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Drei Jahrzehnte nach ihrem Tod öffneten sich die Archive und gaben Ingeborg Bachmanns persönlichste Gedichte preis. Sie sind das eindrucksvolle Zeugnis einer sensiblen Beobachterin und ihres tragischen Lebens; gezeichnet von Trauer um die verlorengegangene Poesie und von abgründiger Sprachlosigkeit.

Produktbeschreibung
Drei Jahrzehnte nach ihrem Tod öffneten sich die Archive und gaben Ingeborg Bachmanns persönlichste Gedichte preis. Sie sind das eindrucksvolle Zeugnis einer sensiblen Beobachterin und ihres tragischen Lebens; gezeichnet von Trauer um die verlorengegangene Poesie und von abgründiger Sprachlosigkeit.
Autorenporträt
Ingeborg Bachmann, geb. 1926 in Klagenfurt, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der deutschsprachigen Nachkriegsgeneration. Ihr Werk umfaßt Romane, Kurzprosa und Lyrik, aber auch Übersetzungen aus dem Italienischen. 1964 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen. Sie starb 1973 in Rom.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Ernst Osterkamp hat einiges gegen diese Edition einzuwenden, nichts jedoch gegen die Veröffentlichung der Gedichte selbst. Wenn Ingeborg Bachmann nicht gewollt hätte, dass diese Texte je an Leser gelangen, hätte sie sie verbrannt. In jedem gesperrten Nachlass, so Osterkamp, wittere die Lesergemeinde außerdem ein furchtbares Geheimnis, "oder schlimmer noch, das ihr vorenthaltene Eigentliche". Deshalb seien solche Publikationen durchaus heilsam, da die Leser nun einsehen könnten, dass sie das "Eigentliche" längst in Gestalt des autorisierten Werkes besäßen. Bei den Gedichten fällt dem Rezensenten die Vorstellung schwer, dass sie von derselben Dichterin wie "Die gestundete Zeit" stammen. Sie haben ihn trotzdem bewegt, da in den Texten "eine der großen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts" diese künstlerische Ohnmacht reflektiert würden. Gleichzeitig warnt Osterkamp davor, in den Gedichten "Seelenprotokolle" oder "Lebensdokumente" zu sehen, denn der "Gestus der Unmittelbarkeit" sei zunächst auch nur ein ästhetischer Gestus. Bei aller Selbstentblößung seien diese Gedichte zugleich "ungeheuer diskret". Mit der editorischen Betreuung des Bandes geht Osterkamp dann hart ins Gericht. 27 Jahre hätten die Leser auf die Veröffentlichung der Gedichte warten müssen, nun würden sie plötzlich "herausgeramscht". Keine Sacherläuterungen, keine Datierung, "obgleich dies leicht möglich gewesen wäre", kein Wort zur Textanordnung. Zwar seien Manuskripte faksimiliert, "nicht aber die Typoskripte", die auch handschriftliche Korrekturen enthielten. Mit dieser Edition, findet der Rezensent, wird der "Enthistorisierung und Mythisierung" Ingeborg Bachmanns Vorschub geleistet, was ein "Ärgernis" ist.

© Perlentaucher Medien GmbH"
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2000

