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Der polnische Weltbürger und Nobelpreisträger Czeslaw Milosz hat mit seinem ABC eine besondere Autobiographie geschrieben. Aus den Mosaiksteinen von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie erhält man mit der Fülle von Orten und seelischen Zuständen ein faszinierendes Portrait des Dichters.

Produktbeschreibung
Der polnische Weltbürger und Nobelpreisträger Czeslaw Milosz hat mit seinem ABC eine besondere Autobiographie geschrieben. Aus den Mosaiksteinen von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie erhält man mit der Fülle von Orten und seelischen Zuständen ein faszinierendes Portrait des Dichters.
Autorenporträt
Czeslaw Milosz, geboren 1911 in Seteiniai (Litauen), war ein bedeutender Lyriker und Romancier. 1945 - 51 Kulturattache in den USA und Frankreich; 1951 Emigration nach Paris und in die USA (1970 amerikanischer Staatsbürger); 1961 - 78 Professor für Slawistik in Berkeley (Californien).
Themen seiner Lyrik sind existentielle und (geschichts)philosophische Probleme, in seinen Essays behandelt er die Lage der Intellektuellen im stalinistischen Polen und seine Lage als Emigrant. Er war ein bedeutender Übersetzer und erhielt 1980 den Nobelpreis für Literatur. 2004 verstarb Czeslaw Milosz.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.07.2002

