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Eine Mutter wartet auf ihren Sohn. 62 Jahre zuvor ist er von den Nazis aus Gorizia in der Nähe von Triest entführt worden. Hier hatte sie als junges Mädchen eine Affäre mit einem SS-Offizier. Anders als der Rest ihrer jüdischen Familie hat sie überlebt - und jahrzehntelang nach ihrem Sohn gesucht. Bei ihrer Suche stößt sie auf andere Schicksale, liest Zeugenaussagen, betrachtet Fotos und Erinnerungsstücke.
Dasa Drndic zeigt die Mechanismen des Bösen auf, führt vor, wie aus gewöhnlichen Menschen Verbrecher wurden und schreibt gegen das Vergessen und die Vertuschung an. Sie beschwört die
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Produktbeschreibung
Eine Mutter wartet auf ihren Sohn. 62 Jahre zuvor ist er von den Nazis aus Gorizia in der Nähe von Triest entführt worden. Hier hatte sie als junges Mädchen eine Affäre mit einem SS-Offizier. Anders als der Rest ihrer jüdischen Familie hat sie überlebt - und jahrzehntelang nach ihrem Sohn gesucht. Bei ihrer Suche stößt sie auf andere Schicksale, liest Zeugenaussagen, betrachtet Fotos und Erinnerungsstücke.

Dasa Drndic zeigt die Mechanismen des Bösen auf, führt vor, wie aus gewöhnlichen Menschen Verbrecher wurden und schreibt gegen das Vergessen und die Vertuschung an. Sie beschwört die Vergangenheit herauf und verflucht in Sebaldscher Manier Fakt und Fiktion, um sich dem zu nähern, was die Wahrheit sein könnte.
Autorenporträt
Drndic, Dasa
Dasa Drndic, geboren 1946 in Zagreb, war eine der wichtigsten kroatischen Autorinnen. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ihr Roman Sonnenschein (Hoffmann und Campe 2015) war für den Internationalen Literaturpreis nominiert und wurde mit den renommierten Literaturpreisen Fran Galovic, Kiklop und dem Independent Foreign Fiction Readers' Prize ausgezeichnet. Drndic verstarb am 5. Juni 2018 in Rijeka.

Döbert, Brigitte
Brigitte Döbert, geboren 1959, lebt in Berlin. Sie übersetzt bosnische, kroatische und serbische Belletristik, unter anderem Dzevad Karahasan, Bora Cosic sowie das Werk von Miljenko Jergovic, und Sachbücher aus dem Englischen, unter anderem Stephen Kinzer, Jeremy Rifkin oder Robert J. Shiller.

Stipetic, Blanka
Blanka Stipetic, geb. 1967 in Serbien, lebt in Berlin und arbeitet als freie Autorin und Literaturübersetzerin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2015

Der Tag, an dem der Sohn des Untersturmführers verschwand
Die kroatische Autorin Dasa Drndic mischt in ihrem Roman über die Affäre zwischen einem SS-Offizier und einer Jüdin Fiktion und dokumentarisches Material

Siebzig Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau erinnern wir uns daran, was wir über den Holocaust wissen. Aber vielleicht ist es wichtiger, sich die Leerstellen in Erinnerung zu rufen, die vergessenen Schicksale und die vielen unbekannten Toten, um zu verstehen, dass der Holocaust nie vollständig aufzuarbeiten ist und deshalb keine abschließende Bewertung erlaubt. Solange die Überlebenden der Schoa noch sprechen können, werden wir nicht aufhören zu fragen. Aber was kommt danach?

Die Literatur ist vielleicht das beste Medium, um sich gegen das Vergessen zu stemmen. Sie muss die Schrecken der Vernichtung nicht in geordnete Bahnen leiten. Sie muss nicht wie ein Geschichtsbuch das Unerklärliche verständlich machen, sondern kann sich ohnmächtig gegenüber der Geschichte zeigen, die sich einem roten Erzählfaden widersetzt. Die kroatische Schriftstellerin Dasa Drndic, 1946 in Zagreb geboren, macht es vor: Sie hat mit dem halbfiktiven Roman "Sonnenschein" ein mahnendes Porträt geschrieben, in dem sie die offenen Bruchstellen des Holocaust zusammenfügt und in einem unentwirrbaren Knoten aus Fotos, biographischen Erinnerungen und erfundenen Erlebnissen die nationalsozialistischen Greueltaten zur Sprache bringt.

