Marktplatzangebote
9 Angebote ab € 2,50 €
  • Gebundenes Buch

Ein einzigartiges Dokument über das Leben in der stalinistischen Diktatur und den Alltag im Moskau der dreißiger Jahre. Nina Lugowskaja ist dreizehn, als sie das Tagebuchschreiben beginnt. Der Vater, gerade aus Sibirien zurückgekehrt, hält sich illegal in Moskau auf. Die Familie, in ständiger Angst vor Hausdurchsuchung und Deportation, versucht am bürgerlichen Lebensstil festzuhalten. In ihrem Tagebuch schreibt Nina über ihre Verliebtheiten, Probleme in der Schule, ihr Aufbegehren gegen die traditionelle weibliche Rolle, den Abscheu vor bolschewistischen Aufmärschen und über die ständige Angst, die das tägliche Leben bestimmt.…mehr

Produktbeschreibung
Ein einzigartiges Dokument über das Leben in der stalinistischen Diktatur und den Alltag im Moskau der dreißiger Jahre. Nina Lugowskaja ist dreizehn, als sie das Tagebuchschreiben beginnt. Der Vater, gerade aus Sibirien zurückgekehrt, hält sich illegal in Moskau auf. Die Familie, in ständiger Angst vor Hausdurchsuchung und Deportation, versucht am bürgerlichen Lebensstil festzuhalten. In ihrem Tagebuch schreibt Nina über ihre Verliebtheiten, Probleme in der Schule, ihr Aufbegehren gegen die traditionelle weibliche Rolle, den Abscheu vor bolschewistischen Aufmärschen und über die ständige Angst, die das tägliche Leben bestimmt.
Autorenporträt
Christiane Körner lebt als Übersetzerin und Publizistin in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2005

Das Mädchen, das den Diktator haßte
Ein Tagebuch einer Jugendlichen aus der Stalin-Zeit beweist: Wer wollte, konnte sehen, daß das bolschewistische System verbrecherisch war. Von Markus Wehner

Zehn Jahre war Nina Lugowskaja alt, als man ihren Vater verhaftete. "Ich wurde damals morgens wach und wußte noch nichts", erinnerte sie sich vier Jahre später in ihrem Tagebuch. "Großmutter kam herein und fragte: ,Gehst du in die Schule? Papa ist verhaftet worden.' ,Nein.' Als sie gegangen war, fing ich erst einmal an zu weinen. Und plötzlich war ich voller Wut und Groll gegen den, der es gewagt hatte, mir meinen Papa wegzunehmen."

Diese Zeilen sind im Manuskript rot unterstrichen - so wie viele andere in den drei dicken Heften, die der Moskauer Schülerin von Oktober 1932 bis Januar 1937 als Tagebuch dienten. Der Ermittler der sowjetischen Geheimpolizei NKWD wertete so die Aufzeichnungen aus, um Nina "antisowjetischer Überzeugungen" zu bezichtigen. Dafür waren die Hefte ein gefundenes Fressen - selten wird in einem Dokument aus der Stalinzeit der Haß auf das Unterdrückungssystem und den Diktator so deutlich.

Ninas Vater kam in das Moskauer Butyrka-Gefängnis, heute noch berüchtigt für seine überfüllten Tuberkulose-Kammern. Als Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre hatte der ehemalige Bauer dort schon vor der Revolution eingesessen. Nun erging es ihm nicht besser. In den zwanziger Jahren, der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik, hatte er erfolgreich eine Bäckereigenossenschaft gegründet. Doch als Stalin 1929 seine zweite Revolution begann, wurde sie geschlossen. Als "Unternehmer" und als ehemaliges Mitglied einer anderen Partei war Ninas Vater doppelt verdächtig. Er wurde für drei Jahre verbannt, kehrte nach Moskau zurück, doch ein "Paß", eine Aufenthaltsgenehmigung, wurde ihm verweigert. Er mußte wegziehen oder in der Furcht leben, wieder verhaftet zu werden.

"Und dann haben sie Papa den Paß verweigert", schrieb Nina in ihr Tagebuch. "Ich brach in Tränen aus, rannte durchs Zimmer, fluchte und kam zu dem Entschluß, daß man dieses Gesindel umbringen muß. Tagelang habe ich mir abends im Bett vorgestellt, wie ich ihn umbringe. Und dieser Diktator macht noch Versprechungen, dieser Unmensch, dieser Lump, dieser gemeine Georgier, der Rußland zugrunde richtet. Wie ist es bloß dazu gekommen, daß das große Rußland, das große russische Volk zur Gänze einem Gauner in die Hände gefallen ist? Rasend vor Wut ballte ich die Fäuste. Ihn umbringen, so schnell wie möglich! Rache nehmen für mich und meinen Vater."

