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"Kuratieren" ist zu einer coolen Parole geworden - der Begriff expandiert vom Metier der Museumsleute in alle Lebensbereiche und erfasst ein Lebensgefühl, in dem nahezu alles zur Kunstform wird. Mit unwiderstehlichem Elan schildert Hans Ulrich Obrist, Guru der Kunstszene und einer der einflussreichsten Kuratoren der Welt, worum es bei seiner Arbeit geht. Hans Ulrich Obrist scheint überall zu sein - er ist auf allen Kontinenten aktiv, arbeitet stets an mehreren Ausstellungen gleichzeitig und kennt vermutlich mehr Künstler als jeder andere lebende Zeitgenosse. Doch worum geht es überhaupt, wenn…mehr

Produktbeschreibung
"Kuratieren" ist zu einer coolen Parole geworden - der Begriff expandiert vom Metier der Museumsleute in alle Lebensbereiche und erfasst ein Lebensgefühl, in dem nahezu alles zur Kunstform wird. Mit unwiderstehlichem Elan schildert Hans Ulrich Obrist, Guru der Kunstszene und einer der einflussreichsten Kuratoren der Welt, worum es bei seiner Arbeit geht. Hans Ulrich Obrist scheint überall zu sein - er ist auf allen Kontinenten aktiv, arbeitet stets an mehreren Ausstellungen gleichzeitig und kennt vermutlich mehr Künstler als jeder andere lebende Zeitgenosse. Doch worum geht es überhaupt, wenn eine Ausstellung gemacht wird? Welche Bedeutung hat dieser gewaltige Energiestrom der Kunstszene für das Verständnis unserer Gegenwart? Und was ist die Philosophie hinter dem "Kuratieren"? Obrist, der mit 24 Jahren seine erste Ausstellung in seiner Küche kuratiert hat, erzählt von seinem Weg, von befreundeten Künstlern wie Gerhard Richter, Peter Fischli und David Weiss oder Alighiero Boetti und vom obsessiven Leben mit der Kunst und für die Kunst.
Autorenporträt
Hans Ulrich Obrist ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Gallery in London. Das Fachmagazin "Art Review" hat ihn 2010 und 2011 auf Platz 2 der 100 einflussreichsten Menschen in der Kunstbranche gewählt, 2009 auf Platz 1.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Vom Beruf des Kurators muss man schon besessen sein, weiß Rezensent Christian Saehrendt nach der Lektüre von Hans Ulrich Obrists autobiografischer Textsammlung "Kuratieren!". Denn der Kritiker liest hier nicht nur von der Flüchtigkeit des Ausstellungserfolges und den meist nicht enden wollenden Bemühungen und Gesprächen, von denen häufig nur "heiße Luft" bleibe, sondern auch von Obrists eigenem, bis an die Grenzen der eigenen Gesundheit reichendem Engagement. Darüber hinaus erhält der Rezensent hier Einblicke in Erweckungserlebnisse, Vorbilder und Projekte Obrists.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2015

Definiere das Jetzt! Ändere die Spielregel!
Fünf Schritte auf dem Weg zur zeitgenössischen Lebenskunst des "Kuratierens", herausdestilliert aus dem neuen Buch des Meisters Hans Ulrich Obrist

Dass Hans Ulrich Obrist im System der zeitgenössischen Kunst ein zentrales Element ist, hat sich herumgesprochen. Mit seiner Fähigkeit zur Kombination von Ideen, Menschen, Institutionen und atmosphärischen Zuständen aller Art ist er für den Betrieb unersetzlich geworden; seine Begeisterung, Schnelligkeit, Ubiquität, Freundlichkeit und Intelligenz sorgen dafür, dass ihm dabei so rasch auch niemand gleichkommt. So ist HUO (wie er abgekürzt im Milieu bisweilen erscheint) zum Prototyp einer Tätigkeit geworden, die in den letzten Jahren einen steilen Aufstieg zu einer fast schon universellen Praxis erlebt hat: der des Kuratierens. "Kuratiert" werden heute nicht nur Ausstellungen, sondern auch Zeitungsartikel, Blogs, Modemarken, der gesamte Alltag. "Kuratieren" scheint das gültige ästhetische Selbstverhältnis von Leuten, denen ihr ästhetisches Selbstverhältnis wichtig ist, so präzise wie kein anderes Tätigkeitswort zu formulieren. Doch zugleich ist alles andere als klar, was diese Tätigkeit mit der Ästhetik eigentlich anstellt, und was genau sie von ihrem Urheber verlangt.

