"Balzac? Der Fabulierer, der Vielschreiber, der Sittenschilderer, der Simenon des 19. Jahrhunderts. Die Menschliche Komödie, welch unüberschaubare Figurenfülle! Kaum noch ist im Bewusstsein, dass Balzacs opus magnum angelegt war als Trias von études des moeurs, études philosophiques und études analytiques. Hinter der Fülle des Erzählten ist in der Rezeption nach und nach der analytische Blick verschwunden. Die Pathologie des Soziallebens sollte jedoch zum Schlussteil des ganzen Unternehmens gehören. Balzac hat ihre Veröffentlichung nicht mehr erlebt. Noch in der ersten Pléiade-Ausgabe aus den dreißiger Jahren fehlt sie, und erst in der Neuausgabe von 1981 (!) findet sie sich erstmals an der richtigen Stelle, und noch einmal gut zwanzig Jahre hat es gedauert, bis nun die erste deutsche Übersetzung vorliegt. Diese späte Wahrnehmung hat ihre guten Gründe, denn der Text zerstört das Bild vom reinen Vollblutfabulierer nachhaltig und rückt stattdessen den Analytiker in den Vordergrund. Der groß angelegte Essay widmet sich Gegenständen von angeblich geringer philosophischer Dignität: der Mode, dem Gehen und den Genussmitteln. Genauer gesagt, er gliedert sich in eine Abhandlung über das elegante Leben, eine Theorie des Gehens und eine Abhandlung über die modernen Reizmittel. Die Welt
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der "Balzac der sanften Negation", findet Alexandre Métreaux, ist bisher meist aus der Rezeption seines Werkes "ausgeklammert worden". Mit diesen Aufsätzen, die "erstmals vollständig ins Deutsche" gebracht sind, sei nun ein "Zugang" zu diesem Balzac möglich geworden. Am meisten hat den Rezensenten dabei der Essay "Theorie des Gehens" (1833) interessiert. An diesem Beispiel entwickelt Metreaux seinen eigenen Blick auf Balzac und stellt uns auch den Herausgeber Edgar Pankow vor. Pankow "diagnostiziert akkurat", so Metreaux, dass Balzac mit seiner Theorie des Gehens scheitere, weil hinter den Codes oder "Zeichen", also dem "Stolpern, Stampfen, Stolzieren" etc, keine "eindeutig klassifizierbaren Wesenheiten" mehr liegen. Balzac selbse sagt es radikaler und weniger "rücksichtsvoll", findet Metreaux: "Nichts, so wird das ewige Epigraph unserer wissenschaftlichen Bemühungen sein.". In diesem "Nichts" sieht der Rezensent auch gleich schon eine der "Zukunft vorrauseilende Einsicht in die bloß medial noch zu bestimmbare Zeichenhaftigkeit des Soziallebens". Vielleicht ein bisschen viel behauptet, aber es reicht allemal, um ein geneigtes Publikum sehr neugierig zu machen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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