Diese Zeilen waren für den NKWD-Beamten Grund genug, Nina eines geplanten Attentats auf Stalin zu beschuldigen. Dabei ist Ninas Tagebuch nicht zuerst ein politisches Pamphlet. Es ist das Dokument einer schwierigen Pubertät. Seitenweise erforscht der Teenager sein Innenleben, schwärmt von Jungen, klagt über die eigene vermeintliche Häßlichkeit und philosophiert über das Leben, das "ein nichtiger und dummer Scherz" sei.

Doch zugleich sieht das schüchterne, introvertierte Mädchen die Absurdität und Unmenschlichkeit des Sowjetsystems ganz klar, etwa wenn der Schuldirektor wegen einer Schneeballschlacht im Klassenraum eine konterrevolutionäre Organisation enttarnen muß. Ihr Tagebuch straft alle Lügen, die sagen, man habe nichts gewußt und nichts wissen können. Über die Hungersnot, die Stalin zu verantworten hatte, wußte die Schülerin Bescheid: "Seltsame Dinge geschehen in Rußland, Hungersnöte, Kannibalismus. Was die Zugereisten aus der Provinz nicht alles erzählen! Daß man nicht nachkommt, die Leichen von den Straßen zu holen, daß die Provinzstädte von hungernden, abgerissenen Bauern überfüllt sind. Und die Ukraine? Was ist aus ihr geworden? Sie ist nicht wiederzuerkennen. Eine ausgestorbene, schweigende Wüste ist das jetzt." Selbst die durch späte Forschung gesicherte Zahl von fünf Millionen Hungertoten taucht im Tagebuch auf.

Nina skizziert das Alltagsleben der Arbeiter in Moskau: "In den Schlangen schimpfen wütende, müde und hungrige Menschen auf die Staatsmacht und verfluchen das Leben. Nirgendwo hört man auch nur ein Wort zur Verteidigung der verhaßten Bolschewisten. Was sollen die Arbeiter im Winter essen, wenn man jetzt schon kein Gemüse und sonst nichts mehr kaufen kann?" Im Kontrast dazu beschreibt sie die Geschäfte, in denen man alles bekommt, wenn man Ausländer ist oder als Sowjetbürger "Gold und Silber anschleppt".

Bei aller Kritik wünscht sich Nina zugleich, sich dem staatlich organisierten Pathos hinzugeben, etwa als die Mannschaft des Eisbrechers "Tscheljuskin" von Heldenfliegern aus dem Polarmeer gerettet und in Moskau gefeiert wird. "Niemals, bei keinem Fest wurde mit solchem Enthusiasmus und solcher Begeisterung ,Hurra!' geschrieen wie zum Empfang dieser Leute. Mich zog es unwiderstehlich zum Roten Platz, und als ich Radio hörte, war ich dem Weinen nahe, weil ich eine Art glückliche Verbundenheit mit den großen Helden und noch etwas anderes, Unklares empfand, den Wunsch, am allgemeinen Jubel teilzunehmen, in der einmütigen, erregten Menge aufzugehen, mit allen zusammen ein feuriges ,Hurra!' zu schreien - und weil das nicht möglich war."

Auch als der Mord an dem Leningrader Parteichef Sergej Kirow gemeldet wird, kann Nina nicht in die Trauer ihrer Schulkameraden einstimmen. "Ich schämte mich ein wenig, weil mich die Nachricht gar nicht berührte und ich statt dessen sogar Freude empfand. ,Also wird noch gekämpft, es gibt Organisationen und mutige Menschen, es sind noch nicht alle im sozialistischen Moder versunken'", geht es ihr durch den Kopf. Wenige Tage später faßt sie die Reaktionen auf das Attentat zusammen, das später als die Wende hin zu Stalins Großem Terror interpretiert wurde: "Viele bestellte Redner und sowjetische Gesinnungslumpen haben die Fäuste geschüttelt und wie die Papageien pathetisch über den Köpfen der Arbeiter ausgerufen: ,Schlagt die Natter tot!', ,Erschießt den Verräter, der ihn mit seinem feigen Schuß aus unseren Reihen riß'. Und viele sogenannte Sowjetbürger, die jeden Begriff von Menschsein und Menschenwürde verloren haben, stimmten wie das Vieh für die Erschießung."