Dokumente wahnsinnsnaher Verzweiflung
Zur Edition von Ingeborg Bachmanns unveröffentlichten Gedichten aus dem Nachlass
Ingeborg Bachmanns „aufwühlendes poetisches Vermächtnis” nennt der Verlag die ungefähr hundert gedichtartigen Texte, die hier erstmals (bis auf acht, die bereits publiziert vorliegen) an die Öffentlichkeit gelangen. Doch als Vermächtnis – soweit diesem Orgelton-Begriff etwas Hochsinniges, etwas Nobel-Verpflichtendes innewohnt – lassen sich die Texte kaum bezeichnen. Sie sind nämlich weitaus beklemmender, darum auch aufregender, als edle Synthesen oder testamentartige Beschwörungen. Freilich: Verglichen mit den Höhepunkten aus Ingeborg Bachmanns lyrischem Werk wirken die nun veröffentlichten Gedichte, Gedicht-Ansätze, Fragmente, verstörend direkt. Man trifft auf Ungeschicktes, wie im Rausch (auch im Rausch des Selbst-Ekels oder der Rache-Phantasien) Hingeschriebenes. Einem Bachmann-Schock wird hier die Bachmann-Gemeinde ausgesetzt. Beim zweiten Lesen fragt man kaum mehr nach der Sprachkunst der Autorin – sondern viel- mehr nach ihrer seelischen Not. Stößt dabei gewiss auch auf Visionäres, Verzweifelt-Vollendet-Formuliertes . . .
Die Behauptung, Ingeborg Bachmann sei unsere größte Lyrikerin in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts gewesen, dürfte kaum bestritten werden. Nur: Was helfen solche plakativen Informationen jenen jüngeren Lesern, deren intellektuelles Leben womöglich erst nach Ingeborg Bachmanns Todesjahr (1973) begann? Aller literarischer Ruhm verrät auch wenig über den Glanz, der die junge Ingeborg Bachmann umgab. Wer sie erleben durfte als Gesunde, Unverstörte, als gut, ja elegant Gekleidete, als noble und manchmal kapriziöse Prinzessin des Literatur-Betriebs, der fühlte ganz unmittelbar: eine „Dichterin”. Man muss das mitbedenken, um ihren sonst kaum verstehbaren, höllisch tiefen Sturz in Erniedrigung und Wahnsinns-Verzweiflung halbwegs begreifen zu können . . . Von Max Frisch, vom Leben, vom „Bösen” tief gekränkt, versuchte sie nur mehr in ihren Prosa-Projekten Halt zu finden. Aber ausdrücklich nie mehr (und der Entschluss dazu war schon lange gereift) in mehr oder weniger wohllautender Lyrik. „Keine Delikatessen”. Natürlich ist Ingeborg Bachmann von Anfang an Prosaistin, Hörspiel-Autorin, Librettistin gewesen. Auch hatte sich ihre Gedicht-Produktion in den frühen fünfziger Jahren keineswegs nur gewandt an feinsinnige, auf „Delikatessen” erpichte Gourmets. Denn die Lyrik der jungen Ingeborg Bachmann war kein schwärmerisches Kunst-Gewerbe, sondern sie traf und betraf machtvoll die Empfänglichkeit ihrer Leser. Meisterhaft vermochte die Dichterin beispielsweise in vier Versen eine Blumen/Dornen-Metapher und eine Donner-Gewitter-Blitz-Steigerung zusammenzufügen: „Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen, / ist die Nacht von Dornen erhellt, und der Donner / des Laubs, das so leise war in den Büschen, / folgt uns jetzt auf dem Fuß. ” Unvergesslich berührten auch die überraschenden Antithesen ihres „Alle Tage”-Gedichts, wo es um einen Stern geht, der verliehen wird für die Flucht vor den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger
Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
Solche Verse gelangen ihr, vielleicht nur ihr. Dann aber wollte die Dichterin keine derartige Lyrik mehr produzieren. Darauf – um 1960 – kam es zur Lebens- wie Schreibkatastrophe. Bittere Trennung von Max Frisch. Nicht bloß verlassen fühlte sie sich, sondern verraten, ausgenützt, literarisch (im Roman Mein Name sei Gantenbein) verspottet. Schlafmittel. Sedativa. Alkohol. In römischen Apotheken, so ist es in einer jüngst erschienenen Bachmann-Monographie nachzulesen, bekam sie nichts mehr. Freunde oder Bekannte springen „helfend” ein. Tausende Seiten faszinierender Todesarten-Prosa entstehen. Dazu kommt eben auch – in der Zeit zwischen 1962 und 1964 – die Niederschrift jener mehr als hundert Gedicht-Texte, die nun zur Besichtigung freigegeben worden sind.
„Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz/aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr” – heißt es in „Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen”(S.11). Für die unglückliche Dichterin wird die Paradoxie, ihrer vermeintlichen Sprechunfähigkeit mit Worten doch irgendwie Herr zu werden, zum immer wiederkehrenden Thema. Grimmig versucht sie ihrer Aphasie auf die Schliche zu kommen: „Ich habe nicht geschwiegen, / weil Schweigen gut und schön ist, / ich hatte nichts mehr zu sagen. ” Aber diese Selbstbezichtigung ist ungerecht, auch simplifizierend. So karg ging das keineswegs zu. Der Vorgang ihres Wortlos-Werdens war ein blutiger Prozess. „du gehst unter, / du mußt etwas dagegen sagen, Dir / den andren das übliche sagen, wie geht es / und danke gut, / gutt gutt gutt in einer Lache Blut, / das tropft gutt gutt, bei Lebensgefahr/ mit der offenen Schlagader / nichts zu machen” (S.147).
Bei solchen Texten bewegt und verstört die (partiell sogar noch gereimte) aberwitzige Direktheit der Mitteilung. Jemand weiß, er muss sprechen, will sprechen. Und kann es nicht, erstickend am eigenen Blut. . .
Wo die gepeinigte Autorin sich völlig verwirrt, wo sie schlechthin nicht weiter kann, nicht mehr „Herrin” ist ihrer eigenen Worte und Sätze: Da senken wir Leser tief angerührt den Kopf. Es ist nicht irgendjemand, es ist Ingeborg Bachmann, der solche Verwirrung zustößt:
Ich hab nichts Besseres gewußt
als dich zu lieben, ich hab
nicht gedacht,
daß durch den Schweiß der Haut
die ( – – ) Welt
und daß der Groschen fiel
 Was für eine verwirrte, verbiesterte Verzweiflung! Weniger als solche Schmerz-Verwirrung vermag man gewisse banale Simplizitäten zu begreifen, nachzufühlen. „Um hundert Jahre gealtert an einem Tag. Das zutrauliche Tier ist unter dem Peitschenhieb um die prästabilierte Harmonie gebracht. ” Derartige Formulierungen (ein um die prästabilierte Harmonie gebrachtes Tier) hätte sich unsere sonst so erlesene Autorin, un-verzweifelt, gewiss nicht durchgehen lassen. Auch nicht banal-rechthaberische Aussagen wie „Diese Gesellschaft richtet sich dennoch selbst”, nachdem vorher vom Kapital Zinsen tragender Grausamkeit die Rede war, gegen welche das Kapital eines abnehmenden Schmerzes stehe.