Der Roman handelt von Haya Tedeschi, die 1922 in dem italienischen Ort Gorizia geboren wird, nahe der slowenischen Grenze. Sie ist Tochter von zwei Juden, Ada Baar und Florian Tedeschi. Der Ort Gorizia ist ein Brennglas der europäischen Geschichte: Bis zum Ersten Weltkrieg gehört er zur österreichisch-ungarischen Monarchie; danach fällt er an Italien; nach dem Zweiten Weltkrieg wird er zerteilt. Der östliche Part gehört jetzt zu Jugoslawien und der westliche zu Italien. Gorizia steht für das ewige Hin und Her der Geschichte, für historische Schmerzen, aber auch für das Verlieren, Auslöschen und Wiedererobern einer multikulturellen Identität.

Der erste Teil des Buches berichtet lakonisch vom langsamen Zerfall des Ortes und der Vernichtung jüdischen Lebens durch die Nationalsozialisten. Menschen werden eingesperrt, gefoltert, deportiert. Die Familie Tedeschi muss, nachdem der Vater seinen Job als Banker verliert, fliehen: erst nach Albanien, dann nach Italien. Haya versteckt sich in Gorizia. Sie betreibt einen Kiosk und versucht, ein normales Leben zu führen. Eines Tages passiert etwas Unerwartetes: Ein gutaussehender Deutscher betritt den Laden. Sein Name ist Kurt Franz, er ist SS-Untersturmführer. Beide verlieben sich ineinander; kurz danach ist Haya schwanger.

Doch Kurt Franz kehrt zu seiner deutschen Ehefrau zurück, um einen hohen Posten in Treblinka anzutreten. Haya bleibt zurück mit ihrem neugeborenen Sohn Antonio. Fünf Monate nach der Geburt bekommt Haya Tedeschis Leben eine neue Wendung: Eines Morgens, als sie einen Brief von ihrer geflohenen Familie aus Mailand bekommt, raubt jemand auf offener Straße ihr Kind. Die ganze Stadt Gorizia ist auf den Beinen, aber Antonio bleibt unauffindbar. Selbst die Rückkehr der Tedeschi-Überlebenden nach dem Krieg kann ihren Schmerz nicht mindern: Ihre Familie ist entzweit, viele Angehörige wurden von den Nazis ermordet oder kommen als kranke, zerstörte Gestalten zurück. Haya muss damit zurechtkommen - und mit der Erkenntnis, dass ihr einziger Sohn verschollen ist.

Dasa Drndic bedient sich der Fiktion, um die Leben von Haya Tedeschi und Kurt Franz zusammenzuführen. Die Geschichte von Haya basiert zum Teil auf der Darstellung von Fulvia Schiff, einer Jüdin aus Triest. Die Partnerschaft zwischen dem SS-Mann und Haya ist jedoch erfunden. Die Konsequenzen dieser Verbindung bilden den abschließenden Teil des Buches: Haya erfährt nach dem Krieg, dass der Vater ihres Sohnes Lagerkommandant im KZ Treblinka war, eine der grausamsten Gestalten, die im Nationalsozialismus ihr verbrecherisches, sadistisches Unwesen trieben. Der letzte Teil ist ein Versuch, die von Kurt Franz und anderen SS-Leuten begangenen Verbrechen in Treblinka zu beschreiben. Ein Versuch, den Opfern eine Stimme zu geben und zugleich die Greueltaten zu reflektieren.

Dasa Drndic, deren Roman "Sonnenschein" jetzt in zwölf Sprachen übersetzt wurde, wählt eine Strategie der konstanten Fragmentarisierung: Sie verbindet Auszüge aus Romanen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, verknüpft sie mit Gedichten über die Schoa und stellt individuelle Leidenstexte von Opfern aus Treblinka den Täterprofilen gegenüber. Daraus entsteht ein Flickenteppich aus Fakten und Fiktion. Immer wieder fügt die Autorin in kursiver Schrift Erlebnisberichte von Überlebenden hinzu und macht auf die Ungerechtigkeiten aufmerksam, welche die Opfer nach dem Krieg ertragen, während zahlreiche deutsche Schlächter aus gesundheitlichen Gründen ihre Zellen früh verlassen durften, um es sich später im Ausland oder in Altersheimen gemütlich zu machen - zum Teil finanziert von deutschen Stiftungen wie der Organisation "Stille Hilfe".

