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"Woher bist du gekommen, woher bist du zu uns getrieben? Warum? Wir haben doch vorher ohne dich gelebt, woher kommst du, Nadjka?"
Die dreizehnjährige Nadjka kehrt in ihr Dorf zurück. Ein Floß bringt sie flußaufwärts, genau an die Stelle, an der sie vor Jahren ausgesetzt worden war. Der Bruder Marat rekonstruiert ihre Geschichte: Weil das Mädchen geistig behindert ist, hatte man sie ihrem Schicksal überlassen. Sie hatte als Heimkind gelebt, mußte Spott und Brutalitäten über sich ergehen lassen, mit ansehen, wie ihr bester Freund, als er sich für sie einsetzen will, dafür büßen muß.…mehr

Produktbeschreibung
"Woher bist du gekommen, woher bist du zu uns getrieben? Warum? Wir haben doch vorher ohne dich gelebt, woher kommst du, Nadjka?"

Die dreizehnjährige Nadjka kehrt in ihr Dorf zurück. Ein Floß bringt sie flußaufwärts, genau an die Stelle, an der sie vor Jahren ausgesetzt worden war. Der Bruder Marat rekonstruiert ihre Geschichte: Weil das Mädchen geistig behindert ist, hatte man sie ihrem Schicksal überlassen. Sie hatte als Heimkind gelebt, mußte Spott und Brutalitäten über sich ergehen lassen, mit ansehen, wie ihr bester Freund, als er sich für sie einsetzen will, dafür büßen muß. Schließlich war Nadjka geflohen. Für die, die ihren Weg durch die Steppe kreuzten, trug sie die Züge einer mythischen Lichtgestalt, einer Wunderheilerin. Doch die Odyssee ist nicht vorbei. Es ist das Jahr 1962, inmitten der Kubakrise fürchtet man einen atomaren Schlag der Amerikaner. In Hysterie und Todesangst erwarten die Menschen das Ende. Marat fleht Nadjka an zu handeln.
Autorenporträt
Esther Kinsky, geboren 1956, hat Slawistik und Anglistik in Bonn und Toronto studiert. Sie arbeitet als Übersetzerin aus dem Polnischen, Englischen und Russischen. Ihr übersetzerisches Oeuvre umfasst u. a. Werke von Ida Fink, Hanna Krall, Ryszard Krysnicki, Aleksander Wat, Joseph O'Connor und Jane Smiley. Esther Kinksy lebt in Berlin. 2009 erhielt sie den Paul-Celan-Preis und 2011 den Karl-Dedecius-Preis. Im Jahr 2015 wurde sie mit dem Kranichsteiner Literaturpreis ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2003

Die heilige Hanna der Steppe
Svetlana Vasilenkos großer kleiner Roman "Die Närrin"

Ein Herbsttag, ein kleines Haus mit Hof, eine alte, quietschende Schaukel, darauf ein dreizehnjähriges Mädchen. Vom Dach des Hauses schaut der Schaukelnden der Bruder zu, die Eltern machen sich im Hof zu schaffen. Das Bild mutet freundlich-banal an: ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben einer russischen Durchschnittsfamilie irgendwo an der Wolga. So beginnt der Roman "Die Närrin" der russischen Autorin Svetlana Vasilenko, ein schmales Werk, das ihr dennoch sogleich den Novij-Mir-Preis für den "besten Roman des Jahres 1998" und eine Nominierung für den Booker-Preis bescherte. Nun liegt es in deutscher Übersetzung vor.

Ein "unprofessioneller" Leser wird die Qualitäten des Buches womöglich erst auf den zweiten Blick erkennen. Die schlichte, ja stellenweise naive Erzählweise kann nämlich anfangs den Eindruck entstehen lassen, als handele es sich lediglich um eine harmlose Heraufbeschwörung der sozialistischen Realität mit teils märchenhaften, teils parodistischen Elementen. In Wirklichkeit aber ist der Roman nicht weniger als ein Versuch, auf mehrere Jahrzehnte der neueren russischen Geschichte zurückzublicken und dabei ein Psychogramm der in ihren historischen, politischen und nationalcharakterlichen Zwängen verfangenen posttotalitären Gesellschaft zu zeichnen.