Sucht man freilich bei der großen Lyrikerin keine Lyrik mehr, fragt man weniger nach ihrer Kunst, als nach ihrer Hölle – dann beginnen manche dieser Gedicht-Texte zu faszinieren.
Brecht, der sich übrigens engagiert mit Ingeborg Bachmanns frühen Gedichten beschäftigte, hat einmal gespöttelt, weil irgend ein sehr Unglücklicher sich so schrecklich selbst bemitleide, könne die Umwelt kein Mitleid mehr für ihn aufbringen. Bertolt Brecht hätte demnach mit Ingeborg Bachmanns „Ich weiß keine bessere Welt”-Texten herzlich wenig anfangen können. Oft tönt das Selbstmitleid hier gigantisch. Aber: Es spielt sich nie als Pose auf. Es wirkt darum ebenso authentisch, so legitim, wie die fast pubertären Selbstmord–Überlegungen („Der Tod . . . ist dreißig Tabletten bitter . . . einen Fenstersturz lang”), wie der enthemmte Selbst-Ekel, wie der glühende Leidensrausch. Zudem: diese Verzweifelte schreibt stets so tapfer wie rückhaltlos. Sie sagt wüst alles: „eine Erektion, ein aufgerecktes Glied muß noch in der Welt sein, das in diesem Mund zugut sich nicht ist, die Begier ist unendlich, jeden unter sich, über sich wissen, jeden, der dunkel ist, nur nichts Helles, das Fleisch ist hell genug” (S.78).
Unversehens entsteht hier eine alles fixierende Logbuch-Qualität. Ein gedichtartiges Tagebuch. Daneben gibt es gleichwohl auch Literarisches und Zitathaftes. Oft genug, in immer neuen Versuchen, berufen sich die Gedichte auf Wagners Tristan. Auch die Tosca wird beschworen; sogar später Hölderlin.
Nun äußert Geisteskrankheit bei Komponisten und Dichtern, bei Schumann und Hölderlin, sich bemerkenswerterweise künstlerisch nicht ungemein rasend-wirr. Sondern eher beklommen, verhalten-klassizistisch. Man spürt, jemand versucht sich zu beherrschen. In den Texten der Ingeborg Bachmann begegnet manchmal zumindest Analoges. Einmal bezieht sie sich sogar ausdrücklich auf ein spätes, an Zimmer gerichtetes, Gedicht aus Hölderlins Wahnsinns-Jahren: „Die Linien des Lebens sind verschieden, / Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen. / Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen. / Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden”.
Fast beklommen, fast bieder, fast still variiert es die Bachmann: „Es wird uns nichts ergänzen, nicht hier, nicht dort. ”
Natürlich spürt Ingeborg Bachmann, wie lebensunfähig bloßer Hass machen kann. Doch vermag sie ihn darum auch zu tilgen? Immerhin befähigt sie ihre Professionalität sogar zu manchmal virtuosen Verzweiflungs-Wortspielen an Gedicht-Enden.
Trotzdem: Nichts löscht ihr Gefühl elementaren Verstoßen-, ja Geschändet-Seins aus. Erniedrigung wäre längst kein hinreichender Ausdruck dafür. Sie sieht sich vielmehr ausgeschlossen aus dem sozialen Bereich, glaubt sich nicht mehr auf der Stufe zivilen, menschlichen Seins. Aberwitzige Verzweiflung hat ihr eingegeben, dass nur die „Gesunden” an Ideen leiden, an Blöcken oder Päpsten, an Politischem und Geistigem. Aber nicht die „Kranken”. Denen dreht schon „Gras-Gewimmer” das Herz um. Und: „auch die Mikrobe unter dem Glas, auch das Kaninchen, an dem ein Versuch tödlich ausgeht, das zuckend und vergiftet keine Herrgötter mehr anrufen kann, sind meine Genossen. ”
Beklemmende Lektüre. Wer sie sich schenken will, wie Wilde oder Beckett der Überzeugung, nichts sei so komisch wie das Unglück, der findet hier für seine Verweigerungs-Haltung gute Gründe: So viel Grelles, Banal-Trauriges, Halb-Verrücktes, Geschmackloses, Jammerndes. Zudem wirkt auch die verlegerische Präsentation kaum einladend.
Was ist eigentlich los mit den Bachmann-Nachlass-Herausgebern? Das Todesarten-Projekt (Piper-Verlag) wurde als fünfbändiges, 2962 umfassendes Text-Tollhaus entfesselter Bachmann-Philologie auf den Markt gebracht – ziemlich unzugänglich für nicht-germanistische Leser. Drei Jahre später teilt der verdienstvolle Bachmann-Monograph Hans Höller fünf bislang ungedruckte Gedichte, samt einigen Entwürfen und Vorstufen, nicht etwa angemessen kommentiert mit, sondern ertränkt die knappen Bachmann-Texte in einem ausufernden Essay, als ob es um eine Höller-Vorlesung ginge und nicht um eine Bachmann-Präsentation (Suhrkamp-Verlag). Bei „Ich weiß keine bessere Welt” wiederum, wo immerhin 106 heikle, beziehungsreiche Texte durchaus konkreter Erläuterung bedürfen, lässt der Verlag normale Bachmann-Interessenten schlicht im Stich. Ganze 50 Zeilen Vorwort, wie es offenbar die gestrengen Herausgeber wollten. (Es sind: Ingeborg Bachmanns Schwester Isolde Moser, der Bruder Heinz und der Sohn des Moser-Ehepaares, Christian). Welch unerforschlichem Ratschluss von Herausgebern und Verlag wir diese Gedichte zu verdanken haben, deren Publikation doch eigentlich bis zum Jahr 2025 „gesperrt” gewesen war, es wird auch nicht hinreichend deutlich.
Gewiss, am Schluss finden sich textkritische Einzelheiten, in welcher Form die Gedichte den Herausgebern vorlagen. Doch wahrhaft Nötiges und Hilfreiches fehlt: nämlich erklärende Hinweise, welche die historischen, literarischen, menschlichen Hintergründe dieser Gedichte konkret zu erläutern versuchten. . . Soviel Angst nun plötzlich vor allzu viel Bachmann-Philologie? Als hätte Ingeborg Bachmann nicht unser aller sorgfältige Zuwendung verdient.
JOACHIM KAISER
INGEBORG BACHMANN: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte aus dem Nachlass. Piper Verlag, München 2000. 180 Seiten, 38 Mark.
Ingeborg Bachmann (25. Juni 1926 – 17. Oktober 1973)
Fotografie: Stefan Moses
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Wer ein Messer im Rücken hat, dem fällt keine gepfefferte Metapher ein
In jeder gesperrten Hinterlassenschaft wittert die Lesergemeinde ein furchtbares Geheimnis: Gedichte aus dem Nachlaß von Ingeborg Bachmann / Von Ernst Osterkamp