Ninas Tagebuch endet am 3. Januar 1937. Einen Tag später durchsuchte der NKWD die Wohnung und beschlagnahmte die Hefte. Ninas Mutter wurde am 10. März 1937 verhaftet. Nina und ihre älteren Zwillingsschwestern riefen ihr am Fenster nach: "Mama, auf Wiedersehen, hab keine Angst!" Die Mutter habe "Auf Wiedersehen, lebt wohl, Kinder!" gerufen, heißt es im Bericht des NKWD. "Mit ihrem Schreien versuchte sie, die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen", schrieb der Beamte.

Nina, mittlerweile neunzehn, wird wenige Tage nach der Mutter verhaftet. Geschwister, Eltern, Verwandte und Bekannte zu einem "Spionagenetz" zu verknüpfen wurde übliche Praxis in Stalins Vernichtungsfeldzug gegen alle potentiellen Abweichler. Nina wurde in die Zellen des NKWD geschleppt, als das wahllose Verhaften und Erschießen nach Quoten noch nicht praktiziert wurde - vom August 1937 an erschossen dann NKWD-Kommandos binnen weniger Monate Hunderttausende "Volksfeinde". Auch die Prügelfolter war noch nicht angeordnet. Doch der Ermittler drohte Nina, daß sie erschossen werde. So legte sie das Geständnis ab, sie hätte Stalin mit dem Revolver erschießen wollen. Woher sie die Waffe hätte nehmen sollen, interessierte den Ermittler nicht.

Ninas Schwestern wurden zwei Wochen später verhaftet. Mutter und Töchter wurden zu fünf Jahren Lagerhaft in Kolyma verurteilt. Alle überlebten das Lager. Nach Stalins Tod wurden 1957 eine Schwester, dann postum der verstorbene Vater, die Mutter und die zweite Schwester rehabilitiert, nicht aber Nina, die "Stalin-Attentäterin". Im März 1963 schrieb sie an Sowjetführer Chruschtschow, daß sie erst 13, 14 Jahre alt gewesen sei, als sie ihre Haßtirade gegen Stalin niederschrieb. Der Brief hatte Wirkung. Im Mai 1963 wurde Nina Lugowskaja rehabilitiert. In Kolyma hatte sie einen Maler geheiratet, mit ihm ging sie in den Ural, später in das östlich von Moskau gelegene Wladimir, wo sie sich selbst ganz der Malerei widmete. Die zurückhaltende Frau starb Anfang der neunziger Jahre. In ihrem Bekanntenkreis wußte niemand etwas über ihre Lagervergangenheit.

Eine Historikerin der Gesellschaft "Memorial", Irina Ossipowa, fand das Manuskript im Archiv. Das Tagebuch, das mit den berühmten Aufzeichnungen der Anne Frank verglichen wird, hat im westlichen Ausland Furore gemacht - in Rußland ist es kaum beachtet worden. Es ist ein Beweis dafür, daß auch in totalitären Systemen der Gedanke der Freiheit nicht auszulöschen ist. Daß Nina Lugowskaja nicht nur Stalin haßte, sondern auch das Wesen des totalitären Systems erkannte, erstaunt: "Selbst die Schulen werden nicht ausgelassen, diese Kinderwelten, wo der bedrückende Einfluß der ,Arbeitermacht' doch eigentlich weniger zum Tragen kommen müßte. Teilweise haben die Bolschewisten recht. Wenn sie die Kinder nicht von klein auf einschüchtern, ist es mit ihrer Macht vorbei."

Nina Lugowskaja: Ich will leben. Ein russisches Tagebuch 1932-1937. Die deutsche Ausgabe erscheint am 27. August im Carl Hanser Verlag in München.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Endlich hat auch der Bolschewismus seine Anne Frank.", konstatiert Rezensentin Sonja Zekri angesichts der Tagebücher von Nina Lugowskaja, die im Russischen Staatsarchiv entdeckt und nun publiziert worden sind. Lugowskaja war zusammen mit ihrer Familie vom russischen Geheimdienst NKWD verhaftet worden, dem ihre Aufzeichnungen in die Hände fielen. Aufgefallen war sie durch eine Bemerkung, in der sie voller aufbegehrender Wut auf die Regierung davon sprach, sie habe sich tagelang im Bett vorgestellt, wie sie Stalin töten wolle. Lugowskaja schildere eine Jugend voller Furcht, wie sie viele im Russland der 30er Jahre erlebt haben. Die besondere Leistung der Autorin sieht Zekri darin, den Terror beim Namen genannt und ein angebliches kollektives Unwissen entlarvt zu haben, wenn sie über die Kollektivierung der Landwirtschaft spricht, der Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, über Hungersnöte, Kannibalismus, über Diebstähle und Banditentum oder über den protzigen Technikkult der Regierung. "Wenn eine Vierzehnjährige alles dies kannte, dann kannten andere sie auch.". Wie die Tagebücher der Anne Frank sieht die Rezensentin hier die "Zerbrechlichkeit des Privaten" veranschaulicht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2005