An Wörtern darüber fehlt es nicht: Jährlich erscheinen viele hundert neue Seiten, die Obrists Projekte und Gespräche mit Künstlern, Wissenschaftlern und anderen Kuratoren fortlaufend dokumentieren. Doch eigentümlicherweise geben die vielen Wörter über die Funktion dieses merkwürdigen Vorgangs wenig preis; anstatt aus ihm herauszutreten und ihn von außen zu betrachten, paraphrasieren sie ihn bloß, vollziehen ihn selber mit. Nun aber hat Obrist ein autobiographisches Buch mit dem programmatisch befehlenden Titel "Kuratieren!" veröffentlicht, in dem er den Imperativ der Zeit aus seinem eigenen Leben ableitet. Deshalb lässt es sich - über seine eigenen Absichten hinaus - wie einen historischen Überrest lesen, dem künftige Generationen einmal etwas über die Motive unserer Zeit entnehmen werden. Und die Zeitgenossen können mit dieser Methode genauer, als das bisher möglich war, erkennen, auf welche Neben- und Hinterbedeutungen sie sich bei der neuen Lebenskunst einlassen. Fünf erste Ratschläge für den zeitgemäßen Kuratierwilligen seien hier nun schon mal aus dem Buch des Meisters herausdestilliert.

1. Sprenge alle Systeme, nur nicht dasjenige, mit dem du die anderen sprengen kannst

Gleich zu Beginn macht Obrist klar, welche Lebenserfahrung zu seiner Beschäftigung mit der Kunst führte: die Schweiz. Genauer: deren "Diskurs in der Enge", wie er zustimmend Paul Nizon zitiert. Obrist führt das nicht näher aus, wie er überhaupt in diesem Buch über sein Leben diskret bleibt, was seine Gefühle und Einsichten betrifft, sofern sie sich nicht in Zitaten prominenter Anderer ausdrücken lassen. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass gerade die Enge seines Geburtslandes ihm den Impuls gab, die permanente Überschreitung von Grenzen zu seiner Lebensaufgabe zu machen. Daraus resultiert seine Definition der Kunst: "das, was die Definition erweitert" - diese Sicht lernte er durch die Künstler Fischli und Weiss kennen, deren Nähe er schon als Sechzehnjähriger suchte. So ist auch das Kuratieren für ihn nicht das Erfüllen einer konventionellen Vorstellung von Ausstellung, sondern jedes Mal ein neuer Versuch, deren Grenzen und Spielregeln zu verändern. Wenn aber das Kunstsystem den Rahmen bereitstellt, alles Vorhandene ständig zu überschreiten, bedarf es selber in seiner Gänze der Schonung, ja Verehrung. Obrist erzählt seinen Weg wie die Geschichte einer Initiation: "Wie konnte ein erster Schritt in diesem Kunstsystem aussehen? Wie konnte ich für Künstler von Nutzen sein?" Dieser Ehrfurchtston, mit dem Obrist jeden einzelnen der Namen von Künstlern und Theoretikern umgibt, die in Kunstbuchhandlungen feste Größen sind - manche von ihm selbst dazu gemacht -, zieht sich durch das ganze Buch. Die Kunst folgt im Mechanismus ihrer Wertbildung einer strengen, von außen nicht recht einsehbaren Hierarchie, die noch bei ihren anarchischsten Gesten Autorität erheischt und Gehorsam einfordert.