Den zeitlichen Bogen spannt Svetlana Vasilenko mit Hilfe eines schlicht-raffinierten Einfalls: In die Rahmenhandlung, die in den sechziger Jahren spielt, bettet sie eine Phantasievariante der erzählten Geschichte ein, die wiederum in den Dreißigern angesiedelt ist. Der Erzähler ist Marat, der Bruder der dreizehnjährigen Nadjka, eines geistig behinderten Mädchens, das nach der Geburt von ihren Eltern ausgesetzt wurde und im Kubakrisenjahr 1962 plötzlich zu seiner Familie zurückkehrt. Woher sie kommt und was sie erlitten hat, läßt sich höchstens ahnen - die am Down-Syndrom Leidende kann zwar singen, aber nicht sprechen. So muß sich Marat die Geschichte seiner Schwester selbst erzählen, und er tut es, indem er in seiner Phantasie dreißig Jahre zurückgeht und eine Doppelgängerin namens Hanna erfindet: die geistesgestörte Insassin eines Kinderheims, in dem Brutalität, Hunger und schließlich eine Choleraepidemie den Alltag bestimmen. Sich selbst kreiert er dabei zu einem Beschützer, der durch eine sadistische Aufseherin zu Tode kommt.

Hannas anschließende Flucht durch die Steppe erinnert ein wenig an die Odyssee des kleinen Protagonisten aus Jerzy Kosinskis berühmtem Roman "Der bemalte Vogel". Die Bauern reagieren auf die Andersartige mit Mißtrauen, Ablehnung und Gewalt, nur sind es, anders als bei Kosinski, nicht Rückständigkeit, Aberglaube und Krieg, die zu ihrer Verrohung und Brutalisierung geführt haben, sondern die harten Lebensbedingungen und der stalinistische Terror. Das durchlebte Leid macht das Mädchen schließlich zu einer Medizinstudentin, zu einer realitätsentrückten, von der Aura der Heiligkeit umstrahlten Lichtgestalt.

Auch Nadjka nimmt nach und nach Züge an, die zum Teil märchenhaft anmuten, zum Teil jenem Realismus zuzuschreiben sind, den man für gewöhnlich als "magisch" bezeichnet und von dem der polnische Autor Julian Stryjkowski einmal sagte, es sei ein Realismus, der einige Zentimeter über der Erde schwebe. Das tut Nadjka, als das Land plötzlich vor der Gefahr einer Atomkatastrophe steht und die Menschen von ihr die Abwendung des Unglücks erwarten, schließlich auch: Sie schwebt über der Erde, steigt über der Steppe, in der für einen Augenblick Menschen und Tiere in gemeinsamem Staunen erstarren, "immer höher und höher hinauf", bis man "sie fast nicht mehr sehen" kann und der Leser mit diesem letzten, chagallesken Bild in die Realität entlassen wird.

Bindeglied zwischen den beiden Geschichten ist der Handlungsort: das Städtchen Kapustin Jar, dessen Name, zumal in den sechziger Jahren, weniger für magische Aura als für Technologie und Politik ersten Ranges steht: Es ist ein Raumfahrtzentrum, in dem das Militär das Sagen hat und der Kalte Krieg die Bewohner in Atem hält. Es ist zugleich der Geburtsort der Schriftstellerin Svetlana Vasilenko, die, offenbar von der besonderen Atmosphäre des Städtchens und von den eigenen Kindheitsträumen inspiriert, ein Buch geschrieben hat, in dem sich Reales mit Märchenhaftem vermischt, Rationalität auf Spiritualität trifft, politisches Diktat in Opposition zu religiöser Tradition steht. Die ironische Auseinandersetzung mit den ideologischen und ästhetischen Schemata des Sowjet-Regimes und das Zurückgreifen auf die literarischen Muster der Volksmärchen und der Heiligenviten sorgen dabei für ein einzigartiges, lange nachwirkendes Klima, das man von diesem harmlos beginnenden, kleinen Roman kaum erwartet hätte.