Und abends im Bett Stalin töten
Nun hat der Bolschewismus seine Anne Frank: „Ich will leben”, die Tagebücher der Nina Lugowskaja
Nina Lugowskaja war dreizehn, als sie ihr Tagebuch begann, und achtzehn, als es endete. Der sowjetische Geheimdienst NKWD hatte ihre Wohnung durchsucht, die Aufzeichnungen gefunden, erst die Mutter verhaftet, dann Nina und ihre Schwestern. Die drei Mädchen bekommen - wie ihre Mutter - fünf Jahre Arbeitslager. Die Anklage gegen Nina lautet: Sie habe Stalin töten wollen, ihr Tagebuch beweise es. Nina überlebt, wird 1963 rehabilitiert, stirbt 1993 - fern von Moskau. Zehn Jahre später entdeckt eine Menschenrechtsaktivistin die drei Hefte im Russischen Staatsarchiv. Ninas Tagebuch wird übersetzt, und vor allem das Ausland ist ergriffen: Endlich hat auch der Bolschewismus seine Anne Frank.
Und die Parallelen sind schlagend. Ninas Schilderungen vibrieren vor Lebenshunger, aber auch vor abrupten Stimmungsschwankungen. Mal hält sie sich für chronisch talentlos, dann für genial, aber unterschätzt. Sie ist ein Kind der Intelligenzija, belesen, gebildet, aber labil. Anne Frank litt unter dem Verhältnis zu ihrer Mutter, Nina unter ihrem Vater, der wenig von der sowjetischen Jugend hält und noch weniger von Frauen. Sie hadert mit ihrem Aussehen, weil sie auf einem Auge schielt, ärgert sich über die blöden Geschwister, die blöden Lehrer, die blöden Jungs.
Geheimdienst-Textkritik
Zuerst und vor allem aber teilt Nina Lugowskaja mit der Hinterhof-Gefangenen in Amsterdam eine kompromisslose Offenheit. Es sind die Dreißiger, Russlands blutiges Jahrzehnt, der Terror steigert sich von Schauprozess zu Schauprozess. Ninas Vater, als selbstständiger Bäcker und Sozialrevolutionär ein Feind der Bolschewiken, durfte gerade erst aus der Verbannung zurückkehren. Aber er bekommt keine Aufenthaltsgenehmigung für Moskau und lebt illegal bei seiner Familie. Es ist eine Jugend in der Furcht vor Verhaftung, Verschleppung; ein Leben, wie Millionen es führten.
Nur ist Nina, im Unterschied zu so vielen anderen, hundertprozentig sicher, dass die Repression keine gerechte Strafe für politische Verfehlungen ist, sondern ein Verbrechen: „Und dann haben sie Papa den Pass verweigert. Wut überkam mich, ohnmächtige Wut. Ich brach in Tränen aus, rannte durchs Zimmer, fluchte und kam zu dem Entschluss, dass man dieses Gesindel umbringen muss. Tagelang habe ich mir abends im Bett vorgestellt, wie ich ihn umbringe.”, schreibt sie im März 1933: „Und dieser Diktator macht noch Versprechungen, dieser Unmensch, dieser Lump, dieser -gemeine Georgier, der Russland zugrunde richtet.”
Fassungslos berichtet sie, wie der Kollektivierung der Landwirtschaft Millionen Menschen zum Opfer fallen. Selbst in der Ukraine sprach man jahrzehntelang nur hinter vorgehaltener Hand über den „Holodomor”, die Vernichtung durch Hunger, aber Nina schreibt: „Seltsame Dinge geschehen in Russland. Hungersnöte, Kannibalismus . . . Was die Zugereisten aus der Provinz nicht alles erzählen! Dass man nicht damit nachkommt, die Leichen von den Straßen zu holen, dass die Provinzstädte von hungernden, abgerissenen Bauern überfüllt sind. Überall Diebstähle und schreckliches Banditentum”. Kühl verzeichnet sie das verordnete Entsetzen über den Mord an Leningrads Parteichef Kirow, den Stalin als Vorwand für neue Säuberungen nutzt: „Heute wurden dann die vierzehn eigentlichen ,Verschwörer‘ erschossen. Also mehr als hundert Menschen für einen Bolschewiken.” Sie durchschaut den protzigen Technikkult, sie kennt die Korruption, die Zahlen, die Toten. Wenn aber eine Vierzehnjährige alles dies kannte, so die Botschaft, dann kannten andere sie auch. „Wir haben nichts gewusst”, diese Entschuldigung wird nach diesem Buch nicht mehr gelten.