2. Erlebe die Freiheit der Willkür, gerade wenn du dich von tausend Zwängen eingesperrt fühlst

Das zwanzigste Jahrhundert war das Zeitalter der Manifeste, das 21. ist das Zeitalter des Austauschs. So etwas muss man entscheiden, und Entscheidungen trifft der Kurator unentwegt, nicht nur darüber, welche Künstler er wie präsentiert, sondern auch darüber, was gerade ist oder nicht ist. Nicht zuletzt darauf beruht die Faszination der Kuratoren-Tätigkeit: dass sie sich Willkür leisten zu können scheint und die Freiheit der Entscheidung als bedeutungsvolle Geste inszeniert. Das ist umso attraktiver, als das Gefühl zunimmt, in Routinen und Systeme eingezwängt zu sein, die einem in Wirklichkeit kaum eine Wahl lassen. Vielleicht nur noch im Klein-Klein des Alltagskonsums: welche Zahnpasta man benutzt. Oder im ganz Großen: welches Paradigma gerade die Gegenwart definiert. Das Winzige und Riesige fallen in der Kunst in eins, weshalb sich das "kreative Selbst, das frei durch die Welt streift und ästhetische Entscheidungen darüber trifft, wohin es geht, was es isst, trägt und tut" (Obrist) das Vokabular der Kunst für sein eigenes Leben leiht. Und mit besonderer Folgerichtigkeit tun das auch all die Industrien, die den Konsum organisieren und "aus vielen, global verfügbaren Einzelteilen ein neues, nie gesehenes kommunikatives Kraftfeld" bauen müssen, wie gerade der Chef einer Werbeagentur formulierte. Obrist schildert, wie er auch selber sein kuratorisches Prinzip auf sein Leben anwendet, wenn er zum Beispiel Nachtzüge nicht nur zur Reduzierung des Schlafs benutzt, sondern auch, um "Alternativen für die Organisation des Alltagslebens auszuprobieren".

3. Habe keine Angst, dich wie ein Weltgeist zu fühlen

Wohin geht die Entwicklung der Kunst "heute"? Möglicherweise dahin, schreibt Obrist in Anlehnung an den Philosophen Michel Serres, "dass sie sich den lebenden Spezies öffnet". Oder vielleicht auch, heißt es dann im nächsten Kapitel unter Berufung auf den Philosophen Homi K. Bhabha, ist das Dazwischen-Sein "eine Grundbedingung unserer Zeit". Tja, schwierig, möglich wäre beides, aber der Kurator muss sich festlegen. Die zeitgenössische Kunst braucht den Kurator vor allem deshalb, weil er ihr sagt, was überhaupt zeitgenössisch ist. Wenn der Begriff nicht tautologisch sein soll (alle Kunst war zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ja zeitgenössisch), bezeichnet er eine Epoche jenseits aller Epochen, die zur Feststellung ihrer Bedeutung (und Museumstauglichkeit) daher ständig den Nachweis ihrer Gegenwärtigkeit erbringen muss. Das verlangt dem Kurator einiges ab: Er muss in sich das Bewusstsein eines Weltgeists ausbilden, dessen subjektiven Interessen, Sensorien, Empfindlichkeiten das definieren können, was den Moment des Allgemeinen ausmacht. Jedes Werk, jede Ausstellung soll ja eine eigene Epoche sein. Der Kurator hat in dieser Situation nicht nur die Aufgabe der simultan mit der Kunst sich vollziehenden Einordnung, sondern der fortlaufenden Erkundung neuer Grenzüberschreitungen, die im Strom der Zeit dann überhaupt erst die Entdeckung von Zäsuren möglich machen.

4. Umgebe dich mit Bedeutungen aller Art, lasse dich aber von deren Gewichten niemals belasten

"Am 1. Januar 2000 telefonierte ich mit Matthew Barney, und dabei erwähnte er etwas Interessantes: Unter Künstlern, so meinte er, gebe es einen neuen Hunger nach Live-Erfahrung." Dieses Notat ist in der Tat in doppelter Hinsicht interessant: Zum einen entstand daraus natürlich gleich ein neues Obrist-Projekt, das im Lauf eines Abends jedem der beteiligten Künstler nur eine begrenzte Zeit für seine Live-Präsentation zur Verfügung stellte. Zum anderen verraten Barneys Bemerkung und Obrists Interesse etwas über den Kunst-Kontext, innerhalb dessen sie überhaupt erst verständlich sind. Außerhalb wäre es zumindest erklärungsbedürftig, weshalb ein Bedürfnis nach Lebendigkeit als "neu" bezeichnet werden kann. An anderer Stelle erzählt Obrist von einem Künstlertreffen: "Ein Blizzard war angekündigt, und so erinnerte der Künstler Lawrence Weiner alle daran, dass sich die Wirklichkeit des Künstlers nicht von jeder anderen Wirklichkeit unterscheidet." Aber offenbar ist die Wirklichkeit des Künstlers doch eine, die sich an solche Wahrheiten erinnern lassen muss.

