Peter Bichsel bildet nicht die Welt ab, »wie sie angeblich ist«, sagt Peter von Matt, sondern er hat gelernt, »auf die Stimmen der Welt zu hören, sie aufzufangen und mit ihnen zu arbeiten, sie zu verbinden und zu fügen, spielerisch und doch in strenger Komposition«. Nirgendwo lassen sich jene »Stimmen der Welt« besser, deutlicher vernehmen als in jenen so eigensinnigen Geschichten, die Peter Bichsel »Kolumnen« nennt: Beobachtungen von unterwegs.
Da begegnen wir dem eigenartigen Egon, der nur in Andeutungen und Abkürzungen spricht, werden Zeugen eines Wutausbruchs von Paul, eines sonst eher gemütlichen Menschen, sitzen als Fremde in einer Bar in Brisbane, besuchen die »Bahnhofswinterschule«, treffen eine alles andere als naive Erstkläßlerin, denken an die mißlingenden Weihnachtsfeste, den kranken Freund und hören den heutigen Jungen zu, die später erzählen werden, daß früher alles anders und besser war. Aber »was wären wir, wenn sich nicht alles verändert hätte?« fragt Peter Bichsel. »Wir wären nichts, hätten nichts, hätten nichts erlebt und nichts zu erzählen.«
Da begegnen wir dem eigenartigen Egon, der nur in Andeutungen und Abkürzungen spricht, werden Zeugen eines Wutausbruchs von Paul, eines sonst eher gemütlichen Menschen, sitzen als Fremde in einer Bar in Brisbane, besuchen die »Bahnhofswinterschule«, treffen eine alles andere als naive Erstkläßlerin, denken an die mißlingenden Weihnachtsfeste, den kranken Freund und hören den heutigen Jungen zu, die später erzählen werden, daß früher alles anders und besser war. Aber »was wären wir, wenn sich nicht alles verändert hätte?« fragt Peter Bichsel. »Wir wären nichts, hätten nichts, hätten nichts erlebt und nichts zu erzählen.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2003Die leere Seite
Großredner des Kleinen: Neue Kolumnen von Peter Bichsel
Peter Bichsel ist ein Phänomen. Nicht nur, dass seine Vita und sein Werk bei wachsendem Umfang immer knapper werden, – im Umschlag seines neuesten Opus minimum steht nur noch ein schlichtes „Peter Bichsel, geboren 1935 in Luzern, lebt als freier Schriftsteller in Bellach bei Solothurn” –, die Sache hat Methode: Dieser Autor schafft seine Maßstäbe selbst. Er verrückt die Dimensionen, lässt sie schrumpfen, bläht sie auf, ganz nach Bedarf. So wird das Kleine groß und das Große klein, Nebensächliches scheint plötzlich ein Schlüssel zur Welt.
Zum Beispiel: das Wetter bzw. das Gespräch darüber. Haben wir nicht immer angenommen, es sei eine Belanglosigkeit oder ein Notbehelf, der peinliches Schweigen überbrückt? Peter Bichsel beweist uns das Gegenteil: „Ich mag Gespräche über das Wetter. Sie meinen nichts anderes als: ich spreche mit dir, sag etwas, irgend etwas, ich möchte dich sprechen hören.” Aber was heißt hier beweisen? Bichsel sagt einfach „Ich mag” - und das sagt er oft -, und plötzlich sehen wir die Welt mit seinen Augen und finden ein Gespräch übers Wetter überaus bedeutungsvoll (aus dem ebenso schlichten wie überraschenden Grund, dass gerade die Inhaltslosigkeit des Gesprächs das Interesse am Gegenüber zeigt). Dabei kommt das keineswegs als Pointe daher, es ist lediglich eine kleine Beigabe, die wir nebenher erhalten, in einem nur vier Seiten starken Text (keiner ist länger, sie erschienen ursprünglich als Zeitungkolumnen), der uns kurzerhand erklärt, warum es heute keine Reisen mehr gibt: weil wir mit der Zeit nicht mehr umgehen können.„Wir sparen keine Zeit, wir komprimieren sie nur” – auch das also eine Frage der Dimensionen.
Zeilenschinder, Wortefinder
Die neunundzwanzig Texte nobilitieren ihr Format aufs schönste und auch den viel zu häufig verächtlich gebrauchten Begriff „Feuilleton”. Selten lässt sich so gut studieren, wie eine Formvorgabe eine bestimmte Schreibweise und Weltsicht erzeugt. Mit Recht weist Bichsel darauf hin, dass Robert Walser, mit dem man ihn bis zum gelinden Überdruss vergleicht, keineswegs „Kurze Prosa” geschrieben habe, sondern Feuilletons, für die er „Zeilenhonorare zusammengekratzt” hat. „Mir fällt nichts ein” heißt für Bichsel das Gesetz des Kolumnenschreibers, sein dringendes Anliegen sei nie etwas anderes, als die Seiten mit Buchstaben zu füllen: „ich schreibe, weil in Zürich ein Redaktor sitzt, der eine leere Seite hat”. Wie er dann aber aus diesem Bonmot gleich wieder gewaltige Schlüsse zieht, das ist die Bichselsche Dimensionsverrückungskunst: „Die Leerstellen füllen, vielleicht war das schon immer eine Aufgabe der Literatur.”