Ninas Aufzeichnungen sind lebensgefährlich, und sie weiß es. Man sieht es dem Buch sogar an. Viele Stellen hat der Geheimdienst nämlich unterstrichen, darunter die vermeintlichen Pläne für den Stalin-Mord, aber auch Passagen pubertärer Lebensmüdigkeit. Sätze wie „Das Leben ist eine ununterbrochene Kette von Enttäuschungen” wirkten auf das stalinistische Mantra „Das Leben ist leichter geworden, das Leben ist heiterer geworden” wie Säure, wie antibolschewistischer Defätismus. Und so dokumentieren die Unterstreichungen die wachsende Paranoia eines Systems, das die offenen Flanken seiner psychologischen Kriegsführung nur zu gut kannte.
Wie die Klemperer-Tagebücher, wie jene Anne Franks, wie die Aufzeichnungen aus der Zeit des Stalinismus, die vor einigen Jahren in der Anthologie „Das wahre Leben” erschienen, beschwören auch Ninas Notizen die Zerbrechlichkeit des Privaten. In ihren besten Momenten erlauben sie einen Blick darauf, wie sich die Despotie in den Alltag fraß. Wenn Nina über ein Verhör in der Schule berichtet, weil ein paar Schüler eine Schneeballschlacht veranstaltet haben und der Direktor konterrevolutionäre Umtriebe wittert, verrät dies den titanischen Vernichtungswillen eines Regimes, das nicht mal davor zurückschreckt, sich lächerlich zu machen.
Doch das sind Zufallsfunde. Wochenlang beschäftigt sich Nina gar nicht mit Politik - sondern mit sich selbst. Häufig geht die Empörung über die bolschewistischen Gauner und die Verzweiflung über dieses großartige Russland, das sich ohne Not versklaven lässt, bruchlos in die Nachbetrachtung eines Rendezvous über. „In letzter Zeit ärgert mich schlichtweg alles: die angeregten Unterhaltungen von Shenja und Ljalja, ihre Streitereien, die politischen Einstellung meiner Familie und das ganze unerträgliche System heutzutage”, schreibt sie.
Als sie einen Selbstmordversuch unternimmt mit dem Opium der Großmutter, ist dies Ausdruck emotionaler Verwirrung, kein politisches Statement. Doch das quälende Ringen um Anpassung oder Aufbegehren, Liebesbedürfnis oder Selbstbehauptung, das die Jugend ohnehin zum gefährlichsten Abschnitt des Lebens macht, hat sich unter den Bedingungen der Diktatur zur Schicksalsfrage eines ganzen Volkes gesteigert. „Bloß so schnell wie möglich erwachsen werden und dieses Land der Barbaren und Wilden verlassen”, schreibt Nina. Dahinter steckte allerdings eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen würde: dass man der Tyrannei irgendwie würde entwachsen können.
SONJA ZEKRI
NINA LUGOWSKAJA: Ich will leben. Ein russisches Tagebuch 1932-1937. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Carl Hanser Verlag, München 2005. 440 Seiten, 24,90 Euro.
Nina Lugowskaja im Alter von 11 Jahren
Abbildung aus dem besprochenen Band
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr
"Nun hat der Bolschewismus seine Anne Frank: Ich will leben , die Tagebücher der Nina Lugowskaja." Sonja Zerki, Süddeutsche Zeitung, 12.12.05 "Über die altersspezifischen Kümmernisse, Unausgeglichenheiten und Aufmüpfigkeiten hinaus zeugen die Aufzeichnungen von erstaunlicher Sensibilität und Selbstreflektiertheit. [...] Ihre Tagebücher sind ein Zeitdokument, das exemplarisch für Zehntausende steht, die in die Maschinerie des stalinistischen Terrors gerieten, ohne dass Spuren von ihrem Schicksal zeugen." Renate Wiggershaus, Frankfurter Rundschau, 17.12.05