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Am Anfang der 39 Sekunden, die das Ende bedeuten, stehen Dunkelheit, Ungewißheit und Vergessen. Wo ist Christian Rauch angekommen? Was für eine merkwürdige Stadt umgibt ihn? In eigentümlichen, verschwimmenden Bildern gleitet die Umgebung an ihm vorüber, Zeit und Raum scheinen aufgelöst. Eine Gestalt kommt ihm zu Hilfe, die ebenso verläßlich wie bedrohlich wirkt. Auf der Irrfahrt durch eine phantastische Stadtszenerie steigen Erinnerungen auf: Wieder läuft Christian hinter Robert her, dem großen Bruder, wie immer als sein kleinerer Schatten. Der See liegt hinter ihnen, die geangelten Fische…mehr

Produktbeschreibung
Am Anfang der 39 Sekunden, die das Ende bedeuten, stehen Dunkelheit, Ungewißheit und Vergessen. Wo ist Christian Rauch angekommen? Was für eine merkwürdige Stadt umgibt ihn? In eigentümlichen, verschwimmenden Bildern gleitet die Umgebung an ihm vorüber, Zeit und Raum scheinen aufgelöst. Eine Gestalt kommt ihm zu Hilfe, die ebenso verläßlich wie bedrohlich wirkt. Auf der Irrfahrt durch eine phantastische Stadtszenerie steigen Erinnerungen auf: Wieder läuft Christian hinter Robert her, dem großen Bruder, wie immer als sein kleinerer Schatten. Der See liegt hinter ihnen, die geangelten Fische zucken im Drahtkorb, die Kindersandalen knirschen im Kies. In der Garteneinfahrt stehen drei Erwachsene, auf denen eine bedrückende Stille lastet. Die Mutter bleibt stumm, das Gesicht des Vaters ist erstarrt. An den Fremden darf man, soviel ist sicher, keineswegs das Wort richten. Für die beiden Jungen ist es der letzte Abend ihrer Kindheit, der Tag, an dem sie aus ihrem behüteten Leben herausgerissen werden - Robert, weil er zu verstehen beginnt, Christian, weil er ahnt, was er nicht wissen will. Vierzig Jahre später treffen Christian diese Erinnerungen mit zerstörerischer Gewalt. Thomas Lehr hat mit dieser Novelle erneut ein literarisches Wagnis unternommen: In 39 Kapiteln werden die letzten 39 Sekunden eines Mannes vor seinem Tod berichtet. Es ist eine kühne Meditation über Schuld und Wahrheit.
Autorenporträt
Thomas Lehr, geboren 1957, lebt in Berlin. Für jedes seiner Bücher erhielt er mehrere Literaturpreise, darunter den Wolfgang-Koeppen-Preis der Hansestadt Greifswald, den Kunstpreis Rheinland-Pfalz, den Rheingau Literatur-Preis. 2010 wurde Thomas Lehr mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet, 2012 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk sowie 2015 mit dem Joseph-Breitbach-Preis für sein Gesamtwerk.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2001

Countdown bis zum Zitatende
Thomas Lehrs gestauter Redefluß mündet in bekannte Gewässer

"Helfen Sie. Mir! Glauben Sie: Ich würde niemanden. Bitten, wenn mir nicht immer: der Bürgersteig: das Haus: hören Sie diese dunkle Straße sogar: diese Stadt. Selbst! Immer wieder. Entgleiten würde." Mit diesen Worten beginnt Thomas Lehrs Novelle "Frühling" und gibt damit ein unmißverständliches Signal an ihre Leserschaft, daß auf den kommenden 130 Seiten keine bequeme Lektüre zu erwarten ist. In der Tat: Wo Redefluß entstehen könnte, rauhen ihn Punkt und Doppelpunkt immer wieder auf, und es wird dauern, bis das zu Erzählende Konturen annimmt. "Sie helfen. Mir so sehr. Angeli. Ka. Gibt es hier einen. Fluß?" Einen Redefluß gibt es hier ganz sicherlich nicht.

Nun sind dergleichen Unbequemlichkeiten und Hindernisse in moderner Literatur nicht neu. "Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen." Wirbel seien die einzelnen Worte geworden, "in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt". Das ließ vor hundert Jahren Hugo von Hofmannsthal seinen Lord Chandos an Francis Bacon schreiben, um sich, wie er erklärte, bei ihm "wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen". Nur wurde aus solcher Erkenntnis eher ein produktiver Anreiz für neue Kunst.

Nach "Neuland" sucht auch Lehr, allerdings "entgegen dem Uhrzeigersinn", denn sein Erzähler beziffert die 39 Kapitel des Buches rückwärts als Sekunden eines Countdowns auf dem Weg in den Tod. Denn der "dunkle Freund", der sich ihm gleich zu Anfang hinzugesellt, ist offensichtlich der Sensenmann - "auf den alten Gemälden dort muß es Sie geben, mein Freund" -, und der wird auch den Schlußpunkt hinter diese Geschichte setzen. Ein Sog des Geheimnisvollen entsteht auf diese Weise aus Gedanken- und Gefühlsstenogrammen, aus Bildfragmenten und Metaphern wie insgesamt aus unaufgehobenen Gegensätzen.

Als "berauscht von: Erinnerung" erklärt sich dieser Erzähler, und sein Herz schlägt ihm "blutend und leicht". Monitore schimmern blaß in klinischer Atmosphäre, irgendwo wird ein pharmakologischer Kongreß abgehalten, aber wohl nicht in jener "glücklichen Stadt" am Ufer des Flusses, die gelegentlich als Wunschbild am Horizont auftaucht, sondern näher an der Hölle, diesem "eisgrünen meer ohne riffe und felsen und fische". Kurzum, wir befinden uns in der Sphäre lyrischer Prosa, und die scheinbar willkürliche Brechung des Satzflusses durch Punkte oder Doppelpunkte erhält eine sinnvolle Funktion, wenn man das derart Getrennte als Verszeilen mit jeweils eigenem Gewicht zu lesen versucht. Denn diese Bruchstücke sind ganz für sich von starker Leuchtkraft, und die große Vision von einer Arena der Toten, Gequälten, der "zerstörten augen", "zitternden glieder" und "zerrissenen gesichter" wäre nahezu eines Jean Paul würdig.

