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Produktdetails
  • Verlag: Eulenspiegel
  • Deutsch
  • Abmessung: 112mm x 132mm x 215mm
  • Gewicht: 1978g
  • ISBN-13: 9783359014942
  • ISBN-10: 3359014944
  • Artikelnr.: 12493774

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Autorenporträt
Rainer Kirsch, geboren 1934 in Döbeln, verstorben 2015. Der Lyriker, Essayist, Nachdichter und Kinderbuchautor, studierte nach dem Abitur Geschichte und Philosophie. 1957 wurde er von der Universität verwiesen, studierte später am Literaturinstitut in Leipzig und ist seitdem freiberuflicher Schriftsteller.1965 erschien sein erster Gedichtband "Gespräch mit dem Saurier". Er gehörte zur sogenannten "Sächsischen Dichterschule". Er war Mitglied der Akademie der Künste und der Sächsischen Akademie der Künste.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2004

Lagen eines dichtenden Arbeiters
Rainer Kirsch bekommt zum Siebzigsten eine Werkausgabe

Zur Vorstellung der vierbändigen Ausgabe seiner Werke im Berliner Brechthaus brachte Rainer Kirsch einen Flachmann mit. Der stand griffbereit vor ihm auf dem Tisch, zwischen Wasserglas und Büchern. Ab und zu schraubte er ihn auf, goß eine Idee in den fingerhutgroßen Verschlußdeckel und süffelte mit spitzen Lippen. Rainer Kirsch ist ein Genießer, der den schönen Dingen des Lebens nicht abgeneigt zu sein scheint. Das steigert die Konzentrationsfähigkeit und dient der Wahrheitsfindung. Die Werkausgabe ist in abwaschbares Lederimitat aus Plaste gebunden und sieht aus wie ein von vierzig auf vier Bände geschrumpfter Lenin. Das mag den Eindruck der Sinnenfreude widerlegen, ist jedoch die passende ironische Verpackung für diesen gewitzten Dichter aus der DDR. Immerhin tendiert der gesammelte Kirsch stärker ins Rötliche, als es Lenin einst vergönnt war. Kein Kirschrot, sondern Schattenmorellenrot, erklärte der Autor. Genauigkeit muß sein. Das ist die erste Dichterpflicht für einen Lyriker, dem sich der Moment "malvenfarben" zu dehnen vermag.

Rainer Kirsch, am 17. Juli 1934 im sächsischen Döbeln geboren, ist ein formstrenger, traditionsbewußter Schriftsteller, wie ihn wohl nur die DDR hervorbringen konnte, auch wenn er alles andere war als ein Sänger dieses Staates. Doch nach der Wende, als er - eine Art Lothar de Maizière der Autorenschaft - zum ersten frei gewählten Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes wurde, der die Abwicklung und den Übergang in den westlichen VS bewältigte, geriet er in den Ruch eines Repräsentanten des Alten, weil er das Neue nicht freudig begrüßen wollte. Er klagte nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil er, wie viele mit ihm, seinen Absatzmarkt verlor. Nicht nur Industrien gingen in der Konvertierung der Märkte und der Währung unter, auch Lyrikern brach ihre Kundschaft weg. So kommt es, daß Kirsch jetzt, zu seinem siebzigsten Geburtstag am morgigen Samstag, mit seinen Werken wiederzuentdecken ist.

Seine Kinderbücher erzielten zuvor Hunderttausenderauflagen. Seine Gedichte wurden in der DDR nach langem Zögern erstmals 1980 gesammelt publiziert, dann allerdings gleich in einer Auflage von 18 000. Verstörend waren sie für die sozialistischen Sittenwächter vor allem durch ihre geballte Sinnlichkeit. Materialismus hatte für Kirsch immer etwas mit Materie, mit Körper und Naturwissenschaft zu tun, mit Anfassen, Fühlen, Schmecken und Riechen. Das "Sonett" etwa beginnt so: "Und als die siebente Stunde Frühe schlug / Erwachten wir sehr blaß in ihrem Bette. / Ich fragte, ob ich sie genügend hätte. / Sie sagte: nein. Und wie ich sah, mit Fug -".

