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Die große Liebe zu ihrem im Ersten Weltkrieg verschollen geglaubten Mann verschlägt die schöne Anna Petrowna in den postrevolutionären Wirren in das kleine sibirische Städtchen Jasyk. Von einer mystischen Gemeinschaft bewohnt, wird der Ort kurz daraufdurch die Ankunft eines geheimnisvollen Fremden in seinem Frieden bedroht. Wer ist dieser Fremde, der durch Schnee und Eis aus einem Gefangenenlager im hohen Norden bis nach Jasyk geflohen ist? Und was hat es mit seinem angeblichen Verfolger auf sich,der Unaussprechliches getan hat und nun die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt? Und welchen Zauber verübt der fremde Ankömmling auf Anna Petrowna?…mehr

Produktbeschreibung
Die große Liebe zu ihrem im Ersten Weltkrieg verschollen geglaubten Mann verschlägt die schöne Anna Petrowna in den postrevolutionären Wirren in das kleine sibirische Städtchen Jasyk. Von einer mystischen Gemeinschaft bewohnt, wird der Ort kurz daraufdurch die Ankunft eines geheimnisvollen Fremden in seinem Frieden bedroht. Wer ist dieser Fremde, der durch Schnee und Eis aus einem Gefangenenlager im hohen Norden bis nach Jasyk geflohen ist? Und was hat es mit seinem angeblichen Verfolger auf sich,der Unaussprechliches getan hat und nun die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt? Und welchen Zauber verübt der fremde Ankömmling auf Anna Petrowna?
Autorenporträt
James Meek, geb. 1962 in London, wuchs in Dundee auf. Seit 1985 arbeitet er als Journalist, die Jahre 1991 bis 1999 verbrachte er als Auslandskorrespondent in der ehemaligen Sowjetunion. James Meek lebt heute in London, wo er für den Guardian, The London Review of Books und das Magazin Granta schreibt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Bereits die Grundsituation im Roman sei "infernalisch", berichtet entzückt Rezensentin Sonja Zekri. Ein sibirisches Dorf zur Bürgerkriegszeit, ein kokainsüchtiger Soldatentrupp aus der "tschechischen Legion", eine historisch verbürgte "Kastratensekte", und dann tauche ein Fremder auf, der alle Grausamkeiten der Kriegswirren noch übersteigere. James Meek erzählt diese geschichte aus dem russischen Bürgerkrieg, so die Rezensentin, anhand zahlreicher Rückblenden und Briefe, und dieser "Revolutionsroman", erläutert Zekri, sei weniger eine historische Studie als vielmehr eine "Studie in Fanatismus", und der schottische Humor des Autor-Erzählers zeige sich beispielsweise darin, dass ausgerechnet die Kastratensekte einen "hochaktuellen" religiösen Fundamentalismus gebäre. Bei aller Dämonie habe James Meek aber keineswegs einen Pseudo-Dostojewskij geschrieben, weist Zekri auf "kluge" Unterschiede, denn stilistisch schreibe der Autor so modern "schnörkellos" und "metaphernreich" wie ein Per Olov Enquist.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2005

