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"Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen Weltgeschichte", schreibt Karl Marx. Und in der Tat, wer sich mit der Sinnenwelt der Vergangenheit und Gegenwart befassen will, sieht sich mit einem kaum durchschaubaren Geflecht verschiedenster Traditionen, mit beharrlich fortlebenden Bildern, Metaphern und Vorstellungen konfrontiert. Wer, wie der Autor dieses Buches, also nicht nur ein historisches Archiv der Sinneseindrücke anlegen, sondern auch den Veränderungen der menschlichen Wahrnehmungsweisen nachspüren will, tut deshalb gut daran, sich zunächst von einigen liebgewordenen…mehr

Produktbeschreibung
"Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen Weltgeschichte", schreibt Karl Marx. Und in der Tat, wer sich mit der Sinnenwelt der Vergangenheit und Gegenwart befassen will, sieht sich mit einem kaum durchschaubaren Geflecht verschiedenster Traditionen, mit beharrlich fortlebenden Bildern, Metaphern und Vorstellungen konfrontiert. Wer, wie der Autor dieses Buches, also nicht nur ein historisches Archiv der Sinneseindrücke anlegen, sondern auch den Veränderungen der menschlichen Wahrnehmungsweisen nachspüren will, tut deshalb gut daran, sich zunächst von einigen liebgewordenen Vorstellungen zu verabschieden. Hierzu zählt beispielsweise die Annahme von der "Naturhaftigkeit" der Sinne, die zu dem landläufigen Irrtum verführt, die Untersuchung der Sinne allein den Biologen oder Medizinern überlassen zu können.
Die Geschichte der Sinne zu erzählen, bedeutet demnach auch Auskunft darüber zu geben, auf welch unterschiedliche Weise im Laufe der Jahrhunderte, im Wandel der Ges ellschaften und ihrer Kulturen über die Sinne gesprochen wurde, und wie sich mit dem verändernden Interesse an den Sinnen zwangsläufig die Art ihrer Untersuchung wandelte. Die Sinneswahrnehmung an sich und das Reden über sie sind eben zwei verschiedene Dinge, und ob sie gar nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, ist nach diesem Buch mehr als zweifelhaft.
Robert Jüttes Buch ist nicht nur eine faszinierende Geschichte der langen, vielgestaltigen Beschäftigung mit den Sinnen von der Antike bis zur Gegenwart, sondern zudem eine überaus kenntnisreiche Darstellung der Geschichtlichkeit unserer Sinne, ihrer großen - durchaus wechselnden - Wertschätzung, sowie ihrer jeweiligen sozialen Gebrauchsweisen.
Autorenporträt
Robert Jütte ist Professor für Neuere Geschichte und Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch Stiftung (Stuttgart). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sowie die Alltags- und Kulturgeschichte der frühen Neuzeit. Er gehört zu den bedeutendsten Kulturwissenschaftlern, die sich in Deutschland mit sexualwissenschaftlichen Themen beschäftigen. Die Bandbreite seiner zahlreichen Publikationen kreist um Sexualität, die Geschichte jüdischer Wissenschaft in Deutschland, Homöopathie und alternative Medizin. Neben verschiedenenen Zeitschriften gibt er zudem die kritische Edition der Krankenjournale Samuel Hahnemanns heraus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000

Nein, du wirst nicht singen!
Das Ohr denkt mit: Sinn und Sinnlichkeit / Von Ralf Konersmann

Auch im Alltag gibt es Sinneseindrücke, von denen man sagen möchte: Das vergißt sich nicht. Klassisch ist das Geräusch, das eine irgendwie in Schräglage geratene Schreibhand mit einem Stück Kreide auf einer Schiefertafel hervorzurufen vermag. Wer diesen Ton auch nur einmal vernommen hat, wem sich dabei die Haare gesträubt haben und die Schauder der berühmten Gänsehaut über den Rücken gekrochen sind, dem braucht nie mehr erklärt zu werden, welches Erregungspotential ein im Prinzip so harmloses Phänomen wie "Quietschen" in sich birgt.