Dabei bekommt der Leser auch einen Einblick in den sadistischen Charakter von Kurt Franz, über den ein Richter bei dessen Prozess 1965 Folgendes schrieb: "Er verfügte über einen derartigen Sadismus, dass die menschliche Phantasie kaum ausreicht, um sich die Untaten überhaupt vorstellen zu können ... Er misshandelte, boxte, prügelte und tötete, wenn es ihm Spaß machte. Er fand nichts dabei, wenn sein Hund Barry sich auf seinen Zuruf auf die hilflosen Juden stürzte, sie zu Boden warf und sie in seiner Anwesenheit zerfleischte."

Das alles wird mit einer zweiten Perspektive verbunden, nämlich der Perspektive von Antonio Tedeschi. Wie sich herausstellt, ist er nach der Entführung einer deutschen Leihmutter zugeteilt worden, einer SS-Frau. Sie erzählt ihm erst 1998 am Sterbebett, dass er adoptiert wurde. Viel schlimmer noch: Er muss erfahren, dass er der Sohn von Kurt Franz ist, Fleisch und Blut eines Schlächters. Sowohl Antonio Tedeschi als auch Haya versuchen mit Hilfe von internationalen Organisationen, sich gegenseitig zu finden. Doch die Mühlen der Verwaltung mahlen langsam. Die Begegnung spart der Roman jedoch aus.

Es ist eine Geschichte, die paradigmatisch für Tausende Kinder steht, die ihren Müttern entrissen und zur Adoption freigegeben wurden. Viele davon suchen bis heute ihre leiblichen Eltern. Dasa Drndic bezieht sich dabei auf das Projekt "Lebensborn": Unter diesem Namen firmierten Heime der SS, in die arisch aussehende Kinder kamen, die in den besetzten Gebieten entführt wurden - mit dem Ziel, sie zu ,nordischen Prachtmenschen' zu erziehen.

Trotz dieser starken Familiengeschichte sind die Fragment-Berichte über die Greueltaten in Treblinka die intensivsten und zugleich eindrücklichsten Stellen des Buches. Sie erscheinen im Text wie mahnende Worte, die den Fluss der Schilderungen unterbrechen. Man erfährt von unfassbaren Einzelschicksalen und der Brutalität der SS-Schergen. Die Biographie von Josef Hirtreiter ist nur ein Beispiel von vielen: "SS-Scharführer. Niedriger Intelligenzquotient. Ab 1932 Mitglied der NSDAP. Sein Spezialgebiet - das Töten einjähriger und zweijähriger Kinder: beim Entladen der Transporte packt er die Kinder an den Füßen und schleudert sie gegen den Viehwaggon. Im Prozess in Frankfurt zu lebenslanger Haft verurteilt. Wegen Krankheit 1977 aus der Haft entlassen. Er stirbt sechs Monate später in einem Frankfurter Altenheim." Kurt Franz ergeht es ähnlich: Erst 1965 wird er verurteilt. Davor lebt er unter seinem richtigen Namen unbehelligt in Düsseldorf. Während des Prozesses wird ein Fotoalbum in seiner Wohnung mit Bildern aus Treblinka gefunden. Auf dem Fotoband steht in großen Buchstaben: "Schöne Zeiten".

Die Biographie-Berichte sind Kern dieses erschreckenden, deprimierenden, eindrucksvollen Romans. Sie erinnern nicht nur an die vielen Opfer, sondern gemahnen auch an die Schuld der Täter. "Denn hinter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte", heißt es im Buch. Auch siebzig Jahre nach Auschwitz gilt: Es gibt noch viele dieser Geschichten zu erzählen.

TOMASZ KURIANOWICZ

Dasa Drndic: "Sonnenschein". Roman. Aus dem Kroatischen übersetzt von Brigitte Döbert und Blanka Stipetic.

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015. 398 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensentin Anna-Lena Scholz schaut mit Respekt auf die Art von Geschichtsschreibung, wie sie die Kroatin  Dasa Drndic betreibt. Drndics dokumentarischer Holocaust-Roman, der mit Fakten und Fotos zu Konzentrationslagern, Deportationen, Heimen und Gaskammern für die Rezensentin in erster Linie ein erschütterndes lexikalisches Panoptikum darstellt, entwickelt zudem eine Poetik der Dokumentation, wie Scholz schreibt. Indem Drndic ihre Daten entlang der Lebensgeschichte eines Lebensborn-Kindes aufreiht, entsteht für Scholz ein sehr kraftvolles Stück Prosa, das seine Doppelidentität immer mit reflektiert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