Sie wollen einen Menschen essen? Beginnen Sie mit der Leber!
Unterwegs in Sibirien mit James Meek, dem Autor des düsteren, großartigen Revolutionsromans „Die einsamen Schrecken der Liebe”
Es ist etwa Mitternacht Moskauer Zeit über dem Ural, die Stewardessen lassen sich Zeit mit dem Essen, und James Meek sagt: „Angenommen, ich könnte nur überleben, wenn ich einen toten Menschen esse, und ich hätte kein Feuer, dann würde ich es natürlich so machen wie im Buch: Ihn aufschlitzen und zuerst die warme Leber essen.” Zehn Jahre hat er an seinem Buch „Die einsamen Schrecken der Liebe” geschrieben, auf einer britischen Insel und in einem böhmischen Dorf, und wenn ihn jemand nach dem Inhalt fragte, hat er entgegnet: „Kommunismus, Kannibalismus, Kastration und Liebe”, und dabei die Wirkung seiner Worte genossen.
James Meek ist Brite, genauer: Schotte, und er hat eine Schwäche für Extreme: ein kleiner Mann mit Uhrmacher-Händen, dem man nicht ansieht, dass er Russland-Korrespondent für den Guardian war und heute Krisen-Reporter ist, dass er neben Büchern Reportagen aus dem Irak oder Afghanistan schreibt. Aber er hat eine Art, Situationen in Sekunden zu scannen - den Kopf in den Nacken gelegt, tausend Fragen im Blick -, die ebenso Folge wie Voraussetzung dieses Jobs ist.
Kastraten . . .
James Meek ist unterwegs nach Sibirien, wo sein Roman spielt. Es ist eine Rückkehr, für den Guardian war er ein halbes Dutzend Mal hier. „Mich fasziniert die Idee der Wüste, eines Ortes ohne Linien und Bezugspunkte. So ein Ort wirkt auf den Geist. Hier ist alles möglich.” Die ersten Eindrücke nach fünf Stunden Flug sind allerdings weniger gruselig als niedlich. Der Verlag hat ein Dorf aussuchen lassen, das jenem erdachten Jasyk ähneln soll, wo Meek drei Tage und drei Nächte die Obsessionen aufeinander krachen lässt. Owsjanka heißt die Siedlung, ein adretter Flecken in der Mitte zwischen Moskau und dem Pazifik. Owsjanka hat gepflasterte Straßen, das Gästebuch des neuen Museums für den Sowjet-Dichter Astawjew schmückt eine Putin-Unterschrift. Mit dem Schauplatz des Romans hat es so viel gemein wie die Taiga mit der Lüneburger Heide.
In Jasyk nämlich herrschen Dunkelheit, Schmutz, der Wahnsinn des Bürgerkriegs. Roter Terror übertrifft weißen Terror, Warlords rüsten ephemere Heere mit gestohlenem Gold auf, und durch Russland zieht eine der absurdesten Armeen der Geschichte: die tschechische Legion. Einst hatten die Tschechen für den Zaren und eine freie Tschechoslowakei gegen Habsburg gekämpft, dann für die Weißen gegen die Roten. Nach fünf Jahren war aus der schneidigen Truppe ein demoralisierter, kokainsüchtiger Haufen geworden, eine fremde Armee in einem fremden Land, die nur noch nach Hause will. Hundert Mann lässt Meek in Jasyk stranden, angeführt von dem blutjungen Gelegenheitssadisten Matula. Sie sind nicht allein: Eine obskure Kastratensekte breitet sich aus, die es tatsächlich gab, die sich sogar bis in die Siebziger, nun, sagen wir: gehalten hat. So weit die infernalische Ausgangslage.
Im Sonnenschein von Owsjanka steht der Autor und versucht, sich mit der Harmlosigkeit des Ortes abzufinden. Mit mäßigem Erfolg. Die Wildnis beginnt hinter der nächsten Wegbiegung, aber Meek hat eher Augen für den Müll im Fluss. Am Ufer lässt sich ein Mädchen fotografieren, strahlt erwartungsvoll in die Kamera. „Noch zehn Jahre und sie ist mit irgendeinem Idioten verheiratet”, murmelt Meek und seufzt kokett: „Ach, ich sehe wieder mal nur die dunklen Seiten.”
Das ist im Moment nicht so leicht. Sein Roman, dessen Originaltitel „A People’s Act of Love” deutlich abgründiger klingt als der deutsche, ist derart gefeiert worden, dass man kaum noch mehr Nettes sagen mag. Der Brite, so heißt es, habe ein Revolutionsepos geschrieben wie seit Pasternaks Schiwago, ach was, seit Bulgakows „Weißer Garde” nicht mehr. Siebzehn Mal wurden die Rechte verkauft. „Sagen wir es so”, drechselt Meek stolz: „Ich habe den Erfolg nicht geplant. Aber er hat mich auch nicht überrascht.”
Was wiederum verblüffend ist. Russland-Romane, zumal historische, werden nicht eben aus den Regalen gestohlen. Aber Meek arrangiert die revolutionären Kulissen für Fragen, die weit über Russland hinausweisen. In Rückblenden, in einem Brief und einem Bericht entfaltet er eine Geschichte, die mit kraftvollen Szenen und einem schnörkellosen, aber metaphernreichen Stil weniger an die großen Russen erinnert als an Erzähler wie Per Olov Enquist und die gerade deshalb so hinreißend funktioniert, weil der Erzähler sich keinen Tag älter macht als sein Publikum. Stattdessen beugt er sich alle paar Seiten über den fast viktorianischen Splatter, den er da angerichtet hat, und schüttelt mit feinem bösen Kichern den Kopf. Geschundene Kreaturen mit vertrauten Nöten ringen hier um Liebe, Macht oder ums Leben, keine anämischen Turgenjew-Klone. Anna zum Beispiel, die Frau des Kastratenchefs, trennen Welten von den Dulderinnen Dostojewskis. Sie ist eine Unbezähmbare, die das Leben mehr liebt als das Jenseits und für eine Nacht mit einem Mann fast ihren Sohn opfert. Oder ihr Mann, der Ex-Husar Balaschow: Sein Gemächt hat er mit leichter Hand ins Feuer geworfen, aber der Gedanke, dass jemand das komisch finden könnte, macht ihn verrückt. Der treueste Verbündete des Lesers aber ist Leutnant Mutz, der unbeirrt an eine ferne, europäische Ratio glaubt, aber in all dem Irrsinn als Intellektueller, als Jude, als Vernunftsmensch dreifach ausgeschlossen bleibt. Überhaupt ist Meek klug genug, auf genuin russische Figuren zu verzichten. Seine Protagonisten sind Aliens, und dieses regellose Russland ist kein geographischer Raum, nicht mal ein historischer. Es ist ein Geisteszustand.