In früher Jugend glühte er für Stalin und hielt als junger FDJ-Funktionär Seminare über dessen kurzen Lehrgang zur Geschichte der KPdSU. Als Stalin starb, war Kirsch achtzehn und konnte sich nicht vorstellen, wie es ohne den, der alles denkt und lenkt, weitergehen könnte. Nach dem XX. Parteitag, auf dem Chruschtschow die Entstalinisierung einläutete, begann er, Gedichte zu schreiben. Im Schreiben emanzipierte er sich; Lyrik diente von Anfang an der Entstalinisierung des eigenen Denkens. Und das ging schnell. 1957 las er Ernst Bloch, Rilke und Brecht. Von der Universität in Jena wurde er relegiert, weil er erstens, als in Ungarn der Umsturz drohte, unbotmäßige Gedichte an die Wandzeitung pinnte, und zweitens, was mindestens ebenso verwerflich war, sich in einem Thüringer Erholungsheim ins Vierbettzimmer seiner Freundin schlich. Das nannte man damals Dekadenz. Die Folge: Bewährung in der Produktion. Druckereihilfsarbeiter, Chemiearbeiter in Buna, Rübenernter in einer LPG bei Halle.

1961 gehörte er zusammen mit seiner Frau Sarah Kirsch zu den jungen Lyrikern, die Stephan Hermlin bei der legendären Lesung in der Akademie der Künste vorstellte und damit einen politischen Skandal verursachte. Auch Kirsch wurde für sein Gedicht "Meinen Freunden, den alten Genossen" heftig kritisiert. Es endete mit dem Imperativ "Und die Träume ganz beim Namen nennen / Und die ganze Last der Wahrheit kennen" und gehört nun zu den wenigen frühen Gedichten, die es in die Werkausgabe geschafft haben. Mit Sarah und Rainer Kirsch waren damals Karl Mickel und Adolf Endler, Volker Braun und Heinz Czechowski zu entdecken, die als "sächsische Dichterschule" bekannt werden sollten. Besonders den Freunden Mickel und Endler hat Kirsch viel zu verdanken, aber auch seinem Lehrer Georg Maurer, bei dem er von 1963 bis 1965 am Leipziger Literaturinstitut studierte. Ein Diplom erhielt er aus politischen Gründen nicht; Gedichte wie das 1964 entstandene "Empfang in meiner Heimatstadt" standen dagegen. Dabei handelte es sich um Fragen eines lesenden Diktators, der wissen will, wer für die stinkenden Flüsse und die miserablen Häuser verantwortlich ist, der alle Mißstände beseitigen will, aber alles nur noch schlimmer macht und schließlich unter Schimpf und Schande davongejagt wird. Früh schon sind bei Kirsch Spuren ökologischen Denkens zu finden. Natur war für ihn nicht bloß dazu da, gesellschaftlich ausgebeutet zu werden. Auch damit fügte er sich nicht in die realsozialistische Herrschaftsideologie.

1973 wurde er aus der SED ausgeschlossen. Sein Theaterstück "Heinrich Schlaghands Höllenfahrt", eine abgründige, faustische Arbeiterkomödie, mißfiel. Und doch war er immer ganz gut im Geschäft. Er erhielt Aufträge für eine Kinderoper, ein Puppenspiel, zahlreiche Hörspiele, eine Landwirtschaftskantate und eine gereimte Geschichte der Mathematik. Nur wenige dieser Auftragsarbeiten sind in die Werke aufgenommen. Fritz Mierau bot ihm Übersetzungen aus dem Russischen und aus dem Georgischen an. So kam er neben allerlei Lohnarbeit auch zu Jessenin und Achmatowa, Majakowski und Mandelstam, den er für einen der größten Dichter des 20. Jahrhunderts hält. Übersetzungen und Nachdichtungen machen einen großen Teil seines Werkes aus, vielleicht den wichtigsten. Sie fehlen in der Werkausgabe und könnten wohl noch einmal vier Bände füllen. Kirsch erfüllte Arbeitsaufträge. Er war immer ein Arbeiterdichter, denn Dichtungarbeit ist: ein Handwerk, das sich erlernen läßt, das aber sinnlos wäre ohne die besondere Sensibilität und den Erfahrungshunger des Schreibenden.