Ein Wäschekorb voller Leben
„Sonnenschein“ – der überwältigende Roman der Kroatin Daša Drndić über das Schicksal einer jüdischen Familie im Faschismus
Nicht weniger gilt es anzuzeigen als ein Meisterwerk der europäischen Romankunst. Die 1946 in Zagreb geborene Daša Drndić zählt in ihrer Heimat seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Autorinnen und Intellektuellen, und doch ist der fulminante Roman „Sonnenschein“ das erste Buch, das von ihr in deutscher Übersetzung erschienen ist. In Kroatien hat Drndić etliche Romane und Theaterstücke, aber auch Bände mit literarischen Kritiken und politischen Essays veröffentlicht, in denen sie bald abwägend, bald polemisch ihre geistige Unabhängigkeit behauptet. Genauso wie sie, die einige Jahre in Kanada und in den USA gelebt und gelehrt hat, einst der kommunistischen Nomenklatura nicht nach dem Mund redete, hat sie für die verfeindeten Nationalisten und Neoliberalen, die sich das Land heute brüderlich teilen, nur bittere Worte übrig.
„Sonnenschein“ ist ein formal originell konzipierter und höchst ungewöhnlicher Roman. Im ersten Teil wird auf gut 150 Seiten die Geschichte der jüdischen Familie Tedeschi aus jener Stadt erzählt, die von den Österreichern Görz, den Italienern Gorizie, den Slowenen (Nova) Gorica und den Friulanern Gurize genannt wird, einer alten Stadt an der Grenze, die mit allen habsburgisch-mitteleuropäischen Schönheiten und Verwerfungen aufzuwarten hat. Sie liegt an dem italienischen Fluss Isonzo – der bei den Slowenen Soča heißt –, an dem im Ersten Weltkrieg zwölf Schlachten um ein Nichts an Geländegewinn stattfanden, die mehr als zwei Millionen italienische und österreichische Soldaten das Leben kosteten. In dieser Stadt sind die Menschen immer schon gewissermaßen mit drei, vier Sprachen auf die Welt gekommen, und wer sich wann für welche Nation entschied, das hing stets von familiären und historischen Zufällen ab. In dieser Stadt ist vieles so einfach, etwa die Unterhaltung, das Geschäft, die Liebe über die Sprachgrenzen hinweg, und alles unendlich kompliziert, sodass die kleine Welt einmal wie die reine Idylle anmutet, dann wieder als Region des Schreckens erscheint.
Hier wurde 1923 Haya Tedeschi geboren, von deren Vorfahren der Roman viele Anekdoten bietet. Hier sitzt sie 2006 in ihrer alten Wohnung, zu ihren Füßen einen großen, roten Korb. „Aus ihm holt sie ihr Leben und hängt es an die imaginäre Leine der Wirklichkeit“ – Ansichtskarten und Briefe, Zeitungsausschnitte und Zeitschriften, amtliche Dokumente, private Notizen und Fotos. Was ihr und ihrer Familie widerfuhr, versucht sie jetzt ein Puzzle zusammenzusetzen. Daša Drndić erzählt im ersten Teil aber nicht nur von der Familie Tedeschi, sondern breitet nebenhin ein Panorama der italienisch-österreichisch-slowenischen Zwischenwelt aus, vor dem das Schicksal der Familie erst verständlich wird. Wer wüsste schon, nicht nur im deutschen Sprachraum, was es bedeutet hat, in der Ära des Faschismus in dieser Gegend in einer bürgerlichen, katholischen, patriotischen Familie mit fast schon vergessenen jüdischen Wurzeln aufzuwachsen?
  Anfangs bedeutete das durchaus: Begeisterung für den nationalen Aufbruch im Zeichen des Faschismus. Als die Faschisten die deutschen Rassegesetze übernehmen, bringt ausgerechnet die Flucht nach Rom den rettenden Aufschub. Als es auch dort zu eng wird, kann die Familie einzig noch in das von den Italienern besetzte Albanien ausweichen, wo der Vater einen Posten bei einer italienischen Bank in Vlora erhält. Während durch Italien schon die Züge mit Juden, Roma, Kommunisten den Konzentrationslagern entgegenrollen, repräsentiert der jüdische Flüchtling hier noch den italienischen Staat. Patrioten, die sie immer noch sind, halten die Tedeschis die Rassengesetze für eine Art Irrtum, und bis zuletzt fürchten sie, dass „wir den Krieg verlieren könnten“. Wir! Und verlieren? Gegen die albanischen Partisanen, vor denen sie am Ende tatsächlich, aber nicht als verfolgte Juden, sondern als Vertreter der italienischen Eroberer, wieder just nach Görz flüchten müssen.