Das Gesetz des allerletzten Zaoty
„Mein ABC”: Czeslaw Milosz greift zum Stichwort, um von seiner Erfahrung zu sprechen
Das Alphabet ist ein wunderbares System. Völlig unabänderlich und ohne jeden vernünftigen Grund folgt B auf A und C auf B, und trotzdem klingt es so hübsch, wenn dazu die Katze durch den Schnee läuft. Das macht Lexika für altkluge Kinder zu einem solchen Zaubergarten: wie sich auf Amerika, so notwendig wie überraschend, der Amethyst einstellt, wie die Liaison sich mit der Liane verschlingt und wie, wenn fast schon alles vorbei ist, noch der Zuave, der Zuber und der Zucker vorüberparadieren.
Im Leben der Erwachsenen muss das Alphabet sich dem Sachlichen unterordnen, es fristet ein freudloses Dasein in Telefonbüchern und Karteikästen. Aber wenn jemand sehr alt wird und sich seiner Pflichten hienieden so weit entledigt hat, dass er in dem bisschen Zeit, das ihm noch bleibt, eigentlich treiben kann, was er mag – dann kann es sein, dass sein Blick wieder auf die Buntheit dieses Kaleidoskops aus Buchstaben fällt und es ihn entzückt wie vor achtzig Jahren.
Dies offenbar ist Czeslaw Milosz widerfahren. Ein langes und wendungsreiches Leben liegt hinter ihm. 1911 irgendwo in den Weiten des polnisch-litauischen Raums geboren, hatte er Gelegenheit, den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution, den Zweiten Weltkrieg und das von den Deutschen besetzte Warschau, das französische Exil und eine Professur in Berkeley zu erleben; 1980 erhielt er den Nobelpreis für Literatur, seit dem Ende des Sowjetblocks verbringt er wieder einen Teil seiner Zeit in Polen.
Das ist sehr viel, und viel Verschiedenes, und als Konstante hat sich ihm eigentlich nur das „Gesetz des letzten Zaoty” erwiesen, welches lautet: Sobald der letzte, aber wirklich der allerletzte Zaoty (oder Shilling oder Franc) ausgegeben ist, muss etwas völlig anderes passieren. Wie könnte hier eine Summe aussehen? Tagebücher? In ihnen drückt sich das Bedürfnis nach Wahrheit aus, und „dieses Bedürfnis ist rührend”, aber trauen lässt sich ihnen nicht. Biographien? „Natürlich sind sie allesamt gefälscht. ... Biographien sind wie Schneckenhäuser. Man wird nicht viel über das Wesen erfahren, das einmal darinnen gewohnt hat.” Wie steht es mit Studium und Examina? „Ein wirklicher Weiser war mein Professor für Zivilrecht, der meinte, dass man die Gesetze des Zivilrechts unmöglich kennen könnte. Lediglich der Herrgott würde eine Eins verdienen, er selbst höchstens eine Drei, was sollte er von uns Studenten verlangen?” Am besten also, man gibt ihnen gleich eine Liste mit allen später abgefragten Antworten in die Hand. Nein, die Welt lässt sich nicht von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus kennen und erfassen, nicht einmal die beschränkte Welt eines Einzelnen.
Milosz weiß, dass er den vielen Menschen, denen er begegnet ist (denn die klassische Moderne war die hohe Zeit der politischen Katastrophen und persönlichen Begegnungen), in der von ihm gewählten Form nicht gerecht werden kann, weder Arthur Koestler noch Henry Miller, Isadora Duncan oder den vielen polnischen Emigranten. „Doch damit müssen sie sich zufriedengeben – es ist allemal besser als ganz in Vergessenheit zu geraten. So ist mein ABC etwas wie ein Ersatz: anstelle eines Romans, anstelle eines Essays über das zwanzigste Jahrhundert, anstelle eines Tagebuchs.” Dies unter dem Stichwort „Verschwinden”, denn das müssen die Verstorbenen ja spätestens dann, wenn auch der letzte tot ist, der noch an sie gedacht hat.
„Liebe, erste”
Anders als in solchem ABC, in dem die zerrissene Welt sich zu einem spielerischen Reigen von neuem versammelt, lässt sich von der osteuropäischen Jahrhundert-Erfahrung der totalen Auslöschung vielleicht gar nichts mitteilen. Stichwort „Liebe, erste”, einer Achtjährigen gilt sie. „Sicher hatte dieses Mädchen einen Namen, doch ich habe ihn nie erfahren. Und sicher ist sie 1940 zusammen mit ihrer ganzen Familie nach Sibirien deportiert worden.” Stichwort „Szetejnie, Ginejty und Peiksva”, so heißen die drei Dörfer, die den Raum von Milosz’ Kindheitslandschaft abstecken, mit ihren herrlichen Apfelhainen, Ziehbrunnen und geschnitzten Wegkreuzen, in denen sich eine Strahlensonne mit einer umgekehrten Mondsichel vereint, eine ganze hölzerne Zivilisation. Die Bewohner haben das Pech, dass sie Stalin als Kulaken und Hitler als Partisanen gelten. Nichts von diesen Dörfern existiert mehr. „Ihre Häuser wurden zerstört, die Obstgärten gerodet und dem Erdboden gleichgemacht. Die nackten Felder, die übriggeblieben waren, wurden in der Region später , Kasachstan‘ genannt.”
Nächstes Stichwort! Es setzt frisch und folglich ohne Erbitterung ein: „Ruhm”. „Von Ruhm zu träumen ist eine menschliche Tollheit, die Mitleid und Nachsicht verdient.” Oder Neugier. „Was uns antreibt, ist unsere unstillbare Neugier, die auch im Laufe der Zeit nicht nachlässt. Das sollte als Argument gegen das Sterben ausreichen.” Es sind kurze Texte, die durch ihre Gelassenheit der Versuchung widerstehen, Aphorismen werden zu wollen. Die Stichwörter Angst, Amerikanisches Visum, Anonyme Briefe haben ihren Auftritt („,Man mag Sie nicht, Herr Milosz!‘”). Aber es ist bloß ein Zufall, dass sich gerade unter dem Buchstaben A so viel Unglück häuft; B entschädigt sogleich mit Barock, Bewunderung und Buddhismus. Unter D findet sich „Dummheit des Westens”, für die Polen offenbar ein lexikonfähiger Begriff. „Jalta hat mehrere Ursachen gehabt”, liest man dort, „aber der wichtigste Beweggrund war der, dass man eine Entscheidung für die leeren und für den Zivilisationsprozess unwichtigen Länder fällen wollte” - im Westen für den Osten, heißt das.
Da fügt es sich im Zufall der deutschen Übersetzung überaus sinnig, dass der erste Artikel „Adam und Eva” heißt, der letzte jedoch „Zentrum und Peripherie” – und die Peripherie, daran lässt Milosz keinen Zweifel, sind jene Länder Europas, die in der fast neunzigjährigen Lebenszeit des Autors die Geringschätzung der Anderen als Tod und Elend zu spüren bekamen. So scheint es zum Schluss fast doch, als hätte das Alphabet eine Tendenz: vom Paradies führt es zum „Anus Mundi” (auch dies ein Stichwort), dem Arsch der Welt, Polen 1941, das Jahr, wie Milosz zitiert, „in dem Gott abgetreten” ist.
BURKHARD
MÜLLER
CZESLAW MILOSZ: Mein ABC. Von Adam und Eva bis zu Zentrum und Peripherie. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München 2002. 180 Seiten, 15,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2002

