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Worin bestand das Körperempfinden in der Frühen Neuzeit? Weshalb bestanden "hysterische" Frauen am Ausgang des 19. Jahrhunderts darauf, mit Ärzten über ihre Sexualität zu sprechen? Weshalb strebten staatliche Stellen an, der Bevölkerung wissenschaftliche Kenntnisse über ihr Sexualleben zu vermitteln? Wie sieht das Sexualverhalten Jugendlicher in den letzten 50 Jahren aus? Die ausgewählten historischen Beiträge von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart eröffnen neue Einsichten in Wandel und Kontinuitäten sexueller Erfahrungen im deutschsprachigen Raum. Zwar entwickelte sich erst am Ausgang…mehr

Produktbeschreibung
Worin bestand das Körperempfinden in der Frühen Neuzeit? Weshalb bestanden "hysterische" Frauen am Ausgang des 19. Jahrhunderts darauf, mit Ärzten über ihre Sexualität zu sprechen? Weshalb strebten staatliche Stellen an, der Bevölkerung wissenschaftliche Kenntnisse über ihr Sexualleben zu vermitteln? Wie sieht das Sexualverhalten Jugendlicher in den letzten 50 Jahren aus? Die ausgewählten historischen Beiträge von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart eröffnen neue Einsichten in Wandel und Kontinuitäten sexueller Erfahrungen im deutschsprachigen Raum. Zwar entwickelte sich erst am Ausgang des 19. Jahrhunderts ein dynamischer medizinischer Diskurs, der sich um die "Sexualität des Menschen" kümmerte, doch gab es auch in der Frühen Neuzeit Thematisierungen von "sexuellen Erfahrungen", etwa im kirchlichen und weltlichen Recht. Im 19. Jahrhundert führten vor allem innovative biologische und medizinische Theorien zu neuen Zuschreibungen und Erwartungen. Die Beiträge dieses Bandes zeigen, wie sich der Erfahrungsraum "Sexualität" von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart unter wissenschaftlichen, klinischen, politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen entwickelt und verändert hat.
Autorenporträt
Walter, Tilmann
Tilmann Walter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg.

Bruns, Claudia
Claudia Bruns ist Professorin für Historische Anthropologie und Geschlechterforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2004

Je länger, je besser: Die Pflicht zur Lust

Wenn der Eros zum Sinn eines Lebens wird, kann das bös enden. Die Wiener Lehrerin Edith Cadivec mußte sich 1924 wegen sadistischen Handlungen an ihren Schülerinnen vor Gericht verantworten und wanderte für sechs Jahre ins Gefängnis. Dort schrieb sie "Eros, Sinn meines Lebens", 1932 veröffentlicht. Sechs Jahre zuvor: "Die Peitsche der Leidenschaft. Mein Schicksal". Beide Bücher stehen heute auf dem Index der Bundesprüfungsstelle für jugendgefährdende Schriften. Die junge Disziplin einer Historischen Anthropologie der Sexualität kümmert sich um solche Fälle ("Von Lust und Schmerz". Eine Historische Anthropologie der Sexualität. Herausgegeben von Claudia Bruns und Tilmann Walter. Böhlau Verlag, Köln 2004. 332 S., br., 24,90 [Euro]). Die Experten für Erregungen im Kontext untersuchen die Formen, die sexuelles Erleben und das Erleben der Sexualität in Kultur und Gesellschaft finden: in Bett und Überbett.

Die deutsche Jugend, erfahren wir, fällt übereinander her. Den Antrieb dazu geben verschärft die Mädchen. Mehr Mädchen als Jungen haben vor dem achtzehnten Lebensjahr ihren ersten Geschlechtsverkehr. Die Jugend Skandinaviens vorneweg. Mit siebzehn Jahren oder früher vereinigen sich sexuell: in Dänemark 58 Prozent der Jungen und 72 Prozent der Mädchen, in Norwegen 47 gegenüber 60 Prozent und in Finnland 50 gegenüber 59 Prozent. Die bekannte Variante, daß Jungen es früher machen als Mädchen, findet man in südlichen katholischen oder orthodoxen Ländern.

Nun führt die unmäßige Liebe zu schweren Krankheiten, saugt dem Menschen die Kraft und die Wärme weg, läßt sein Blut faulen und dörrt sein Knochenmark aus. Mit diesen Meldungen versuchte vor über sechshundertfünfzig Jahren Konrad aus Eichstätt, Arzt, seine Mitmenschen zu züchtigen. Noch die Homosexuellen um Neunzehnhundert heucheln in Freundschaftsverbänden und Freundschaftszeitschriften bürgerliche Zurückhaltung: "Diejenigen, die früher in der Prostitution, in Verirrung und zerrüttender Selbstliebe das Liebesglück suchen mußten, haben heute die Möglichkeit, es unter kultivierten und menschenwürdigen Verhältnissen im Kreise anständiger, von wahrer Sittlichkeit, geistiger Vertiefung und gesundem Empfinden getragener Menschen zu finden."