MARTA KIJOWSKA

Svetlana Vasilenko: "Die Närrin". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 192 S., geb., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.04.2003

In der
Ikonenwerkstatt
Svetlana Vasilenko schreibt eine
moderne Heiligenlegende
So heimelig kann nur ein Familiennachmittag sein: Wäschestücke im Herbstwind, ein schaukelndes Kind, die Mutter erledigt Hausarbeiten, der Vater werkelt am Auto herum. Doch das milde Licht der Anfangsszene in Svetlana Vasilenkos Roman „Die Närrin” ist trügerisch. Wenige Seiten weiter wird gequält, gefoltert und gemordet. Blut spritzt, Knochen splittern, Schädel zerbersten. Wer den erbarmungslosen Soldaten der Sowjetmacht entgeht, wird von der Cholera dahin gerafft. Verschont bleibt nur die kleine Hanna: ein wunderhübsches schwachsinniges Mädchen, das nicht spricht, aber engelsgleich singen kann und mit einem Gespür für alles Verschwiegene ausgestattet ist. Ihre Flucht durch die Steppe von Astrachan steht im Mittelpunkt des in Russland mehrfach preisgekrönten Buches.
In knappen, temporeichen Kapiteln entfaltet die russische Autorin Hannas Schicksal, und sie umkränzt die in den 30er Jahren spielende Odyssee des geheimnisvollen Mädchens mit einer Rahmenhandlung. Ein Kind namens Marat ergreift das Wort und berichtet von der Ankunft der behinderten Nadjka in seiner Heimatstadt Kasputin Jar, einem Zentrum für Raumfahrtforschung. Die Dreizehnjährige soll seine Schwester sein. Die mysteriösen familiären Verflechtungen passen zu der unheimlichen Atmosphäre in Kasputin Jar. Gagarins Raumkapsel war gerade ins All geschossen worden, als Nadjka plötzlich aus dem Nichts auftauchte. Inzwischen schwelt die Kubakrise, man befürchtet einen Atomangriff der Amerikaner. „Ich bin Hanna” flüstert das Mädchen dem Bruder eines Nachmittags zu, und aus den Tiefen des kollektiven Gedächtnisses fördert Marat ihre Vergangenheit ans Licht. Wir gleiten durch eine Schleuse, Spiegelungen verwischen die Grenzen zwischen den Zeitebenen, Nadjka-Hanna tritt ihre Reise an.
Erwachende Religiosität
„Die Närrin” erinnert an Naive Malerei: mit kräftigen Farben, starken Kontrasten und einfachen Stilmitteln wird eine Geschichte erzählt, die märchenhafte Züge trägt, wie ein Gleichnis wirkt und von unerklärlichen Korrespondenzen durchdrungen ist. Sofort hat man ein altes Mütterchen vor Augen, das seine leidgeprüfte Stimme erhebt, behutsam belehrend von vergangenen Zeiten berichtet und gleich einer Märchenerzählerin die Welt in gut und böse einteilt. Die Repräsentanten der Sowjetunion sind fratzenhaft überzeichnete Fanatiker, die jede Menschlichkeit verloren haben und für ihre Ideale auch die eigenen Eltern umbringen. Hannas Beschützerin Tante Charyta ist sanftmütig und fromm. Die Heldin selbst ist ein lichthafte Gestalt von ursprünglicher Reinheit.
Svetlana Vasilenko schafft ein eigentümlich irisierendes Geschichten- Gewebe, denn sie bedient sich aus der magisch-bäuerlichen Tradition, arbeitet mit mündlichen Erzählformen und fügt Elemente aus der christlichen Ikonographie hinzu. Gleich zu Beginn verwendet sie ein biblisches Bild: wie Moses kommt Hanna in einer Wiege über den Fluss in das Städtchen und wird von der gottesfürchtigen Tante Charyta aufgenommen. Weil überall Hunger herrscht, bringt Tante Charyta sie als Dreizehnjährige ins Kinderheim. Hier treffen wir auf eine Variante der bösen Stiefmutter: Traktorina Petrovna, die Heimleiterin, ist vom Kommunismus verblendet. Sämtliche Kinder erliegen Hannas Aura, ein Junge, der ebenso wie Nadjkas Bruder Marat heißt, schwört ihr ewige Liebe, und als Hanna am Ostertag auf dem Marktplatz ihren Gesang anstimmt, erwacht unter den Bewohnern von Kasputin Jar eine lange vergessene Religiosität.