Gegenüber Nachlaßpublikationen empfiehlt sich die freundliche Gelassenheit des Philologen. Denn er weiß, daß sie unvermeidlich, weil Ausdruck eines erfreulichen Interesses an Werk und Autor sind und daß sie überdies dazu beitragen, Mythenbildungen vorzubeugen, denn in jedem gesperrten Nachlaß wittert die Lesergemeinde ein furchtbares Geheimnis oder, schlimmer noch, das ihr vorenthaltene Eigentliche. Aus diesem Grund sind Nachlaßpublikationen in der Regel heilsam, denn die Leser merken nun, daß sie dies Eigentliche längst in Gestalt der autorisierten Werke besitzen, und können sich diesen beruhigt wieder zuwenden.

Die große Schmerzensfrau Ingeborg Bachmann ist 27 Jahre nach ihrem Tode noch immer, ja vielleicht mehr denn je eine Gestalt, die kultische Verehrung auf sich zieht, und so wollen denn ihre Leser jede erhaltene Zeile der großen Dichterin besitzen. Gut so. Hans Höller hatte völlig recht, als er 1998 in seiner sorgfältigen Edition der "Letzten, unveröffentlichten Gedichte" schrieb: "Traurig das Faktum, daß Texte einer großen Lyrikerin der literarisch interessierten Öffentlichkeit bis heute nicht zugänglich sind." Zwei Jahre später liegen nun die unveröffentlichten Gedichte Ingeborg Bachmanns, die im gesperrten Teil des Nachlasses aufbewahrt wurden, im Druck vor. Kaum ein Vers dieses überraschend umfangreichen Konvoluts hält künstlerisch den Vergleich mit den veröffentlichten Gedichten aus. Doch setzt dieser Befund Höllers Forderung keineswegs ins Unrecht. Denn wer diese Gedichte liest, hat niemals den Eindruck, daß sie den Vergleich mit den früheren Gedichten Ingeborg Bachmanns auch nur anstreben. Tatsächlich fällt es schwer, sich vorzustellen, daß "Die gestundete Zeit", "Anrufung des Großen Bären" und diese Texte überhaupt dieselbe Verfasserin haben. Bewegend werden sie dadurch, daß Ingeborg Bachmann, eine der großen Lyrikerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts, diese künstlerische Ohnmacht in ihnen selbst reflektiert.