Psychologisch-medizinisch betrachtet, handelt es sich bei derlei Reaktionen um Fälle akuter Idiosynkrasie. Man ist "genervt", und es ist zweitrangig, was genau die Aversion ausgelöst haben mag. Was dem einen das Kreischen der Schreibtafel, das ist dem anderen der Fingerabdruck auf dem Weinglas, die offenstehende Kühlschranktür, die Butterschliere in der Marmelade, ein Mann in Sandalen, ein Dialekt, eine Redewendung, ein ganz bestimmtes Wort. Theodor W. Adorno bekannte einst, von Jugend an eine Idiosynkrasie gegen das Wort "Persönlichkeit" gespürt zu haben, und dieses Geständnis allein genügte, um die Marotte allgemein zu machen. Eine ganze Generation politpädagogischer Enthusiasten sprach und, so wird man sagen müssen, fühlte es ihm nach - ohne im übrigen zu gewärtigen, daß der Philosoph seiner eigenen Abneigung und mehr noch seiner Gefolgschaft durchaus mißtraute. Der Begriff der Persönlichkeit sei nicht zu retten, so setzte Adorno Idiosynkrasie gegen Idiosynkrasie, doch im Zeitalter seiner Liquidation "wäre etwas an ihm".

Silvia Bovenschen macht uns die Freude, mit ihrem neuen, versiert und kenntnisreich geschriebenen Buch ein lange Zeit marginales und, wie sich nun zeigt, ebenso lange unterschätztes Empfindungsphänomen zu erschließen. Schon dem Wortsinn nach ist die Idiosynkrasie ein eigensinniges Mischgebilde. Sie entzündet sich am Detail, ja an einem Nichts und erschüttert doch die ganze Person. Im Nu steigert sie sich zum Eindruck einer übergenauen Wahrnehmung und richtet sich doch zugleich auf uns selbst, die wir, ohne den Grund zu ahnen, uns des Übermaßes unserer körperlichen Reaktion bewußt werden.

Mit Paul Valéry betont Bovenschen die Unwillkürlichkeit des Ereignisses, das bereits der Autor der "Cahiers" als Spur einer erloschenen Erinnerung deutet. Die Idiosynkrasie, wo sie akut wird, hebt die Zeit auf und läßt uns für Augenblicke in die Tiefen der "biologischen Urgeschichte" stürzen. Dieser Zusammenhang mag die Unverhältnismäßigkeit erklären helfen, die für idiosynkratische Reaktionen bezeichnend ist, aber auch das überraschende, ja demütigende Moment, das darin liegt, daß Idiosynkrasien sich nicht steuern und "vernünftig" handhaben, geschweige denn vermeiden lassen. Die Idiosynkrasie fällt ihr "Urteil ohne Gnade", und es grenzt an Selbsttäuschung, wenn die Betreffenden nachträglich darangehen, Vernunftgründe für ihre bodenlose Abneigung beizubringen.

Bovenschens dichte Beschreibung läßt schon durchscheinen, weshalb das Phänomen für die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts kaum von Interesse sein konnte. Als kurzzeitiger, doch heftiger und jederzeit drohender Kontrollverlust reiht Kant sie unter die "qualitates occultae" ein und wertet die Idiosynkrasie kurzerhand als "Grille". Nebensache sollte sein und bleiben, was den Geltungsanspruch der Vernunftherrschaft gefährden könnte. Die Rigidität des Reaktionsmusters, die Eigensinnigkeit des Affekts, die Indifferenz gegenüber den sozialen und kulturellen Standards - all dies unterstrich, was in unseren Tagen noch Jürgen Habermas dagegen vorzubringen wußte: Idiosynkrasien, soviel steht für den Theoretiker des kommunikativen Handelns fest, sind "nicht rational".

Ebendies disqualifizierte sie freilich keineswegs generell und allenthalben. Es ist ein trefflicher Beleg für die Dehnungen und Verkehrungen, welche die Kritische Theorie sich im Laufe ihrer Geschichte selbst verordnet hat, daß noch Walter Benjamin, als er auf Karl Kraus zu sprechen kam, in den Texten des Wiener Kritikers die Idiosynkrasie "als höchstes kritisches Organ" erkennen konnte. In einem Artikel für die Frankfurter Zeitung vom 10. März 1931 metaphorisierte Benjamin die Beiträge der Krausschen "Fackel" als Textkörper, deren Immundefekte sich in der schmerzlichen Selbstwahrnehmung des Autors Kraus, aber auch in der "nervlichen Attacke" entluden, mit der die Texte über den passionierten "Fackel"-Leser herfielen. Die Genauigkeit dieser Deutung zeigt sich in der Mischfigur, die sie aus den Artikeln von Kraus herausliest. Benjamin dechiffriert sie als ein ebenso kunstreiches wie schlagkräftiges Zusammentreffen körperlicher, geistiger und affektiver Reaktionen, das offenbar die Basis für ein tieferes Einverständnis zwischen dem Autor und seinen Lesern schuf: ein vertrautes und immer neu bestätigtes Arrangement gemeinsam geteilter Idiosynkrasien.