Nach dramatischen Verwicklungen flieht Hanna und absolviert eine Art Kreuzweg: sie irrt durch die unwirtliche Steppe, wird von Fremden aufgenommen und entkommt mehrfach knapp den Rotarmisten. Legenden weben sich um das streunende Mädchen. Je öfter sie dem Tod entrinnt, desto größer werden ihre Kräfte. Sie heilt Blinde, Aussätzige und Lahme von ihren Gebrechen und zieht bald Heerscharen von Pilgern an. Hannas schützende Macht setzt sich in ihrer Wiedergängerin Nadjka fort. Hanna-Nadjka scheint Kapustin Jar vor dem Atomangriff zu bewahren.
Svetlana Vasilenko hat eine zeitgenössische Heiligenlegende geschrieben, halb Märchen, halb Abrechnung mit dem grausamen Regime der Sowjets, durchsetzt von Anspielungen auf den ästhetischen Katalog des sozialistischen Realismus. Auf den westeuropäisch sozialisierten Leser wirkt die holzschnittartige Gestaltung ihres Personals, die Stilisierung des kleinen Mädchens zu einer Erlöserfigur und die gänzlich ungebrochene Haltung zur Religion zunächst befremdlich. Dennoch strahlt der Roman einen eigenen Zauber aus, der aus der Reibung zwischen dem aufgeladenen, symbolhaften Erzählen und dem kruden Realismus resultiert. „Die Närrin” könnte ein großes Wandgemälde oder ein Mosaik in einer Moskauer U-Bahnstation sein: einfach, drastisch und direkt, mit einer eindeutigen Botschaft. Hanna ließe sich als Chiffre für die unsterbliche Seele verstehen, für den Kern des Menschlichen. Sie wird wiedergeboren und wiedergeboren und ist allein durch ihre Existenz ein Versprechen.
MAIKE ALBATH
SVETLANA VASILENKO: Die Närrin. Roman. Aus dem Russischen von Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und München 2003. 192 Seiten, 18, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Eine spezifische Rolle für die Frau sah der sowjetische Kommunismus nicht vor, schreibt die Rezensentin Katharina Granzin. Die herrschende Ideologie sah in der Frau ein eher geschlechtsloses Wesen, das sich jedoch auf "libidinöse" Weise der Arbeit hingab. Dass dem nun nicht mehr so ist, zeigt die Rezensentin an drei neueren, russischen Romanen auf, die mit dem Klischee der sowjetischen Heldin aufräumen: Alexander Ikonnikows "Liska und ihre Männer", Michail Kononows "Die nackte Pionierin" und Svetlana Vasilenkos "Die Närrin". Bei Svetlana Vasilenko stehen sich zwei völlig gegensätzliche Frauenbilder direkt gegenüber, in der Konfrontation zwischen einer sich immer wieder reinkarnierenden, "unschuldigen" und "entrückten" Närrin und der erzkommunistischen und dümmlich verbohrten Waisenhausleiterin Traktorina Petrovna. Vasilenkos Närrin sieht die Rezensentin einer deutlich "christlichen" Tradition verpflichtet, dem "mythisch geladenen Konzept reiner Weiblichkeit, das den irdischen Körper transzendiert". Mit "betont kargen sprachlichen Mitteln", lobt die Rezensentin, schafft Vasilenko eine "archaische" Atmosphäre, die als "surrealistisch geladene" und doch alte "Heiligenlegende" erscheint, voll "selbstverständlicher, kindlicher Religiosität", und in der das "Heilige über das Profane" siegt, "das Mythische über das Rationalistische" und schließlich "das alte Russland über die Sowjetmacht". Mit diesem Roman, so die erfreute Rezensentin abschließend, betreibt die Autorin den "Exorzismus der gesamten sowjetischen Epoche".

© Perlentaucher Medien GmbH
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