Durch das reale Sibirien zuckelt Meek einen Tag später Richtung Irkutsk. Vor der Transsibirischen Eisenbahn fliegen Millionen Birken vorbei. Dreihundert Kilometer südlich beginnt die Mongolei. Hier sind die Dorfstraßen nicht mehr gepflastert, Sibirien ernährt Russland mit seinem Gas und seinem Öl, aber Moskau benimmt sich wie ein Zuhälter, der abkassiert und sich einen Dreck schert. Noch leuchten die flaschengrünen Highlands, aber bald breitet sich hier jene Eishölle aus, die der Fremde durchmessen hat, der plötzlich in Jasyk auftaucht: Samarin. Er gibt sich als Dissident aus, als politischer Gefangener, in Wahrheit aber ist er ein nihilistischer Satan: „Er ist kein Vernichter, er ist die Vernichtung selbst, und er überlässt es den guten Menschen, die übrig bleiben, auf den Trümmern eine bessere Welt zu errichten.”
Es sind Auslöschungsphantasien, die an Stawrogin erinnern oder an Netschajew, den Ur-Vater des Terrorismus, jedenfalls wirken die Bolschewisten gegen diesen Weltzerstörer wie biedere Handwerker. Und doch sind die Autoaggression der Kastraten, die Raserei eines Samarin und die technologische Grausamkeit der Bolschewiken nur Spielarten derselben mörderischen Verblendung, ganz gleich, ob sie im Namen Gottes oder im Namen des Volkes zum Messer greifen.
Meeks Buch lässt sich auf so viele Arten lesen wie Samarin Gesichter hat, aber mehr als alles andere ist es eine Studie in Fanatismus; und es gehört zum eigenwilligen Humor des Buches, dass ausgerechnet die frömmelnden Eunuchen jenen religiösen Fundamentalismus ins Spiel bringen, der für das Schicksal Russlands völlig unerheblich ist, für die Welt des 21. Jahrhunderts aber hochaktuell.
Am nächsten Tag in Irkutsk entdeckt Meek ein nagelneues Koltschak-Denkmal: Der weiße Kommandeur war ein finsterer Schlächter, aber heute wird er wieder so zärtlich verehrt wie Lenin ein paar Straßen weiter. „Postideologisches Zeitalter?”, fragt Meek, „ich weiß nicht, was das sein soll.” Doch das eigentliche Verhängnis, sagt er, sei weniger die Ideologie als das Verfahren, der Prozess: „Bestimmt haben sich die Bolschewisten darin überboten, wer härter für die Idee kämpft, aber am Ende ist ihnen die Idee abhanden gekommen, und nur die Härte blieb”, sagt er: „Ich bin sicher, dass einem Selbstmordattentäter vor seiner Tat praktische Fragen durch den Kopf gehen: Bin ich pünktlich? Kann ich die Bombe zünden oder werde ich mich blamieren? Die Gedanken an Frau und Kinder - das kommt erst zum Schluss.”
. . .und Kommunisten
So provoziert auch der eisige Kern der Geschichte erst durch seine scheinbare Logik. Samarin nämlich tischt eine ungeheuerliche Geschichte auf: Er sei aus einem Lager in der Arktis geflohen, jedoch nicht allein: Ein Häftling habe ihn regelrecht gemästet und mitgenommen, als Proviant für harte Zeiten - was wohl tatsächlich Praxis war unter sowjetischen Häftlingen. Und wäre eine solche Tat nicht tatsächlich zu rechtfertigen, so fragt Samarin, für ein höheres Ziel? Ließe sich der Verzehr eines Menschen nicht nur metaphorisch als Symbiose begreifen, sondern auch politisch: als „Liebesdienst des Volkes”? Wäre das Verbrechen, anders herum, weniger verwerflich, wenn man nicht um einer Idee willen tötete, sondern aus Liebe? Spätestens da kreuzen sich politische und menschliche Leidenschaften, wetteifern Idee und Gefühl um die größere Zerstörungskraft. Und so bleibt der Leser am Ende mit nagenden Zweifeln zurück: Was, wenn sich eines Tages alle Ideologien erledigt hätten, aber eine unbeherrschbare Unbekannte überlebte?
Am Ende der Reise, nach drei Tagen und vier Zeitzonen, nach Besuchen im einzigen Jazz-Club jenseits des Urals, viel Wodka und wenig Schlaf, hat sich das Zeitgefühl im Ultramarinblau des Baikal aufgelöst. Ein wattiges Phlegma breitet sich aus. „Würde ich jemanden töten, um zu überleben?”, hat Meek irgendwann gefragt: „Niemanden, mit dem ich gereist bin.” Und er hat die Wirkung seiner Worte genossen.
SONJA ZEKRI
JAMES MEEK: Die einsamen Schrecken der Liebe. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch und Karen Nölle-Fischer. Droemer Verlag, München 2005. 432 Seiten, 19,90 Euro.
Ein Ort ohne Regeln, ohne Grenzen, in dem alles möglich ist. Das wirkt sich auf den Geist aus: Sibirien, Schauplatz von James Meeks Bürgerkriegsroman.
Foto: images.de/ Andrey Kamenev / Argentum Photo
Ein Brite in Sibirien: James Meek
Foto: Carlsberg Communication
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2005