Es ist nicht das Anliegen der Ideenhistorikerin, aus Schwarz nun unversehens Weiß zu machen, und sie widersteht der Versuchung, das Idiosynkratische modisch zu überzeichnen. Bovenschens Beobachtungen, auch das macht diese klug kombinierende Essayistik interessant, zielen weniger auf moralisch angeleitete Rehabilitationen als auf eine Art historische Phänomenologie. Die dadurch gewonnene Distanz erlaubt den Nachweis jener Ambivalenzen, wie sie bei zahlreichen Gewährsleuten zu beobachten sind. Benjamin, den Blick auf Goethe gerichtet, pries die Idiosynkrasie als das letzte Asyl der Individualität, und Adorno rückte sie in die Nähe ebenso des Takts wie der künstlerischen Strenge, die zum Einsatz des Schocks und der "ungemilderten Grausamkeit" jede nur denkbare Berechtigung besitze. Gelinge es erst einmal, die Nerven abzuschaffen, so Adornos vorsichtige Apologie des Idiosynkratischen, so sei "gegen die Renaissance des Liederfrühlings kein Kraut gewachsen".

Als physiologisches Frühwarnsystem gegen die Verheißungen des ästhetischen und des moralischen Kitsches mögen die Idiosynkrasien ihren Zweck erfüllen. Ihre problematische Seite ist jedoch nicht weniger beachtlich. Während die offenen Formen der Idiosynkrasie sich in einer nahezu körperlichen Aversion gegen dogmatische Verfestigungen zur Wehr setzen, folgert Bovenschen, stehen ihre rationalisierten Formen für eine gleichfalls ans Körperliche grenzende dogmatische Verhärtung. Hauptzeuge der Ambivalenz ist einmal mehr Adorno, dessen Studien über Antisemitismus in diesen Tagen beklemmend aktuell sind. Das Selbstbild des Antisemitismus sei, versichert Adorno, dem Muster der Idiosynkrasie nachempfunden, dem zwanghaften Abscheu gegen die Abweichung vom verabsolutierten Zweckzusammenhang der Gesellschaft. In einer monströsen Verkehrung okkupiere der Täter archaische Schemata der Selbsterhaltung und richte seine Wut gegen die Erstarrungsreaktionen der Opfer. Es handelt sich, wie Bovenschen treffend interpretiert, um eine "Idiosynkrasie aus zweiter Hand": um den blinden Reflex auf "das erbarmungslose Verbot des Rückfalls" und der Anpassung an eine Natur, deren Gesetzen der Täter sich entzieht. Statt dessen identifiziert er sich mit der Verzweiflung der Verfolgten, um, sobald ihm das gelingt, nur um so erbarmungsloser zuzuschlagen.

Bescheiden kennzeichnet Bovenschen ihr Darstellungsverfahren als "Spielform des Kaleidoskops", doch was auf diese Weise zustande kommt, ist ganz außerordentlich und besteht jeden Vergleich. Das gilt zumal für die Passagen über Idiosynkrasie und Schmerz, die auf den Widerstreit von Weltzugewandtheit und Weltabkehr zulaufen, und für die materialreiche "Spukgeschichte des Begriffs", die ihren sachlichen Schwerpunkt in der Medizingeschichte hat und von der Antike aus bis zur Nomenklatur der "Überempfindlichkeitskrankheiten" unserer Tage voranschreitet, insbesondere zu den Diagnosen der Allergologie.