Von all dem berichtet Drndić in langen Exkursen, die immer auf die Biografien der Familienmitglieder bezogen bleiben. So werden wir auch mit den weiblichen Filmstars der Nazi-Ära vertraut gemacht, weil die heranwachsende Haya für Kristina Söderbaum schwärmt und sich in ihrem Waschkorb ein Foto der „goldblonden, blauäugigen und unschuldigen Inkarnation arischer Weiblichkeit“ findet. Haya ist ein naives, liebes Mädchen, das nichts begreift und, als seine Familie wieder zurück in Goricie ist, einen kleinen Zeitungs- und Tabakladen betreibt. Dort lernt Haya Kurt Franz kennen, einen schönen Mann in SS-Uniform, der sie schwängert und gleich wieder verlässt.
  Diesen Kurt Franz hat es tatsächlich gegeben, auf der Liste der schlimmsten Kriegsverbrecher rangiert er ganz weit oben: Als er ins Triestiner Hinterland kam, hatte er gerade seine Arbeit für die „Operation Reinhard“ in Belzec und Treblinka erledigt. An dieser Stelle listet die Autorin auf siebzig eng bedruckten Seiten die Namen jener 9000 italienischen Juden aus ihrer Heimat auf, die nach 1943 in Konzentrationslager deportiert wurden.
Als in Kurt Franz eine reale Figur ins Leben der fiktiven Familie Tedeschi tritt, ist das ein romantechnisch heikler Moment. Daša Drndić hat in Archiven die Biografien Hunderter Opfer und Täter recherchiert, aber jetzt verquickt sie verbürgte Ereignisse mit waghalsigen Spekulationen. Trotzdem vermittelt ihr Roman auf bewegende Weise einen großen Ernst. In immer neuen Anläufen versucht die Autorin, „die Geschichte, diese verlogene, hinterhältige Mutter des Lebens“, zu enthüllen, ja, sie literarisch zu attackieren.
Im dritten Teil montiert die Autorin Gerichtsprotokolle – grauenhaft, wie schäbig sich die Täter später aus der Verantwortung herauszureden versuchten. Und gegen Ende taucht jener Antonio Tedeschi wieder auf, das Kind des jüdischen Mädchens und des sadistischen Herrenmenschen, das der Mutter vor 62 Jahren geraubt wurde und nach dem sie genauso lange gesucht hat. Es war einst im Auftrag des Vaters in ein österreichisches Lebensborn-Heim gebracht und nach dem Krieg von einem Salzburger Ehepaar aufgezogen worden. Das klingt nach Kolportage, ist aber durch zahlreiche reale Schicksale beglaubigt. Manchmal allzu frei zitiert Drndić aus Büchern von Kindern der Nazi-Täter, wobei sie hier richtig polemisch wird. Manchmal übertreibt sie es mit ihrer Manier, Faktisches und Fiktives unentwirrbar zu verbinden, etwa wenn sie Hayas spät wieder gefundenen Sohn zum Freund und Lieblingsfotografen Thomas Bernhards macht und ausgerechnet diesem, dem in Kroatien sehr populären österreichischen Großmeister der literarischen Menschenverachtung, als leuchtendem Exempel des Antifaschismus huldigt.
  Diese Einwände ändern nichts daran, dass „Sonnenschein“, welthaltig bis in die zahlreichen Fußnoten, ein einzigartiges Buch ist, geschrieben in einer Sprache der Verzweiflung, die sich immer wilder dreht. Familienroman, Protokoll, historischer Traktat, impressionistisches Stadtbild: ein Meisterwerk.  
KARL-MARKUS GAUSS
  
Daša Drndić: Sonnenschein. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 400 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Suggestiv verbindet
Drndić Faktisches und Fiktives
zu einem großen Panorama
Daša Drndić , geboren 1946 in Zagreb, zählt zu den wichtigsten literarischen und intellektuellen Stimmen Kroatiens. Sie hat in Kanada und den USA gelehrt und unterrichtet heute Englische Literatur an der Universität von Rijeka.
Foto: Hoffmann und Campe
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"Dasa Drndic schreibt, um zu erinnern, um den Schmerz dauerhaft spürbar zu machen." New York Times