Al Qaida in Sibirien
Jedem Anfang wohnt ein Schrecken inne: James Meeks Roman

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion werden ihre Konturen sichtbar, mehr als das abrupte Ende interessiert inzwischen ihr blutiger Anfang. Der britische Journalist und jahrelange Rußland-Korrespondent James Meek überrascht durch einen Roman, der 1919 in einem sibirischen Kaff namens Jasyk spielt. Es handelt sich um eine Männergeschichte, die sich dem Faszinosum der blanken Gewalt von Bürgerkrieg und Terror ganz unverhüllt stellt. Ins Zentrum rückt der Autor weder Arbeiter noch Bauern, sondern die desorientierte Tschechische Legion, deren Einsatz für den Zaren selbst in der Tschechischen Republik heute kaum bekannt ist.

Dank sorgfältiger Recherchen und erfrischendem Detailbewußtsein gelingt es Meek, den Frontalltag zu irrlichterndem Leben zu erwecken. Die Tschechen haben sich in einer sibirischen Kleinstadt ein Massaker zuschulden kommen lassen, entsprechend gedrückt ist ihre Stimmung. Während Trotzkis rächende Truppen im Anzug sind und die Soldaten sich murrend nach der Heimat sehnen, zwingt der sadistische Kommandant Matula seine Leute zum Ausharren und verschweigt den längst ergangenen Abzugsbefehl.

Nichts in den schlammigen Straßen Jasyks ist ganz geheuer: Der Ort wird von einer kinderlosen Sekte bewohnt, die ihre abendlichen Zusammenkünfte zu seltsamen Tanzdelirien steigert. Im Hof der Kommandantur ist ein Schamane angekettet, und aus den Weiten der Steppe taucht ein zotteliger Fremder auf, der dem "Weißen Garten", einer schneeklirrenden Sträflingskolonie jenseits der Baumgrenze, entflohen sein will. Der einzige klare Kopf des Bataillons ist der jüdische Hauptmann Mutz. Er hat sich bei der Ermordung von Zivilisten zurückgehalten und erfreut sich der Gunst der schönen Anna Petrowna, Gründe genug, um Neid und Hohn seiner Gefährten auf sich zu lenken. Die Ankunft des mutmaßlichen Sträflings Samarin bringt den leicht entzündlichen Psychococktail zur Explosion. Er ist ein rhetorisches Genie aus dem Holz leninistischer Agitatoren, das seine Zuhörer mit der Geschichte seiner politischen Verbannung rührt und so souverän manipuliert, wie es auch der Erzähler tut. Denn in Meeks Roman steckt zugleich ein trickreicher Krimi, der dem Leser das wahre Gesicht der Dinge bis auf die letzten, fesselnden Seiten vorenthält.

Im Zentrum steht der Krieg selbst als eine mentale Epidemie, die alle individuellen Pläne absorbiert. "Mir kam es vor", schreibt Annas Mann von der Front, "als ob die Männer den Geschützen dienten, als wären die Geschütze ihre Herren und sie hätten für deren Wohl zu sorgen." Der Wille, fügt Meeks Erzähler hinzu, hatte "einen Riesen aus Millionen Menschen erstehen lassen, der nun über die Erde zog ... 1918 noch waren die Roten Menschen gewesen, die eine Idee besaßen. Jetzt besaß die Idee Menschen, Panzerzüge und Land."