Formstreng geht es zu in seiner Lyrik, die eine Nähe zu Peters Hacks' Klassizismus nicht verleugnen kann. Das wirkt manchmal hermetisch und sehr fern: Nachrichten aus einer versunkenen Welt. So ist auch Kirschs Vorliebe für Lieder und Kinderlieder zu erklären, die ein Ausweichen in Nonsens und Harmlosigkeit erlauben. Zugleich zwingt das Lied durch Rhythmus, Melodie und feste Strophen aus sich heraus zur Form. Die Schauerballade "Anna Katarina oder Die Nacht am Moorbusch" über eine Männer dahinraffende sächsische Schönheit kommentierte er mit einem Interview, das den historischen Materialismus und marxistische Geschichtsschreibung gehörig auf die Schippe nahm. Unverkennbar, auch in der Prosa und in der Dramatik, sind die Märchentöne und eine spezielle Vorliebe für Könige. Kirsch ist kein Freund egalitärer Gesellschaftsmodelle. Egalität bedeutet für ihn: Keiner soll unnötige Vorrechte haben. Freiheit, sagt er, heißt sachkundig entscheiden können.

Bei der Buchvorstellung im Berliner Brechthaus deutete er, nach seiner Haltung gegenüber dem Tod befragt, hinter sich, in Richtung des Dorotheenstädter Friedhofs, des Orts der toten Dichter. Er habe sich dort rechtzeitig eine Grabstätte gesichert und auch den Grabstein schon anfertigen lassen. Als formbewußter Dichter muß man auf solche Eventualitäten vorbereitet sein. Den Grabspruch, der dann zur Anwendung kommen wird, hat er der eigenen Werkausgabe entnommen, auch wenn die Verse 1968, als sie entstanden, kaum dafür gedacht waren, in Stein gemeißelt zu werden: "Lila ein Schwein saß still auf einem Baum / Und wiegte sich auf zweifelbaren Ästen. / Wir sahens beide, und auf wenigem Raum. / So, manchmal, heilt die Nacht des Tags Gebresten."

JÖRG MAGENAU

Rainer Kirsch: "Werke in vier Bänden". Eulenspiegel Verlag, Berlin 2004. Zus. 1440 S., geb., 98,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Jörg Magenau nennt Rainer Kirsch einen "Genießer", einen "formstrengen, traditionsbewussten Schriftsteller" und einen "gewitzten Dichter aus der DDR". Das erste bezieht sich auf die "geballte Sinnlichkeit" seiner Lyrik - "Materialismus hatte für Kirsch immer etwas mit Materie" zu tun, was den sozialistischen "Sittenwächtern" verdächtig vorkam und sie auf bewährte Art mit Sanktionen reagieren ließ. Das zweite meint seine Vorliebe für die Liedform und die Nähe zum Klassizismus Hacks?scher Prägung. Und die dritte Bezeichnung weist darauf hin, dass da einer nach 1989 in der Versenkung verschwunden und jetzt mit einigem Gewinn wiederzuentdecken ist: Kirsch feiert seinen Siebzigsten und bekommt eine Werkausgabe, die laut Magenau "in abwaschbares Lederimitat aus Plaste gebunden" ist und aussieht "wie ein von vierzig auf vier Bände geschrumpfter Lenin". Was aber steht drin, fragt man sich, da der Rezensent vor allem referiert, was nicht drinsteht: Kirschs frühe Gedichte, die "der Entstalinisierung des eigenen Denkens" dienten, der größte Teil der Auftragsarbeiten, mit denen er sein Geld verdiente ("eine Kinderoper, ein Puppenspiel, zahlreiche Hörspiele, eine Landwirtschaftskantate und eine gereimte Geschichte der Mathematik"), ferner seine Übersetzungen und Nachdichtungen aus dem Russischen, nach Ansicht Magenaus vielleicht der bedeutendste Teil des Werkes. Wie oder was auch immer: Der Rezensent hat mit der vorliegenden Auswahl seine Freude gehabt.

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