Daß auch Bücher, Tonfälle und gewisse Schwadroneursattitüden Idiosynkrasien hervorrufen können, wird nach all dem niemanden überraschen. Man lausche nur literarischen Hervorbringungen wie der folgenden: "Wenn ich als Kind etwas beim Einkaufen vergessen hatte und deshalb noch einmal widerwillig den Gang zum Tante-Emma-Laden antreten mußte, pflegte meine Mutter halb tröstend, halb belehrend zu sagen: ,Was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben.' Heute ist eine solche physische Anstrengung nicht mehr nötig, man muß es lediglich auf dem Bildschirm haben; denn per Internet läßt sich inzwischen vieles bequem ins Haus bestellen." Und, noch auf der gleichen Buchseite: "Heute reicht schon ein Besuch einer Landesgartenschau (Neumarkt in der Oberpfalz 1998) aus, um als aufmerksamer Zeitgenosse laut Programmvorschau ins ,Reich der Sinne' entführt zu werden, selbst wenn es sich dabei nur um eine von der örtlichen SG Gartenbau gestaltete ,Gewürzinsel' handelt. Und bis zur nächsten Wienerwald-Gaststätte ist es auch nicht weit."

Das ist eine Kostprobe aus dem Eingangskapitel des soeben erschienenen Buchs von Robert Jütte. Man mag es kaum glauben, aber der Titel lautet: "Geschichte der Sinne". Der Leser, mögen sich ihm auch längst die Haare aufgestellt haben, muß durch dieses Intro erst mal durch. Wer nun freilich hofft, daß die Darstellung sich dann steigert, daß das Thema Prägnanz gewinnt und die Sprache zu Kräften kommt, sieht sich enttäuscht. Da ist nichts, was nicht von anderen längst schon gesagt und gründlicher ausgeführt worden wäre.

Nun wird auch der idiosynkratischste Leser im Zweifel bereit sein, das biedersinnige Geplapper eines Autors als Geschmacksfrage beiseite zu lassen und den Gehalt hervorzukehren. Doch dieses Druckwerk verfügt nicht einmal über die Tugenden eines Kompendiums. Keck reiht es sich in die Tradition der Mentalitätsgeschichte ein, ohne den Anspruch auch nur ansatzweise einzulösen. Das eingangs aufgebotene, bei Lucien Febvre und Roger Chartier zusammengeborgte Begriffsbesteck verschwindet spurlos in den breit und behäbig dahintreibenden Zitatmassen des Hauptteils.

Ähnlich verloren steht die Frage nach der "Historizität" der "Sinneswahrnehmung" im Text. An keiner Stelle läßt diese "Geschichte der Sinne" den Verdacht aufkommen, sie könnte die einschlägige Literatur zu dieser Frage - sagen wir: Gottfried Boehms herausragende Studien zur Geschichtlichkeit des Auges - zur Kenntnis genommen haben. Statt dessen werden Fundstücke aus dem Internet und dem privaten Zettelkasten nach den fragwürdigsten Kriterien zu Themengruppen gebündelt und gedankenlos weitergegeben.

Die Wissenschaften, war zuletzt häufiger zu hören, müssen die Öffentlichkeit suchen; sie sollen erklären, was sie tun und wozu sie ihren Aufwand betreiben. In der Tat scheint die Sorge berechtigt, daß mit dem Abgang der letzten bildungsbürgerlich sozialisierten Politikergeneration auch die Hemmung verschwinden wird, die Institutionen des Wissens rein unter Aspekten der wirtschaftlichen Nutzanwendung zu taxieren. In dieser Lage mag manch einer versucht sein, sich aufs Gefälligwerden zu verlegen und das Publikum mit Seichtigkeiten abzuspeisen. Dies aber ist ein Irrweg. Silvia Bovenschens Essay über die Idiosynkrasien ist mustergültig auch deshalb, weil er den Beweis erbringt, daß es auch anders, ja anders sogar weit besser geht.

Silvia Bovenschen: "Über-Empfindlichkeit". Spielformen der Idiosynkrasie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 265 S., geb. 39,80 DM.