Peter Bichsel ist ein Sammler von Buchstaben, ein Liebhaber des Worts und der evokativen Kraft der Namen. Seine Geschichten spielen auf der Straße, in Zügen und immer wieder in der „Beiz”. Die stammelnden Sprachlosigkeiten, wie sie dort in der Luft liegen, bringt er zum Ausdruck, ohne den Raum des Schweigens zu löschen, der sie umgibt. Alles, was er erzählt, erscheint auf wunderbare Weise einfach, kompliziert sind bei ihm nur die Titel seiner Bücher: von der frühen Geschichtensammlung „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen”, über „Der Busant” mit dem Untertitel „Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone” bis hin zu „Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule”. Wer sie sich nicht merken kann, sollte einfach in die Buchhandlung gehen: einen Bichsel bitte, wird man dort gewiss verstehen.
MEIKE FESSMANN
PETER BICHSEL: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule. Kolumnen 2000-2002. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 124 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Großredner des Kleinen: Neue Kolumnen von Peter Bichsel
Peter Bichsel ist ein Phänomen. Nicht nur, dass seine Vita und sein Werk bei wachsendem Umfang immer knapper werden, – im Umschlag seines neuesten Opus minimum steht nur noch ein schlichtes „Peter Bichsel, geboren 1935 in Luzern, lebt als freier Schriftsteller in Bellach bei Solothurn” –, die Sache hat Methode: Dieser Autor schafft seine Maßstäbe selbst. Er verrückt die Dimensionen, lässt sie schrumpfen, bläht sie auf, ganz nach Bedarf. So wird das Kleine groß und das Große klein, Nebensächliches scheint plötzlich ein Schlüssel zur Welt.
Zum Beispiel: das Wetter bzw. das Gespräch darüber. Haben wir nicht immer angenommen, es sei eine Belanglosigkeit oder ein Notbehelf, der peinliches Schweigen überbrückt? Peter Bichsel beweist uns das Gegenteil: „Ich mag Gespräche über das Wetter. Sie meinen nichts anderes als: ich spreche mit dir, sag etwas, irgend etwas, ich möchte dich sprechen hören.” Aber was heißt hier beweisen? Bichsel sagt einfach „Ich mag” - und das sagt er oft -, und plötzlich sehen wir die Welt mit seinen Augen und finden ein Gespräch übers Wetter überaus bedeutungsvoll (aus dem ebenso schlichten wie überraschenden Grund, dass gerade die Inhaltslosigkeit des Gesprächs das Interesse am Gegenüber zeigt). Dabei kommt das keineswegs als Pointe daher, es ist lediglich eine kleine Beigabe, die wir nebenher erhalten, in einem nur vier Seiten starken Text (keiner ist länger, sie erschienen ursprünglich als Zeitungkolumnen), der uns kurzerhand erklärt, warum es heute keine Reisen mehr gibt: weil wir mit der Zeit nicht mehr umgehen können.„Wir sparen keine Zeit, wir komprimieren sie nur” – auch das also eine Frage der Dimensionen.
Zeilenschinder, Wortefinder
Die neunundzwanzig Texte nobilitieren ihr Format aufs schönste und auch den viel zu häufig verächtlich gebrauchten Begriff „Feuilleton”. Selten lässt sich so gut studieren, wie eine Formvorgabe eine bestimmte Schreibweise und Weltsicht erzeugt. Mit Recht weist Bichsel darauf hin, dass Robert Walser, mit dem man ihn bis zum gelinden Überdruss vergleicht, keineswegs „Kurze Prosa” geschrieben habe, sondern Feuilletons, für die er „Zeilenhonorare zusammengekratzt” hat. „Mir fällt nichts ein” heißt für Bichsel das Gesetz des Kolumnenschreibers, sein dringendes Anliegen sei nie etwas anderes, als die Seiten mit Buchstaben zu füllen: „ich schreibe, weil in Zürich ein Redaktor sitzt, der eine leere Seite hat”. Wie er dann aber aus diesem Bonmot gleich wieder gewaltige Schlüsse zieht, das ist die Bichselsche Dimensionsverrückungskunst: „Die Leerstellen füllen, vielleicht war das schon immer eine Aufgabe der Literatur.”
Peter Bichsel ist ein Sammler von Buchstaben, ein Liebhaber des Worts und der evokativen Kraft der Namen. Seine Geschichten spielen auf der Straße, in Zügen und immer wieder in der „Beiz”. Die stammelnden Sprachlosigkeiten, wie sie dort in der Luft liegen, bringt er zum Ausdruck, ohne den Raum des Schweigens zu löschen, der sie umgibt. Alles, was er erzählt, erscheint auf wunderbare Weise einfach, kompliziert sind bei ihm nur die Titel seiner Bücher: von der frühen Geschichtensammlung „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen”, über „Der Busant” mit dem Untertitel „Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone” bis hin zu „Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule”. Wer sie sich nicht merken kann, sollte einfach in die Buchhandlung gehen: einen Bichsel bitte, wird man dort gewiss verstehen.
MEIKE FESSMANN
PETER BICHSEL: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule. Kolumnen 2000-2002. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 124 Seiten, 18,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Gabriele Killert ist von diesem Band mit Kolumnen des Schweizer Autors Peter Bichsel sehr eingenommen. Sie schätzt dessen Bescheidenheitsgestus, der sich in den Texten zeigt. Bichsel "gibt gern Fragen auf eilfertig gestellte Antworten", stellt die Rezensentin angetan fest. Seine Kolumnen, die zwischen 2000 und 2002 entstanden sind, geraten dabei häufig von "plätschernden Plauderbächlein in reißenderes Gewässer", beispielsweise von der Frage nach der liebsten Krawatte zum "Lieblingsbösewicht der Amerikaner", so Killert fasziniert. Weniger "intellektuelle Brillanz" als vielmehr das Vermögen, zu irritieren und zu verstören, mag die Rezensentin an diesen Texten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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