Was derartige Statements, die in einer Welt draußen nicht ohne Komik wären, innerhalb der Kunstwelt zu Begeisterung entfachenden Erleuchtungen machen kann, ist der Umstand, dass deren eigentliches Thema und Kriterium seit Duchamp die ständige Neuziehung von Grenzverläufen zwischen Kunst und Nicht-Kunst ist. Die Zusammenhänge, Fakten und Bedeutungen der Welt draußen, die dieser Kunstwelt der Kurator liefern soll, sind ihr letztlich nur als Kontrastmittel wichtig. So erklärt sich die eigentümliche Schalheit vieler Kuratoren-Theorien, wenn man sie isoliert von diesem Verwendungszweck in einem außerkünstlerischen Zusammenhang liest. Die vermeintlich entgrenzte zeitgenössische Kunst erweist sich damit wieder als eine Eigenwelt, die dadurch definiert ist, dass man in ihr Dinge versteht, die man außerhalb nicht versteht.

5. Sei niemals ironisch, auch und gerade wenn du es mit Ironischem zu tun hast

In Obrists Buch fehlt etwas völlig, was man sonst in keinem Bericht über gegenwärtige Kultur vermisst: das augenzwinkernde Einverständnis-Erheischen über die Relativierung bestimmter Begriffe, Namen, Leute, Vorgänge. Das Buch ist, mit anderen Worten, völlig unironisch. Alles in der Welt der Konzepte und Projekte ist für Obrist auf irgendeine Weise staunenswert, weshalb man sein durchgängig anerkennendes Zitieren nicht mit schnödem Namedropping verwechseln darf. Da fügt sich sogar die These ein, "dass es nichts Ernsthafteres als die Ironie gibt", denn auch sie gilt der bewunderten Kunst, die sie sich zu eigen macht.

MARK SIEMONS

Hans Ulrich Obrist: "Kuratieren!". C. H. Beck, 206 Seiten, 19,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

