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Unmittelbar nach dem Sieg des Roten Oktober haben die bolschewistischen Machthaber eine beispiellose Umwälzung des von dem alten Regime hinterlassenen Gesundheitssystems gestartet. Diese war vom Bestreben getragen, die ethische Kultur der "bürgerlichen Medizin" zu zerstören und insbesondere das Arztgeheimnis aufzuheben - jenes Symbol der Professionsautonomie, das seit langem Ängste vor einem Verschwörerkreis ärztlicher Auguren nährte, um sich im Sowjetrussland im Gegenphantasma eines "gläsernen Arztzimmers" zu kristallisieren. Während das Schweigen der Ärzte dem politischen Bemühen…mehr

Produktbeschreibung
Unmittelbar nach dem Sieg des Roten Oktober haben die bolschewistischen Machthaber eine beispiellose Umwälzung des von dem alten Regime hinterlassenen Gesundheitssystems gestartet. Diese war vom Bestreben getragen, die ethische Kultur der "bürgerlichen Medizin" zu zerstören und insbesondere das Arztgeheimnis aufzuheben - jenes Symbol der Professionsautonomie, das seit langem Ängste vor einem Verschwörerkreis ärztlicher Auguren nährte, um sich im Sowjetrussland im Gegenphantasma eines "gläsernen Arztzimmers" zu kristallisieren. Während das Schweigen der Ärzte dem politischen Bemühen zuwiderzulaufen schien, den "Neuen Menschen" dem ärztlichen Blick und durch diesen dem der Regierung und Partei zu unterwerfen, rief das Volkskommissariat für Gesundheitsschutz dazu auf, den Arzt unter der "Glasglocke der Arbeiter-und-Bauern-Öffentlichkeit" arbeiten zu lassen. In der Folgezeit zeigte sich jedoch immer deutlicher, wie weit dieser Kontrollanspruch und reale Möglichkeiten, ihn auszuüben, auseinanderlagen und wie eng die Auseinandersetzung um die ärztliche Ethik mit dem heute noch ungelösten Dilemma zwischen gesamtgesellschaftlicher und funktioneller Rationalität der Medizin zusammenhing.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Martina Lenzen-Schulte ist beeindruckt von dem Buch des Medizinhistorikers Igor J. Polianski. Dass der Autor eine Kulturgeschichte der Sowjetmedizin des letzten Jahrhunderts in Angriff nimmt und damit das eher geringe Wissen über Ärzte im totalitären Sowjetstaat erweitert, hält sie für ein großes Verdienst. Weit über die Instrumentalisierung der Ärzte für die Dissidentenkontrolle geht der Autor bei der Behandlung des Themas hinaus, meint sie. Das Buch zeigt ihr, wie gefährlich der Schulterschluss von Staat und Medizin sein kann, wie er zu Überwachung und Reglementierung führen kann. Außerdem erfährt Lenzen-Schulte, dass die Prävention ein ideologischer Kern des Regimes war. Anhand von Beispielen vermittelt ihr Polianski, wie beklemmend die Atmosphäre jener Zeit war. Auch wenn der Autor die Psychiatrie weitgehend ausklammert, eine Sensibilisierung für den Ruf nach mehr Kontrolle in der Medizin gelingt ihm laut Rezensentin überzeugend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2016

Ärzte ohne Schweigepflicht
Instrumentalisierte Medizin in der Sowjetunion

Lenin fackelte nicht lange, schon gar nicht mit den elitären Medizinern. Schon bald nach dem Roten Oktober waren die Ärzte ihre Doktortitel los, ihre Standesorganisationen zerschlagen und alle medizinischen Fakultäten abgeschafft. Statt auf den feudalen Inseln der Universitäten an schwierigen Fällen zu lernen, sollten die Medizinstudenten nun das "alltägliche Material" in Ausbildungsstätten für Ärzte kennenlernen - praktische Allgemeinmedizin statt gelehrtes akademisches Spezialwissen. Unter dem ersten sowjetischen Volkskommissar für Gesundheitsschutz, Nikolai A. Semaschko, einem langjährigen Gefolgsmann Lenins, wurde die Abschaffung der kurativen Medizin eingeläutet. Der alte Arzttypus, der nur Patienten aufpäppelte, galt als überholt.

An seine Stelle sollte der Präventivmediziner neuen Schlages treten, der als "Leibmedicus der Arbeiter- und Bauernmasse" Krankheiten im Vorfeld verhinderte. Ausgehend von dieser neuen Setzung entwirft Igor J. Polianski in seinem Buch eine Kulturgeschichte der Sowjetmedizin des letzten Jahrhunderts. Dabei gelingt es dem an der Universität Ulm lehrenden Medizinhistoriker, das spärliche Wissen über die Ärzte im totalitären Sowjetsystem um viele Facetten zu ergänzen. Denn bislang war hierzulande allenfalls deren unrühmliche Instrumentalisierung bei der Kontrolle von Dissidenten in der Psychiatrie in den Zeiten des Kalten Krieges ein Thema.