Robert Jütte: "Geschichte der Sinne". Von der Antike bis zum Cyberspace. Verlag C. H. Beck, München 2000. 416 S., 17 Abb., geb., 58,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.11.2000

Geschmack oder Verstand
Die Geschichte der Sinne – von der Antike bis zum Cyberspace
Die Sinne sind im Kommen. Was Jahrhunderte lang verdrängt und unterdrückt, verpönt und mit Tabu belegt war, taucht nun in allen Bereichen der menschlichen Existenz auf. Die Event-Kultur treibt uns zu neuen sinnlichen Erlebnissen, inszeniert mit Mitteln aus den großen Schatullen der Marktwirtschaft, zu Seminaren für die Sinne, auf Erlebnisreisen und in sinnliche Wohnlandschaften. Der Stuttgarter Medizinhistoriker Robert Jütte, Spezialist für die großen Perspektiven, die Bögen „von der Antike bis zur Gegenwart”, widmet sich mit seiner neuesten Studie nun der Entwicklung von Sinnlichkeit und Körperlichkeit. In einem leider eher unsinnlichen und mit Details überfrachteten Buch geht er der „Geschichte der Sinne” nach, rekonstruiert er den Diskurs über die Sinne seit den frühen Konzepten antiker Medizin und Philosophie.
Um die Entdifferenzierung der Sinne und ihre Hierarchisierung in der Moderne nachzuweisen, beschreibt Jütte zunächst die Vielfalt antiker Auffassungen. Denn für arabische und manche europäische Philosophen und Ärzte ist es noch im frühen Mittelalter keineswegs selbstverständlich, von nur fünf Sinnen auszugehen. Allein der Tastsinn wird mit bis zu zehn verschiedenen Bezeichnungen belegt. Spätestens seit Aristoteles jedoch war sich die abendländische Philosophie darin einig, dass es nur die fünf bekannten Sinne geben könne. Früh finden sich auch hier Versuche, diese in eine Rangordnung zu bringen, wobei die ferneren Sinne wie Sehen und Hören höher eingestuft werden als die nahen Sinne Geschmack und Tasten. Bereits Aristoteles bewertet das Sehen als den höchsten aller Sinne – ein früher Vorläufer heutiger Theorien über das Visuelle.
Subjektiv mit Urteilskraft
Mit vielfachen Verzweigungen und in einzelnen Abschnitten für jeden Sinn diskutiert Robert Jütte die veränderten Auffassungen, die vor allem dann zum Tragen kommen, wenn die „traditionelle Ordnung der Sinne” in Frage gestellt wird. Im Gegensatz zu vielen anderen wissenschaftlichen Untersuchungen, die ihren Blick auf die Renaissance und den Absolutismus als Zeit der Veränderungen richten, setzt Jütte diesen Übergang im 18. Jahrhundert und bei der Aufklärung an – in diesem Zeitraum hat jener Dualismus zwischen den Sinnen und der Vernunft beziehungsweise dem Verstand sich gefestigt, der noch heute die Diskussion beherrscht.
Jütte stellt sehr gründlich die Diskussion des 18. und 19.  Jahrhunderts zwischen Sensualisten und Rationalisten dar, die auf die Frage hinausläuft, ob und in welcher Weise Verstand und Geschmack von sinnlichen Erfahrungen beeinflusst sind. Diese um das ästhetische Urteil kreisende Debatte bündelt sich in der Kantschen „Kritik der Urteilskraft”, in der die Subjektivität nicht unterdrückt, die Allgemeingültigkeit der Urteile jedoch betont wird.
In dieser Perspektive geht die Vorstellung von den Sinnen nicht nur mit deren Ästhetisierung einher, sondern auch mit der Erziehung und Formung aller Sinne, die sich an einer apriori vorhandenen Vollkommenheit messen muss. Jütte diskutiert dies an den Debatten über den richtigen Umgang mit allen Sinnen, der Vervollkommnung des Geschmacks, wie auch an der Ausrichtung des Blicks und der Verfeinerung des Geruchs. Besonders im späten 19.  Jahrhundert mit den Prozessen der Industrialisierung und Urbanisierung reduziert sich die sinnliche Wahrnehmung immer mehr, die Menschen müssen sich gegen die zunehmende Reizüberflutung, den Lärm des Verkehrs, den Geruch der Schlote und Schornsteine und die Nähe anderer Menschen schützen. Gleichzeitig vereinheitlicht die Industrialisierung auch die Angebote an die Sinne: durch Massennahrung, genormte Bilder in den Medien, die glatten Oberflächen der Kunststoffe.