Es geht dem Briten genau um diese Verwandlung, die friedliche einzelne zu Leibeigenen der Vernichtung macht. Mit einem an de Kooning erinnernden Pinselstrich und kleistschen Sinn für Paradoxe peitscht er die Handlung auf atemraubende Wendepunkte zu, an denen sich die Doppelnatur seiner Protagonisten offenbart. Annas Mann Balaschow lernen wir kennen, bevor der Krieg den Kokon des Privatlebens und der Persönlichkeit zerreißt und den stolzen Husaren auf eine waidwunde Memme reduziert. Samarin gibt den wohlmeinenden Kameraden ab, bis seine Taten die dämonische Wahnwelt dieses selbstberufenen Menschheitserlösers verraten. Matula hat daheim eine unauffällige Vertreterexistenz geführt, um, zu militärischem Rang erhoben, die Bestie herauszulassen.

James Meek ist ein Meister, wenn es um die Arena des Grauens, um die epischen Dimensionen der Todesangst, das Aussetzen des Verstandes und die Zeitlupen der Desillusionierung geht. Doch so melodramatisch und packend er die Militärmaschinerie zu inszenieren versteht, so wenig bleibt er bei ihren Mechanismen stehen. Der Schwung im Räderwerk kommt von großen Demagogen wie Samarin. In ihm verbindet sich animalischer Selbsterhaltungstrieb mit List und Größenwahn zu einer schillernden Inkarnation des Bösen, die auf Frauen und Männer wie ein Aphrodisiakum wirkt: "Ich bin hier auf Erden, um alles zu zerstören, was nicht das Paradies ist", läßt er wissen, als Balaschow ihn des Kannibalismus überführt. Daß Samarin seine Untaten einer glücklosen Liebe wegen begeht und in einem schwachen Moment sogar Mitleid zeigt, kann den Eindruck, den Meek mit dieser Figur erzeugt, nicht mehr mildern - im Gegenteil: Große Gefühle dienen ihr, wie ein Blick in ihre Kindheit zeigt, nur als Alibi für jede Bosheit.

Die wenigen Frauen des Romans sind vielleicht gerade deshalb mißlungen, weil Meek sie die Rolle der Schlange im sibirischen Garten spielen läßt. Am wenigsten überzeugend ist Anna Petrowna, um die sich die Phantasien der Männer ranken. Sie wird als verführerisches Vollblutweib beschrieben, das Sex an die Stelle von Irrsinn und Brutalität setzen will. Doch ihr Charakter verharrt im Klischee, mit borniertem Sinn trifft sie beständig die falsche Entscheidung und läßt sich zum Schluß als Fotojournalistin für die kommunistische Zukunft rekrutieren. Man könnte sie als Allegorie der kriegstreibenden Idee verstehen: Eros und Thanatos gäben sich einmal mehr ein Stelldichein. Schon als Zwölfjähriger atmete Samarin "neben dem Duft von Büchern und Parfüm im Rock eines Mädchens den Geruch von Dynamit ein".

Es ist kein Zufall, daß die Jasyker Sekte sich als - historisch verbürgter - Kastratenverein entpuppt. Ihre Mitglieder begreifen sich als Engel, die schon auf Erden von aggressiver Begehrlichkeit erlöst sind. Doch da sie deshalb noch keine besseren Wesen werden, wählt ihr Führer am Ende den Märtyrertod. James Meek weiß keine Antwort auf die Frage nach den letzten Gründen, aus denen Männer zu lebenden Bomben werden. Doch für die Aporien des Menschseins hat er starke Bilder gefunden, die er häufig mit einem filmischen Sinn für Dramatik inszeniert. "Die einsamen Schrecken der Liebe" ist im Bewußtsein künftiger GULags und Konzentrationslager geschrieben, und wenn es die revolutionären Katechismen zitiert, hat sein Autor auch Al Qaida im Kopf. Weil Jasyk trotz seiner verwilderten Sitten ein Vexierbild unserer richtungslosen, ideologisch anfälligen Gegenwart ist, belegt dieser Roman über die Wehen des Kommunismus, daß das Ende schon im Anfang steckt.

INGEBORG HARMS

James Meek: "Die einsamen Schrecken der Liebe". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Malte Krutzsch und Karen Nölle-Fischer. Droemer Verlag, München 2005. 430 S., geb., 19,90 [Euro].

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