Die Fruchtfolge des Kurators
Hans Ulrich Obrist erzählt von der großen Party der modernen Kunstwelt, in der er einer der zentralen Netzwerker ist
Sie klingt fast naiv, diese Stimme, erstaunt, voll Anteilnahme. Der Schweizer Akzent, der in allen Sprachen, die dieser Mann spricht, durchklingt, federt die Geschwindigkeit der Gedanken etwas ab, erdet jede Begegnung – sei es ein Gespräch mit der Performance-Veteranin Marina Abramović oder mit Jungstar Ed Atkins. Vor allem klingt stets durch, wie vertraut Hans Ulrich Obrist mit der Kunst ist, wo sie ihm in Gestalt von Künstlern begegnet.
  Der ruhige Moderator gilt als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der Kunstwelt, auf Rankings erscheint sein Name meist an der Spitze. Und auch wenn er seit zehn Jahren an der Londoner Serpentine Gallery angestellt ist, wird die Liste der Biennalen, Werkschauen und Gruppen-Ausstellungen, die er weltweit kuratiert, monatlich länger – es müssen um die hundert Vernissagen sein, bei denen er Gastgeber war, schätzte er selbst einmal. Dass er ein zentraler Netzwerker der Szene ist, dokumentiert er zudem mit den Gesprächs-Marathon-Veranstaltungen, zu denen er alljährlich im Herbst einlädt.
  Dass Hans Ulrich Obrist nun sein Buch „Ways of Curating“ auf Deutsch veröffentlicht, lässt auf eine grundsätzliche Betrachtung hoffen: „Ganz offenkundig wird der Begriff ,Kuratieren‘ in einer größeren Bandbreite von Kontexten verwendet als jemals zuvor“, konstatiert er, „im Hinblick auf alles, von einer Ausstellung mit Drucken Alter Meister bis hin zum Sortiment einer Weinhandlung.“ Doch das Ausrufungszeichen im Titel „Kuratieren!“ deutet an, dass hier keine Analyse oder Reflexion zu erwarten ist – und für ein Manifest ist der Text wiederum zu kurzweilig formuliert: Auf zweihundert Seiten bringt Obrist eine Vielzahl von Motiven, die sich fast zu einem Entwicklungsroman fügen, der Karrierestationen des im Jahr 1968 in Winterstein geborenen Obrist nachzeichnet, der erstmals im Alter von 23 Jahren in seine Studentenwohnung zur Ausstellung einlud, um genau zu sein: in seine Küche. Wo damals – die Kunstszene war noch überschaubar – Christian Boltanski eine Kerze unter die Spüle stellte und Hans-Peter Feldmann Marmoreier in den Kühlschrank sortierte. Die Abschnitte dieser – versteckten – Biografie handeln mal von Künstlern, mal von Lektüren oder Ausstellungen – und werden vor allem durch einen Stil zusammengehalten, der unmissverständlich subjektiv den Erzähler in den Mittelpunkt rückt. „Ich wurde im Atelier von Fischli und Weiss geboren: Dort fiel meine Entscheidung, Ausstellungen kuratieren zu wollen“, heißt es im Prolog. Anekdoten zeigen einen früh Berufenen, der schon im Alter von vierzehn Jahren von komplizierten Ausstellungen wie Harald Szeemanns „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ so fasziniert ist, dass er sie einundvierzig Mal besucht. Einer, der, während sich die Mitschüler auf Klassenfahrt in Paris vergnügen, an die Peripherie fährt , um Annette Messager und Christian Boltanski zu besuchen.
  Das ist lesenswert, wo Obrist etwas von der gedanklichen Weite, der Unbefangenheit und Unternehmungslust der Künstler mitteilt, die den reiselustigen Aficionado aus der Schweiz offensichtlich gerne weiterreichten ans nächste Atelier. Doch sind die Ideen hier so lose verkettet wie die Besuche, die durch lange Fahrten im Nachtzug verbunden sind. Und weil jeder Gedanke letztlich in einer Begegnung – mit einem Künstler oder einem Literaten – verankert wird, wirkt „Kuratieren!“ vorsätzlich unkritisch: Die Begegnung mit dem italienischen Künstler Alighiero Boetti 1986 „veränderte mein Leben innerhalb nur eines Tages“, er „sagte, dass Kuratieren bedeuten könne, Unmögliches möglich zu machen“. Und Christian Boltanski habe ihm anvertraut: „Menschen erinnern sich nur an solche Ausstellungen, die eine neue Form oder Variante der Zurschaustellung erfinden.“ Alles richtig, alles wichtig – und so erzählt auch unwidersprechbar.
  Als Alighiero Boetti 1994 stirbt, trauert Hans Ulrich Obrist auch um die vielen Gespräche, „die nicht mehr stattfinden würden“, und beschließt, künftig seine Konversation zu dokumentieren, erst als Tonaufnahme, bald mit der Digitalkamera. „Diese Aufnahmen sind zu einer Forschungsmethode geworden und bilden die Grundlage meiner kuratorischen Tätigkeit“, zweitausend Aufzeichnungen hat er inzwischen beisammen und begriffen, „dass diese Gespräche und meine übrige Arbeit ineinander greifen, ähnlich wie das Konzept der Fruchtfolge in der Landwirtschaft“.