Heute, im Kreis wenig anständiger, von welcher Sittlichkeit, von welcher geistigen Vertiefung, immerhin von Gesundheitseuphorien getragenen Menschen, masturbieren mit fünfzehn Jahren oder früher zwar mehr Jungen als Mädchen, doch die Zahl der Mädchen bei der Masturbation steigt. Die Wissenschaft fand heraus: Die Masturbation hat den Makel der Ersatzbefriedigung verloren und gilt als eine schöne Ergänzung zum Sex mit dem Partner. Nur zehn Prozent der Jugend plagt dabei ein Schuldgefühl. Jungs und Mädels tragen selbstbewußt ihre sexuellen Wünsche vor und einigen sich vorfreudig auf Grenzen. Die Wissenschaft nennt diesen modernen moralischen Code, der auf Konsens beruht: "Verhandlungsmoral".

Einig waren sich am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Ärzte der Landesheilanstalt Marburg darin, über die Sexualität der dort eingelieferten Frauen zu schweigen. Die Vertreter des Faches distanzierten sich von der gängigen Hysterie-Lehre, die den Blick auf die Genitalien lenkte, und lehnten Massagekuren am weiblichen Unterleib ab. Doch während die Marburger Ärzte in ihren Gutachten so taten, als sei nichts, nahmen sie in ihren "Tagesnotizen" kein Blatt vor den Mund, erzählten, daß Frau Friederike Agnes W. ständig mit ihrem Becken wippte. Aus den Untersuchungsberichten geht hervor, daß manche Frauen ihr Leiden auf ihre Männer schoben, weil die Männer ihren ehelichen Pflichten nicht nachkamen: "Da hab' ich mich beklagt, wozu bin ich denn sonst verheiratet", so zu Recht Patientin Elisabeth M. Doktor Fritz Kahn stellt in seinem Buch "Unser Geschlechtsleben" aus dem Jahr 1927 fest: "Ein häufiges Motiv für die Homosexualität der Frau bildet die mangelnde Geschlechtsbefriedigung in der Ehe oder die unglückliche Ehe überhaupt."

Auch aus dem Württemberg des achtzehnten Jahrhunderts liegen Zeugnisse vor über Frauen, die in derben Worten von ihren Männern mehr Sex verlangten. Von den Frauen, die nicht zum Orgasmus kamen, weil ihre Beischläfer den "coitus interruptus" zur Schwangerschaftsverhütung einsetzten, erwähnen wir hier nur "ana maria", die "es zwahren gern gehabt, das er solches werckh verlängert hätte" - und schlagen dann die Brücke über das Tal der unbefriedigten Lust der Frauen bis zu jener Bürgerin, die in einem berühmten Buch von Alice Schwarzer das bundesrepublikanische Schweigen über den ungleich verteilten Orgasmus in den Ehebetten mit dem Bekenntnis brach: Ihr Mann hätte erst vor wenigen Tagen mit ihr geschlafen, sie mit ihm vor Jahren.

Die homosexuellen Erfahrungen der Jugend sinken. Die Wissenschaft vermutet als Ursache dahinter nicht Aids, sondern die öffentliche Rede über Homosexualität, die den Gegensatz "homosexuell/heterosexuell" befestigt habe. Die Sexualisierung der Medien verstärkt die heterosexuelle Sozialisation: Männchen machen hier, Weibchen machen dort. Doch dank dem Ausbund an medialem Sex bleibt die Jugend dort kontrolliert, wo den Eltern das Blut zu sausen begann. Unwahrscheinlich, daß aus dieser Generation ein Georges Bataille aufsteigt und von der heiligen Erotik zu schwärmen beginnt. Wahrscheinlich aber, daß aus dieser Generation der Nachwuchs für die Historische Anthropologie der Sexualität aufsteigt und in die Archive ausschwärmt, wo die erregten Körper in den Papieren schlummern.

EBERHARD RATHGEB

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Sexualität selbst habe Geschichte, außerdem eigne sich die Geschichte der Sexualität zu mehr als zu einer Sittengeschichte, behauptet Jürgen Martschukat: Sexualität sei in Machtgeflechte und gesellschaftliche Ordnungen eingebunden, die selbst durch und durch historisch seien. Insofern sei die Frage obsolet geworden, schlussfolgert Martschukat, ob Sexualität sozial konstruiert oder "essenziell" sei. Sexualität könne außerhalb von Geschichte gar nicht existieren. Diese These stellt er seiner Besprechung des von Claudia Bruns und Tilmann Walter betreuten Sammelbandes "Von Lust und Schmerz" voraus; elf Beiträge soll der Band enthalten, die sich überwiegend mit Konzeptionen oder Wahrnehmung von Sexualität im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert befassen. Nach Definitionen des Normalen und des Abnormen werde gefragt, berichtet Martschukat, um "historische Rationalitäten" aufzuspüren; nach Gesundheitslehren, Haushaltsanleitungen und Justizverfahren, die (homo- und andere) sexuelle Handlungen ahndeten; nach der Figur des arischen heterosexuellen Mannes, der als Gegenfigur in sexualwissenschaftlichen Texten den "abartigen Juden" zur Folge hatte. Der spannendste Text stamme von Gunter Schmidt, so Martschukat, der Jugendmagazine analysiert habe und dem Ideal von Schönheit und Konsumierbarkeit von den 20er Jahren bis heute gefolgt sei. Demnach hat der Jugendwahn schon früh eingesetzt.

© Perlentaucher Medien GmbH
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