"Geschrieben wurden diese Gedichte", so die Geschwister und Erben der Dichterin in ihrem knappen Vorwort, "in Zürich, Berlin und Rom, den Lebensstationen Ingeborgs der letzten Jahre, in der Zeit zwischen 1962 und 1964, einige auch später." Sie entstanden also während der Lebenskrise nach der Trennung von Max Frisch. Man erinnert ungern an diese biographischen Fakten: nicht nur, weil sie zum gängigen Wissen auch derer gehören, die sonst von Ingeborg Bachmann nichts wissen, sondern weil die Ursache des Schmerzes in den Gedichten selbst eine Leerstelle bleibt. Sie erscheint wie ausgelöscht. Diese Gedichte sind Poesie einer furchtbaren Einsamkeit; sehr selten nur wird in ihnen ein Du angesprochen, und wenn, so bleibt es ohne jede biographische Konturierung. Darin sind diese Gedichte, bei allem Pathos der seelischen Selbstentblößung, zugleich ungeheuer diskret. Allerdings steigt aus dieser Leerstelle beim Leser auch die Überzeugung auf, daß das seelische Elend, das sich in diesen Gedichten ausspricht und in ihnen bewältigt werden soll, sehr viel komplexeren Ursprungs ist, als daß es auf nur eine Ursache zurückgeführt werden dürfte.