Dieser glänzend geschriebenen Habilitationsschrift gelingt jedoch noch viel mehr. Am Beispiel Sowjetrusslands wird vorgeführt, wie brandgefährlich es ist, wenn Ärzte auf den Staat verpflichtet werden. Das geschah nicht erst formal in dem in den sechziger Jahren eingeführten neuen sowjetischen Ärzteschwur, sondern schon viel früher. Die Politik wusste die Fachkenntnisse der Ärzte pejorativ umzudeuten als Geheimwissen, hinter das es mit Hilfe staatlicher Kontrolle zu kommen galt. Dabei konnte sie an eine zum Teil sogar aus den eigenen Reihen kommende Kritik am ärztlichen Berufsstand aus der vorrevolutionären Zeit anknüpfen.

Bereits 1901 hatte Vikentij V. Veresaev mit seinen "Bekenntnissen eines Arztes" Furore und Stimmung gegen den Ärztestand gemacht, das Buch erlebte vierzehn Auflagen und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Veresaev evoziert das Bild einer Fassade, die die Ärzte vor den Patienten aufbauten, dahinter herrschten Ohnmacht, Zynismus, Verlogenheit und Geldzwänge. Er wurde so zur Leitfigur jener Mediziner, die mit den Mitteln der sozialen Revolution auch die Fehler ihres eigenen Standes kurieren wollten.

Die ärztliche Schweigepflicht wandelte sich in der geschickten Neuinterpretation der Politfunktionäre zu einem Mittel, das die Fehler der Kollegen und des Berufsstandes verheimlichen half. Damit ließ sich für die "Liquidierung des Arztgeheimnisses" argumentieren, das dem überwachenden Zugriff des Staates im Wege stand. Die Forderung nach dem "gläsernen Arztzimmer" wurde so zum wohlbegründeten Anspruch auf mehr Transparenz, auf Überprüfbarkeit ärztlichen Handelns, auf Schutz vor Kurpfuscherei und Willkür. Es gelang, gegen das ärztliche Personal Stimmung zu machen, was in zahlreiche auch gewalttätige Übergriffe und Schauprozesse mündete. Denn die Ärzte und Mitarbeiter im maroden Gesundheitswesen personifizierten alsbald das, was Kranken und Bedürftigen versagt wurde, seien es Therapien oder Rentenansprüche.

Laut einer Statistik der Jahre 1925 und 1926 gingen mehr als neunzig Prozent aller Berufsunfälle der im medizinischen Bereich Tätigen auf Übergriffe von Seiten der Patienten zurück. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wurde unterhöhlt, ein Regime der Überwachung und Reglementierung aufgebaut. Denn das Versprechen auf Leidensfreiheit war nicht ohne Verhaltensprophylaxe zu haben. Der Präventionsgedanke aber war der politisch-ideologische Kern der Gesundheitsversorgung, sämtliche Einrichtungen wurden dem Ziel einer flächendeckenden Hygiene verpflichtet, die Sauberkeit in jeder Hinsicht verordnete. Die harmlose Variante der Prävention dürften noch die Massenimpfungen und Reihenuntersuchungen gewesen sein. Aber die Kontrolle ging weiter, bis hin zur Meldepflicht von Geschlechtskrankheiten, Alkoholismus und Missgeburten, die Beobachtung von Risikogruppen und deviantem Verhalten.

Polianski macht anhand zahlreicher, plastisch geschilderter Beispiele die Beklemmung jener Jahre regelrecht fühlbar. Die Lage der Ärzte verbesserte sich erst infolge des Zweiten Weltkrieges, nicht zuletzt weil die medizinische Versorgung unerlässlich war, um die Kampfmoral der Truppe aufrechtzuerhalten. Die Aufwertung hielt auch nach dem Krieg an, allerdings nicht ohne die Ärzte weiterhin auf die kommunistische Partei zu verpflichten. Man muss das eher knappe Eingehen auf den Missbrauch der Sowjetpsychiatrie nicht beklagen, das bieten andere Quellen. Das Buch entlarvt dafür die Sprengsätze, die sich hinter dem Ruf nach mehr Transparenz in der Medizin und Qualitätskontrolle von Ärzten eben auch verbergen können.

MARTINA LENZEN-SCHULTE.

Igor J. Polianski: "Das Schweigen der Ärzte". Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015. 439 S., Abb., br., 68,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"... wird auf lange Sicht ein Standardwerk bleiben." Björn Felder H-Soz-Kult, 08.06.2016