  Hans Ulrich Obrist hat lange davon gezehrt, dass er als Vertrauter der Künstler gilt und ihnen Gehör verschaffte in einem Metier, das Anfang der Achtzigerjahre die zeitgenössische Kunst in Museen und Ausstellungshäusern noch über die Klinge der Kunstgeschichte springen ließ. Diese rückwärts zu erzählen, aus der Perspektive des Heute auf das Vergangene zu blicken, ist offensichtlich das Projekt des Kurators, der selbst kein akademischer Kunsthistoriker ist. Sondern „bei Professor Hans Christoph Binswanger, der das Institut für Wirtschaft und Ökologie an der Universität St. Gallen leitete, politische Ökonomie studiert“ hat. Das ist in diesem Zusammenhang charakteristisch für Obrist, der sich konsequent weigert, Institutionen anzuerkennen, immer nur auf Einzelbegegnungen und persönliche Verhältnisse abzielt. Weil es den Akzent verschiebt – zurück auf ein Meister-Schüler-Verhältnis.
  Zumal der Verzicht, Kunstgeschichte wahrzunehmen, dem Text einige Missverständnisse beschert: Nein, Kunstausstellungen wurzeln nicht in erster Linie „in den Prozessionen des Spätmittelalters“, und das „Pfauenzimmer“, das James McNeill Whistler dem Reeder Leyland ausmalte, ist womöglich auch nicht der erste Vorläufer von Installationskunst. Es ist erfrischend, die Eliten der Renaissancezeit – Adel, Mönche, wohlhabende Privatpersonen – als „recht bunte Truppe“ zu bezeichnen, die sich für Wunderkammern begeisterte. Aber zu konstatieren, dass diese sich schon für Wissenschaft und Kunst interessierten, bevor es „moderne Institutionen“ gab wie die British Library oder das Natural History Museum, stellt die Geschichte auf den Kopf – wo doch gerade die Wunderkammern Vorläufer aller Sammlungen, vom Buch bis zum Skelett, sind.
  Glaubwürdiger ist für ihn eine „oral history“, gerade was die eigene Profession angeht: „Der größte Teil der Geschichte des Kuratierens ist mündliche Überlieferung; es handelt sich in hohem Maße um eine Geschichte, die nur erzählt werden kann, weil sie noch nicht niedergeschrieben wurde.“ Doch wer nur auf Einzelfiguren fokussiert, nur beispielhaft argumentiert, der verwischt das Gesamtbild, bleibt blass, wo es um Kräfteverhältnisse und Strukturen geht. Während der Karriere von Hans Ulrich Obrist wurde zeitgenössische Kunst ungeheuer populär, er hat ja selbst Anteil daran. Hat sich dadurch ihre Funktion verändert? Wie hat das Wachstum des Kunstmarkts sich ausgewirkt? Bleiben innovative Ausstellungen wie seine „11 Räume“ voller Performance-Kunst die gleichen, wo sie auf Messen gastieren?
  Am meisten erstaunt, dass auf den
200 Seiten so gut wie nie das Publikum Erwähnung findet. Die Besucher sind irgendwie nur da – ob man ihnen nun als Fluggästen der Austrian Airline ein von Boetti gestaltetes Puzzle in die Hand drückt, ein paar Insider in ein Zimmer im Pariser Carlton Palace lädt oder Tausende Quadratmeter mit Malerei bespielt unter der Ansage „Der zerbrochene Spiegel“. Ein Kurator, so sollte man doch annehmen, ist nicht nur der Kunst verpflichtet, sondern auch der Gesellschaft, seiner Zeit. In den letzten Kapiteln geht es um neue Formen von Konferenzen, zu denen Obrist nicht in den Kensington Park einlädt, sondern womöglich in einem alten Haus im abgelegenen Kitakyusho Rem Koolhaas mit Marina Abramović zusammenbringt, während im Nebenraum der Mathematiker Gregory Chaitin oder Quantenphysiker Anton Zeilinger warten. „Das Ganze wirkte ein wenig wie ein Salon für das 21. Jahrhundert“, stellt Obrist fest. Ja, es wirkt vor allem exklusiv. Der Kurator, der dem Publikum die Tür zu den Künstlern geöffnet hat, steht jetzt, dreißig Jahre später, als Türsteher neben dem Eingang einer sehr ausgesuchten Party.
CATRIN LORCH
Hans Ulrich Obrist: Kuratieren! Mit Asada Raza. Aus dem Englischen von Annabel Zettel und Andreas Wirthensohn. C. H. Beck Verlag, München 2015. 206 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Alles wird nun kuratiert, von der
Ausstellung Alter Meister bis zum
Sortiment einer Weinhandlung
Abramović und Kohlhaas, dazu
ein Quantenphysiker – ist das der
Salon für das 21. Jahrhundert?
Der Mann, den die
Künstler lieben: Hans Ulrich Obrist
.
Foto: AP Photo/Luigi Costantini
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"Das Buch wird dem Nachwuchs eine Bibel sein."
Ulrike Knöfel, Der Spiegel, 31. Januar 2015

"Der Meister der Szene erzählt."
Deutsche Presse Agentur, 17. März 2015

"Lehrreich und unterhaltsam."
Stephan Wackwitz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. März 2015

"Eine sympathisch fließende und verknüpfende Darstellung seiner Vision vom Kuratieren - getrieben, stets auf der Suche nach einer neuen Ausstellungserfahrung von Raum, Zeit und Welt."
Eva-Christina Meier, die tageszeitung, 14. März 2015