Die große Opernkennerin Ingeborg Bachmann hat die Hilfe von Opernrollen nicht verschmäht, um ihr Gefühl durch Modelle bewältigen und ihm eine Form geben zu können. Als sie am Ende eines langen Gedichts vom Haß überwältigt zu werden droht ("Wenn ich aber fühle und hasse, wenn der Haß mich / irrsinnig macht, weil ich so sehr hasse, wenn ich / auf ewig hasse, wie soll ich leben."), hat sie plötzlich das Bild der Tosca vor Augen, die, von der Terrasse der Engelsburg springend, den Mörder ihrer Liebe vor den ewigen Richter zitiert: "O Scarpia, davanti a Dio." Die große heroische Rolle der Diva aber trägt nicht mehr; sie ist nur noch der allzu weite Mantel, in dem sich die Sehnsucht nach Selbsterlösung durch Selbstauslöschung verbirgt. Der Triumph über den Peiniger, den die Rolle der Tosca verspricht, findet schon deshalb nicht mehr statt, weil sie sich selbst viel zu sehr mit ihm identifiziert hat. In einem kleinen Gedicht - es gehört zu den bewegendsten Stücken des Bandes - nimmt Ingeborg Bachmann das Tosca-Motiv wieder auf: "Von der obersten Terrasse / habe ich springen wollen, / zu Fuß bin ich Hintertreppe / hinaufgegangen, für die / Dienstboten und habe an der Tür / gehorcht, auf das Lachen in / meinen Zimmern, das hat mich ent- / mutigt. Einen Leichnam, gleich / nach dem Frühstück, hättest du / schlecht ertragen," - so endet der Text, mit einem Komma, um dann ins Schweigen umzuschlagen. Die Wirklichkeit ist zu elend, als daß die repräsentative Geste der Oper ihr noch gemäß sein könnte, und mit dieser Einsicht schwindet zugleich der Trost, der aus der suizidären Phantasie erwachsen sollte.

Kein Motiv hat Ingeborg Bachmann in diesen nachgelassenen Texten so vielfach umspielt wie den Liebestod der Isolde. Schon beim ersten Mal verbindet es sich mit dem Thema des künstlerischen Scheiterns. In einer langen Rhapsodie über das Verschwinden, das Schweigen und den Verlust taucht die Tristan-Anspielung plötzlich auf wie der letzte Nachhall eines Glücksversprechens, das in die Katastrophe geführt hat: "und bettle und wein, / seht ihr's, aber ich hab / nicht die große Musik / die abführt einen der den Abgang / nicht findet, in den Schlaf, / in den Tod." Hier wird das "Seht ihr's, Freunde? / Seht ihr's nicht?" aus Isoldes Liebestod zitiert, jene strahlende Vision der Wiederbelebung des Geliebten aus der Kraft des lebendigen Gefühls, die der Vereinigung im Tode vorangeht.

Das Zitat wird von der Dichterin in seine bedrückendste Variante abgewandelt: Nicht nur ist dies ein Tristan-Zitat ohne Tristan, denn die Gestalt dessen, um den hier Klage geführt wird, wird verschwiegen, so daß die Geste des "Seht ihr's?" allein auf die Klagende selbst und ihr gleichsam ins Leere gehendes Betteln und Weinen hindeutet. Überdies wird das "nicht" aus dem Zitat ("Seht ihr's nicht?") in den nächsten Vers hineingenommen und damit Teil des Einbekenntnisses eines Unvermögens zur künstlerischen Gestaltung des Schmerzes: "ich hab / nicht die große Musik." Dies ist mehr als nur ein Vergleich mit der Überwältigungsästhetik Wagners, dies ist vor allem ein Vergleich mit der Künstlerin, die Ingeborg Bachmann gewesen war: mit der Wortmusik und dem Klangzauber ihrer früheren Gedichte, zu denen sie nicht mehr fähig war, weil in diesen Formen künstlerischer Sublimierung ihr Schmerz keine Beruhigung mehr finden konnte: "ich flattere auf Fetzen / den Weg daher, dahin, da / wickelt einer sein blutiges / Messer hinein, damit's niemand / sieht."

Ingeborg Bachmann hat uns nicht die Lektüre dieser Texte verwehrt (denn sonst hätte sie sie verbrannt), sie hat uns aber den Vergleich dieser Poesie aus Fetzen mit den vollendeten poetischen Gebilden ihrer früheren Jahre verwehrt. Sie hatte die große Musik nicht mehr, und dies war ihr vollkommen bewußt. Diese poetischen Fragmente und Entwürfe sind in einer zerbrechenden, stammelnden, dem Schweigen abgetrotzten Sprache abgefaßt - als Entsprechung zum zerbrechenden Gefühl: "Seht ihr Freunde, seht ihrs nicht! / daß ichs nicht überlebt / auch nicht überstanden habe, seht ihrs nicht, / daß ich einwärts gehe, daß / fürderhin einwärts rede, daß / ich mein Wort einziehe." Tristan wird in diesen Versen ausgelöscht; zurück bleibt ein einsames Ich als Figur alles umfassender Klage. Diese Klage weist nicht über sich hinaus, weist immer wieder auf sich selbst zurück, und die Tristan-Motive dienen nur noch dazu, ihr einen universalisierenden Duktus zu verleihen. "Tot ist alles, alles tot." Mit diesen Worten König Markes leitet Ingeborg Bachmann noch eine "Trostarie" (ein berühmter Gedichttitel Johann Christian Günthers) ein. Weil ihm widerfahren ist, was ihm widerfahren ist, rechnet das Ich dieser Gedichte die Wirklichkeit zu einer Welt totaler Lieblosigkeit hoch, in die kein Hoffnungsstrahl fällt: kein Trost, keine Utopie, "verbraucht die drei Brosamen / Glaube Hoffnung und Liebe".