Wunderbar ist es, als Mensch unter Menschen zu leben
Kritisch, optimistisch und von höflicher Versöhnungsbereitschaft: Der polnische Nobelpreisträger Czeslaw Milosz schreibt sein Abc der Erinnerung

Die literarische Tradition legt uns nahe, daß es selbst den Dichtern die Rede verschlägt, wenn sie die grünen Stätten ihrer verlorenen Jugend nach fünfzig Jahren wiedersehen. Czeslaw Milosz fügt sich dieser Tradition gerne und mit geradezu raffiniertem Wohlgefallen. Auch er ist heimgekehrt und wählt, als "Ersatz" für Bericht, Roman oder Tagebuch, die minimalistische Form eines Abc oder einer Lebensfibel, in der Erlebnisse, Begegnungen, Menschen,Vorbilder und Widersacher in Stichworten "schlaglichtartig" auftauchen - ein "Mosaik" der Gleichzeitigkeit, das einzig den Anspruch erheben darf, widersprüchliche Lebenserfahrung zu repräsentieren. Einfach war diese wirklich nicht: Kindheit im polnisch-litauischen Grenzgebiet; Studien in Wilna und Illegalität in Warschau (unter der deutschen Okkupation); Diplomat im Dienst der polnischen kommunistischen Regierung in New York und Washington; Flüchtling und Emigrant, nach dem Absprung, in Paris; Universitätsprofessor in Kalifornien; Nobelpreisträger (1980); grand old man der polnischen Literatur, viel gescholten und viel gerühmt, aber immer "Glück gehabt" und auf festen Füßen gelandet.

Für eine ganze Lesergeneration zählt Milosz zu jenen mutigen Intellektuellen der einstigen Linken, welche die Manipulationen der stalinistischen Diktatur in Moskau und anderswo in den frühen Fünfzigern erkannten (als nüchterner Antistalinismus noch als Faschismus galt). Sein Buch über das "Verführte Denken" ist politisches Grundbuch der Epoche, zugleich mit den Werken von Arthur Koestler, George Orwell und Sidney Hook, die alle recht behielten - Kalter Krieg oder nicht.

Welche Sprache war es denn, die es ihm verschlug, als er seine Kindheitsszenerie wiedersah, über die der Krieg, die Fronten und die Massendeportationen der einen und der anderen hinweggegangen waren? Es war seine besondere polnische Sprache, die ihn seine sorgsam eifrige Mutter auf dem Gut von Szetejnie "im Schatten der Fliederbüsche" lehrte, "das Haus", wie er sagt, in dem er später "durch die Welt zog". Das philologisch genaue Abc bezeugt deutlich, wie sich in dieser Sprache, ohne jeden Nationalismus, Intimität und Distanz vermischten. Auf den Gütern stieß das Polnische an das Litauische, in Wilna verwahrte die Umgangssprache vieles aus dem Jiddischen, und die wenigen Jahre in Warschau waren die einzigen, in denen Milosz noch ganz im Polnischen lebte, dann nie mehr. Er nennt das "eine verzwickte Situation", und sie wird nicht weniger kompliziert, wenn er uns erklärt, ihm fehlten eigentlich alle patriotischen Gefühle für Weihnachtslieder, Volkstänze und Folkloristisches oder gar Chopin. Im Grunde ist das Polnische für ihn eine private Angelegenheit der Selbstverwirklichung, denn er ist "außerhalb des ethnischen Polen aufgewachsen". Vergleiche hinken, auch dieser, aber Franz Kafka hätte ähnliches behaupten können.

Ein Abc sollte eine einfache Sache sein, aber nicht in diesem Fall, denn die polnische Originalausgabe hat zwei Bände. Der Verlag hat die deutsche Edition, unter Mitwirkung des Autors, auf einen Band konzentriert. Noch eine verzwickte Situation? Aus der deutschen Ausgabe sind viele Mitschüler, femmes fatales und Lehrer verschwunden, und sie stellt uns den weltkundigen Kosmopoliten eher als den Provinzler aus einer polnisch-litauischen Ecke vor, der immer noch ein wenig daran leidet, aus einer grundbesitzenden Familie zu stammen. Das öffnet ihm den Blick für bedeutendere Kulturzusammenhänge, so die dominante Präsenz des Französischen in Osteuropa, die bis in die dreißiger Jahre dauerte: "Im Jahre 1938 begann man in Warschau Englisch zu lernen", das wiegt ganze Bände soziologischer Analysen auf.