Vieles in Jüttes Geschichte der Sinne kennt man aus mentalitätsgeschichtlichen oder soziologischen Arbeiten der letzten zwanzig Jahre, die der Autor auswertet. Die Theorien so unterschiedlicher Wissenschaftler wie Baudrillard, Elias, Simmel, Foucault oder Debord bezieht er zwar stets mit ein, ohne sie jedoch für eine eigene Theorie wirklich fruchtbar zu machen. Auch der durchaus sinnvolle Versuch, über Fast-food und Nouvelle cuisine den Bogen zu finden zu den künstlichen Menschen, Maschinen und Datenhandschuhen des Cyberspace, muss so lange im Ansatz stecken bleiben, so lange es über die Addierung von vermeintlichen Fakten hinaus nicht zur Diskussion der Widersprüchlichkeit der Sinne in der Moderne kommt.
Dazu wäre es sicher notwendig gewesen, Ambivalenzen sehr viel mehr in Literatur, Kunst oder Film aufzusuchen und nicht überwiegend – wie Jütte es tut – beim normativen Diskurs stehen zu bleiben. Vorarbeiten dazu gibt es bereits in der angelsächsischen Debatte um die Visualisierung oder auch in der deutschen Kultursoziologie. Einige davon führt Jütte durchaus in seiner umfangreichen Literaturliste an, ohne sie jedoch in seine eigene Untersuchung einfließen zu lassen. Das Fehlen eines kritischen, historisch-anthropologischen Ansatzes macht sich vor allem dort bemerkbar, wo es um die Zurichtung der Sinne, die Panzerung gegen das Ausleben von Sinnlichkeit gehen müsste, die in Jüttes Geschichte der Sinne nur am Rande vorkommen. Eine solche Spur hätte zu den stählernen Körpern des Ersten und Zweiten Weltkriegs genauso führen können wie zu Modellen der Technik als Abwehr gegen das Chaos überflutender Sinne.
So bleibt am Ende ein zuweilen durchaus schmackhafter Streifzug durch die Geschichte der Sinne, der dann aber doch nicht wirklich neue Erkenntnisse zu Tage fördert und den Leser vor allem mit einer Interpretation und einer Bewertung allein lässt. Noch eine – vielleicht nicht unbedeutende – Bemerkung am Rande: Jütte wird nicht müde, bei Elias, Simmel und anderen Wissenschaftlern zu unterstreichen, dass sie „deutsch-jüdische Autoren” seien – während ihm „deutsch-christliche” Autoren offenbar nicht begegnet sind. Womöglich sitzt diese Art der einseitigen Aufmerksamkeit dann doch auch dem lange gepflegten sinnlichen Vorurteil auf, wonach Juden „schlecht riechen” – ein historisches Vorurteil, worüber auch Jütte selbst berichtet: Sinne als Leben und Sinne als Abwehr treffen auf seltsame Weise aufeinander.
THOMAS KLEINSPEHN
ROBERT JÜTTE: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. Verlag C. H. Beck, München 2000. 416 Seiten, 58,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Schade, dass ein solches Thema so unsinnlich behandelt werden kann, bedauert Thomas Kleinspehn. Zu theorielastig, zu detailversessen. Gravierender allerdings findet Kleinspehn, dass der Autor zwar die meisten kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungen der letzten 20 Jahre zur Kenntnis genommen hat, sie aber nicht für eine eigene Theorie verwertet. Das laufe auf eine Addierung von Fakten heraus, meint Kleinspehn, dem ein kritischer historisch-anthropologischer Ansatz fehlt. Vor allem was die Moderne angeht, mit ihrer "Zurichtung der Sinne", ihrer Abpanzerung, ihrer Verarmung, vermisst der Rezensent eigene Fragestellungen. Statt im "im normativen Diskurs" zu verharren, hätte der Medizinhistoriker Widersprüche aufzuspüren versuchen sollen, wie sie in den Künsten zum Ausdruck kommen. Im übrigen schließt Kleinspehn mit einer Bemerkung, die sitzt: Als penetrant empfindet er Jüttes ständiges Verweisen auf die deutsch-jüdische Herkunft der Kulturwissenschaftler Simmel, Elias etc. Diese "einseitige Aufmerksamkeit" irritiert Kleinspehn - denn von deutsch-christlichen Autoren sei nie die Rede.

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