Lehr hat allerdings durchaus eine Geschichte zu erzählen. Christian Rauch, um die fünfzig, geht freiwillig seinem Tode entgegen, begleitet von der krebskranken Prostituierten Gucia, der Tochter einer jener Frauen, die Christians Vater, der Arzt X, im Konzentrationslager dazu benutzte, die halbtoten Opfer seiner Unterkühlungsexperimente "auf-zu-wär-men". Der Vater hatte nach dem Kriege in wohlhabender Respektabilität gelebt, bis eines seiner Opfer ihn erkannte. Erschüttert von der Wahrheit, wirft sich Christians älterer Bruder Robert unter einen Zug, der Vater verschwindet, die Mutter wird zur Trinkerin, und Christian selbst wächst in Erziehungsheimen auf. Später zerbricht seine Ehe mit Angelika, im Sohne Konstantin sieht er nur wieder den toten Bruder, und als er schließlich der sterbenswilligen Gucia im Bordell begegnet, faßt man den Entschluß zum gemeinsamen Tod. Mit einer Pistole wird die gequälte Frau irgendwo an südlicher Küste erst ihn, dann sich erschießen.

"Ich sterbe von eigener Hand also: Umfassen deine schweißnassen schlanken Finger das Geschenk kühles einläufiges. Metall. Noch aber denkst. Du ich. Wäre ein. Wahrer Kleist jedoch falle ich schon." Der intertextuelle Verweis ist deutlich: Am 16. November 1811 erschoß Heinrich von Kleist am Wannsee in einem Todespakt die schwer leidende Henriette Vogel und danach sich selbst, "beieinander auf der Erde" sitzend, wie es auch Lehrs Erzähler vorhat. Aber was soll Literaturgeschichte hier und in solchem Zusammenhang? Mit der herausfordernden Geste des entschieden Originellen begann diese Novelle und mündet nun doch ins Bekannte und Geläufige.

Es gibt tatsächlich in moderner Literatur und Literaturwissenschaft eine "Sucht nach todbringender Vergangenheit", von der auch Lehr hier seinen Helden reden läßt. Aber sie ist nicht immer nur Nachempfinden großer Tragik, sondern allzuoft aus dem schillernden Wunsch zur Selbstverklärung geboren. Die nachträgliche Sympathie mit den Geschlagenen einer vergangenen Zeit, den an sich selbst in ihrer Zeit Leidenden wie Kleist und Hölderlin ebenso wie den Opfern der Schoa, ist so berechtigt wie bedauerlicherweise leicht zu haben. Weil sie wünschenswert, nötig, ja unwidersprechbar ist, läßt sich damit eben auch Sympathie für die Sympathisierenden gewinnen, und das nicht zu knapp.

Daß Lehr über ungewöhnliche Sprachkraft verfügt, hat er bereits in drei preisgekrönten Romanen gezeigt, und er zeigt es auch in dieser Novelle. Aber der Satz "Sprache macht frei" stimmt nicht und hat in einem Zusammenhang, in dem das am wenigsten geschehen sollte, den fatalen Beigeschmack eines Kalauers wie auch die "ärzte ohne boden". So provokativ sich diese Novelle in ihrer Form auch gibt - der sie tragende Konflikt ist zeitgeschichtliche Konfektion, und ihre Gestalten bleiben Schemen ohne Individualität. "Sprache" macht nicht "frei", sondern verpflichtet zu Genauigkeit und Verantwortung.

Nicht daß sich Lehr ethischer Verbindlichkeit entzöge: "Jedes Mittel Darf Nur Das Ziel Haben Zu Helfen Sonst Wissen Wir Nicht Was Ein Arzt Ist Und Was Ein Mörder." Aber lobenswerte Gesinnung und ästhetisches Experimentieren geben zusammen noch kein Kunstwerk, mit dem das unsägliche Grauen des Holocaust aufs neue erschütternd erfahrbar gemacht werden könnte. Was am Ende herauskommt, ist ein brillierendes Kunststück, dem jeder sachliche Bericht über die Untaten einer entmenschten Ärzteschaft mit seiner konkreten Registrierung des Leidens überlegen bleibt.

GERHARD SCHULZ

Thomas Lehr: "Frühling". Novelle. Aufbau Verlag, Berlin 2001. 142 S., geb., 32,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Begeistert äußert sich Werner Jung über Thomas Lehrs Novelle "Frühling" und weiß nicht, was er mehr bewundern soll: die sprachliche und stilistische Kompetenz des Autors, seine eigenwillige, assoziative Rhythmik, die den Albtraum eines Mannes zeitlich extrem komprimiert und sprachlich verdichtet, oder das geschickte Verflechten deutscher Geschichte in ein Einzelschicksal, in eine Momentaufnahme von 39 Sekunden, in der sich alles "blitzlichtartig" erhellt. Die klassische Definition einer Novelle, so Jung, die eine "unerhörte Begebenheit" schildert, treffe im übrigen genau zu. Ein Mann stirbt, und während er stirbt, spult sich vor seinem inneren Auge noch einmal sein Leben bruchstückhaft ab - bis hin zu dem Erkenntnisblitz, der nach Bekunden des Rezensenten nicht nur den Protagonisten, sondern auch ihn selbst getroffen hat.

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