deshalb so viel von sich selbst redet?
Das Buch besteht aus rund 250 kurzen, einigermaßen chronologisch sortierten Erinnerungssplittern, die selten länger sind als ein bis zwei Seiten. Es sind Reflexionen, Beobachtungen, Abschweifungen, tagebuchhafte Alltagsnotizen und manchmal auch einfach nur selbstgefälliges Geschwätz. Dabei entsteht das Bild eines Budapester Flaneurs und Caféhausgängers, der die Gesellschaft liebt und der sie zugleich flieht. Die Überwachung durch die Staatssicherheit, die eigene prekäre Existenz als osteuropäischer Intellektueller, der nur im Westen veröffentlichen konnte, entsprach durchaus seinem Naturell. Solange er einigermaßen in Ruhe gelassen wurde, war es ihm recht. Konrád möchte sich sein Leben nicht durch die historischen Umstände enteignen lassen.
Dissident und Rentier
Deshalb erklärt er es für selbstbestimmt und richtet sich nach dem Glaubenssatz der Liberalen, wonach jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll. Ein Kritiker habe ihn einmal beschimpft, weil er überall glücklich sein könne, auch in Zeiten des Kommunismus. Doch eben darin besteht ja seine Lebenskunst. Der erzwungene Müßiggang der inneren Emigration unterscheidet sich jedenfalls nicht von seiner heutigen Existenzform, wo er im ländlichen Garten sitzt, Pfeife raucht, Schnäpschen trinkt, und sich von den weit zurückliegenden Auslandsaufenthalten in New York, Tokio und Berlin erholt. Der Dissident von einst und der Rentier von heute – sie sind bei Licht betrachtet kaum auseinanderzuhalten.
Und doch wirkt das Lob der Abgeschiedenheit nicht ganz glaubwürdig. Allzu heftig schwelgt Kalligaro in seiner präsidialen Aura, wenn er immer wieder auf seine Jahre als Präsident der Berliner Akademie der Künste zu sprechen kommt. Er verkehrte gerne mit den Angesehenen, und wenn man ihm glaubt, wurde Árpád Göncz 1990 nur deshalb ungarischer Staatspräsident, weil er ihn während eines Spaziergangs durch Budapest dazu überredete. Skeptisch beobachtete Konrád den Verlauf der nationalen Erhebung und der Wende nach 1989, weil er den nationalistischen Tönen misstraute und aufmerksam die Anzeichen einer neuen Judenhetze registrierte.
Eindrucksvoll wird sein „Buch Kalligaro”, als er mit einem Freund eine Reise nach Auschwitz unternimmt und dort die Orte besucht, die doch auch für ihn als Juden vorgesehen waren. Am stärksten aber sind die Passagen, die vom Altern, vom Verfall und vom Tod handeln. Da bewährt sich die in langen Jahren antrainierte politische Gelassenheit auf einer existentiellen Ebene. Die in ihrer Nüchternheit fast schon brutale Beschreibung des Sterbens der Mutter und des Vaters oder die Schilderung einer fürchterlichen Zahnoperation, bei der Kalligaro sämtliche Zähne gezogen werden, sind beeindruckende Beispiele des praktizierten Stoizismus. „Schläge machen unmoralisch”, lautet eine der gelungenen Sentenzen Konráds, die seine Lebenserfahrung in Kommunismus und Nachwendezeit prägnant zusammenfasst. Also sorgt er dafür, dass die Schläge, die ihm zugedacht waren, ihn nicht mehr erreichen, stopft die Pfeife und zählt die Schar seiner Enkel. JÖRG MAGENAU
GYÖRGY KONRÁD: Das Buch Kalligaro. Aus dem Ungarischen von Hans-Hennig Paetzke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 294 S., 22,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sein Selbstbild betreffend unterstellt Judith Leister dem ungarischen Autor einen gewissen Hang zum Destruktiven. Dass György Konrad die Rolle des Vorzeigedissidenten nicht spielen will, kann sie ihm jedoch nicht verübeln. Einfach zu "bestechend" findet Leister seine im dritten Teil der Biografie an den Tag gelegte Ehrlichkeit. Was ihr die achronologische "Revue" der über 200 Prosaskizzen, aus denen der Band besteht, verdeutlicht - die "innere Zerrissenheit" des Autors zwischen Privatem und Politischem -, hat nur manchmal einen Leister missfallenden Zug ins Larmoyante.
© Perlentaucher Medien GmbH
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