Viele dieser Texte lesen sich wie kaum verstellte Notschreie einer Frau, die von sich sagen konnte: "Mir leuchtet ein, was letzte Tage sind." Dennoch bleibt der Satz "Laßt mich sterben", mit dem Ingeborg Bachmann hier ein Gedicht eröffnet, ein kalkuliert eingesetztes Zitat, und man sollte sich deshalb davor hüten, diese Verse vorschnell in autobiographischen Klartext zu übersetzen. Ingeborg Bachmann vergißt auch bei diesen Gedichtentwürfen, die oft wie mit fliegender Feder aufs Papier geworfen erscheinen, nicht das poetische Kalkül. Sie arbeitet gerade dann am Text, wenn sie an den Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit angekommen zu sein scheint: "Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen. / Ich suche sie in allen Zimmerwinkeln. / Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz / aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr." Natürlich weiß die Dichterin, daß der Unsagbarkeitstopos ein (allzu) bewährtes Verfahren ästhetischer Beglaubigung ist; wer darüber klagt, seinen Schmerz nicht aufschreiben zu können, schreibt ihn gerade damit auf. Deshalb gibt es für den Beginn dieses Gedichtes, das den Verlust der Gedichte betrauert, auch noch zwei weitere Entwürfe, die der Band ebenfalls abdruckt.

Wer ein Messer im Rücken hat, so heißt es in diesem Gedicht, dem fällt keine "gepfefferte Metapher" ein. Das Gedicht reflektiert damit sein poetisches Verfahren und ist deshalb nicht mit jener Art Schmerzensschrei zu verwechseln, die man ausstößt, wenn man tatsächlich ein Messer im Rücken hat. Jenseits aller Qualitätsurteile sind also die Leser, die der Hunger aufs Authentische treibt, auch im Falle dieser Fragmente und Entwürfe daran zu erinnern, daß sie von einer Dichterin stammen, die genau wußte, was Arbeit am Text ist. Die Absage an Metaphern und "schöne Worte" verleiht diesen Gedichten noch nicht den Charakter von Seelenprotokollen und Lebensdokumenten, und der Gestus der Unmittelbarkeit ist zunächst auch nur ein ästhetischer Gestus.

In seiner Edition der "Letzten, unveröffentlichten Gedichte" hat Hans Höller gezeigt, wie vieler Fassungen es bei Ingeborg Bachmann bedurfte, bis ihr ein Gedicht druckfertig erschien. Unter den nun aus dem Nachlaß veröffentlichten Gedichten ist keines erkennbar, das den Status der Druckfertigkeit erlangt hätte, und nur von wenigen gibt es unterschiedliche Fassungen. Dennoch ist auch hier anhand einer Vielzahl von Motivverkettungen und von Wiederaufnahmen einzelner Verse oder Versgruppen in unterschiedlichen Gedichten zu erkennen, wie überlegt die Dichterin selbst unter dem Druck seelischer Gefährdung noch am Text gearbeitet hat. (Was durchaus nicht heißt, daß die Resultate künstlerisch überzeugend wären.) Diese poetische Textarbeit, die Vernetzung der Themen, Motive und Argumentationsfiguren sowie die textgenetischen Zusammenhänge müssen erst rekonstruiert werden, bevor man diese Gedichte vorschnell als biographische Quelle liest. Die Ausgabe bietet dem Leser dabei freilich keine große Hilfe.