Als Zeitzeuge zeigt Milosz höfliche Versöhnungsbereitschaft, allerdings mit einer bedeutenden, konsequenten Ausnahme: den französischen Intellektuellen der Jahrhundertmitte, die ihn als antikommunistischen "Sonderling" ignorierten und gemeinsam mit Sartre Camus attackierten. Simone de Beauvoir, die sich Sartre anschloß, nennt er in einem seltenen Zornesausbruch "ein dummes Weib". Allerdings kommt auch die spätere Generation der Pariser Intellektuellen nicht gut weg: Ihre Sprache ist aufgebauscht und unverständlich, das kulturelle Interesse hat sich von Paris nach New York verschoben, und die Dekonstruktionisten haben nichts zu lachen. In seinem deutschen Abc wird Milosz als Kritiker sichtbar, der sich nicht scheut, sich mit den Großen der Weltliteratur anzulegen; und obwohl er sich zur Rationalität bekennt, hat er auch den Mut, einzugestehen, aus Simone Weils und Lew Schestows mystischen Texten gelernt zu haben (daher sein spekulatives Interesse an biblischen Motiven). Wenig Natur und viele Bücher: Hügel, Linden und Eichenbäume bilden eine nostalgische Szene, und ich darf ihm nicht verargen, daß er nicht lange bei dem entsetzlichen Stichwort "Ponary" verweilt, weil die SS-Einsatzgruppen gerade an diesem beliebten Ausflugsort der jungen Poeten 120 000 Menschen massakrierten.

Also Literatur und Philosophie: Schopenhauer, zu dem er in einem produktiven Mangel an Konsequenz in verschiedenen Lebensmomenten zurückkehrte; Rimbaud, der Urvater aller Jugendrevolten, auch der von 68; Robert Frost, der den rustikalen Amerikaner immer nur vortäuscht, und Robinson Jeffers, der wahrhaftig ins Elementare fliehen will und sich sein Haus auf einer Klippe Kaliforniens erbaut. Dostojewski, der "große Prognostiker", ist auch "ein gefährlicher Lehrer"; und wenn ihn Bachtin als Erfinder des modernen polyphonen Romans rühmt, hört Milosz hinter den vielen Stimmen vor allem die eines "fanatischen Eiferers". Der einundneunzigjährige Milosz denkt nicht daran, zu resignieren, provoziert durch seine kritische Wißbegierde und bekennt sich (obwohl er die Grenzen seines sanften Optimismus am eigenen Leibe erfahren hat) unermüdlich dazu, wie "wunderbar es ist, als Mensch unter Menschen zu leben". Hoch an der Zeit, daß uns einer dieses Abc unserer Erdentage ins Gedächtnis zurückruft.

Czeslaw Milosz: "Mein ABC". Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie. Aus dem Polnischen übersetzt von Doreen Daume. Hanser Verlag, München und Wien 2002. 180 S., geb., 15,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr gut gefallen hat dem Rezensenten Burkhard Müller diese ungewöhnliche Art, seine Memoiren zu schreiben, die der 81-jährige polnische, nach dem Krieg in die USA emigrierte Literat Czeslaw Milosz für sich gewählt hat. Statt eine Autobiografie abzuliefern oder seine Tagebücher zu publizieren, arbeitet der Autor sich einfach durchs Alphabet - fast wie man es aus Kinderreimen kennt, findet Müller - und fügt bei jedem Buchstaben ein paar Stichworte ein, mit denen er Aspekte seines Lebens umschreibt. Was dabei herauskommt, ist nach Meinung des Rezensenten sehr sympathisch und wohldosiert: "Es sind kurze Texte, die durch ihre Gelassenheit der Versuchung widerstehen, Aphorismen werden zu wollen." Müller reichert seine Rezension mit vielen Textbeispielen an, um seinen Spaß an dem freudig-verspielten und trotzdem ernsthaften Buch zu dokumentieren.

© Perlentaucher Medien GmbH
"... das freundliche, das melancholische Buch eines Überlebenden." Angelika Overath, NZZ, 8./9.6.02