Die editorische Betreuung des Bandes ist beklagenswert. Die Leser haben 27 Jahre lang auf diese Gedichte gewartet, und nun werden sie plötzlich herausgeramscht, als hätten die Leser nicht auch noch ein 28. Jahr warten können, wenn ihnen dafür eine sorgfältige Ausgabe geboten worden wäre. Was hier Edition heißt, sagt das knappe Vorwort: "Die Texte wurden lesbar gemacht, ohne einer textkritischen Edition vorgreifen zu wollen."

Abgedruckt werden also Transkriptionen der Handschriften beziehungsweise Typoskripte der Dichterin, wobei in den Manuskripten enthaltene Korrekturen und Varianten in den Anmerkungen dokumentiert werden. Da die Handschrift der Dichterin schwer lesbar ist und an manchen Stellen nicht entziffert werden konnte, wurden die Handschriften der Gedichte faksimiliert, nicht aber die Typoskripte, obgleich auch sie handschriftliche Korrekturen enthalten. Es findet sich kein begründendes Wort zur Textanordnung. Wenn die Texte, wie es im Vorwort heißt, nicht datiert sind, also eine "genaue chronologische Zuordnung" "nicht rekonstruierbar" ist, nach welchen Kriterien ist dann die Reihung der Gedichte im Druck erfolgt? Warum hat man auf eine Rekonstruktion der Entstehungsdaten auch dort verzichtet, wo sie aufgrund textinterner oder textexterner Kriterien und Daten leicht möglich wäre? Warum fehlen alle Angaben zu den Papieren, die ja ebenfalls Zuordnungen von Textgruppen ermöglichen? Das Gedicht "Zürichsee" zum Beispiel ("Zwei drei große stumme Schiffe ziehen vorbei / der Steuerbescheid, Ummeldung getan") hat Ingeborg Bachmann auf die Rückseite eines Formbriefs des Steueramts der Stadt Zürich ("Wichtig für Wegziehende") geschrieben, was Aufschlüsse nicht nur zur Datierung, sondern auch zum poetischen Verfahren gewährt. Kein Wort zum Papier und dem, was sich aus ihm erschließen läßt, in den Anmerkungen! Denn sie enthalten außer den Textvarianten: nichts.

Die Ausgabe bietet also nichts von dem, was man heute keineswegs allein von einer textkritischen Edition, sondern von jeder ganz normalen Leseausgabe erwarten darf. Sie gibt keine einzige Sacherläuterung; sie sagt also zum Beispiel im Falle des Gedichts "In memoriam K. A. Hartmann" nicht, daß der Komponist am 5. Dezember 1963 starb, das Gedicht also kurz darauf entstanden sein dürfte, und sie sagt auch nichts darüber, welche Bedeutung Hartmann für die Dichterin besessen hat. Sie identifiziert nicht ein einziges Zitat, obgleich Zitate für die dichterische Technik Bachmanns von zentraler Bedeutung sind. Sie teilt dem Leser nicht mit, wer "Frau Bachmann" auf das Manuskript des Gedichts "Das Narrenwort" geschrieben haben könnte, ja, sie verzeichnet den Tatbestand selbst nicht einmal in den Anmerkungen. Sie unterbreitet auch dort keine Datierungsvorschläge, wo diese leicht vorzunehmen wären; im Gedicht "Toteninsel" zum Beispiel verbindet die Dichterin das Scheitern ihrer Träume mit der Bildwelt eines Konklave im Vatikan, es dürfte im Jahre 1963, zur Zeit der Wahl Pauls VI. zum Nachfolger Johannes' XXIII., entstanden sein. Ingeborg Bachmann leiht sich ein Motto von Gaspara Stampa, und die Ausgabe sagt nichts über diese Dichterin und die Herkunft des Zitats.

Mit alldem leistet diese Edition der Enthistorisierung und Mythisierung Ingeborg Bachmanns Vorschub, und dies ist ein Ärgernis. Die Leistung der Philologie besteht im Schutz literarischer Texte, und diesen Schutz sollte man nicht zuletzt solchen Texten gewähren, die man aufgrund ihrer inneren Problematik nur zögernd der Öffentlichkeit vorlegt.

Ingeborg Bachmann: "Ich weiß keine bessere Welt". Unveröffentlichte Gedichte". Herausgegeben von Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser. Piper Verlag, München und Zürich 2000. 195 S., geb., 38,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Sie hat ihre Gedichte größtenteils nicht abgeschlossen, aber sie hat sie auch nicht vernichtet. Dafür können wir ihr nicht genug dankbar sein." (Die Welt)