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Was der Kapitalismus aus uns macht Aufrichtigkeit ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der bürgerlichen Kultur. Durch Aufrichtigkeit und ihre Inszenierungen schuf sich das Bürgertum eine Vertrauensbasis in einer feindlichen Umwelt. Aufrichtigkeit war die Zauberformel für den Umgang unter freien und gleichen Menschen. Das reife Bürgertum entsorgte diese Utopie, setzte auf die unsichtbare Hand, auf Recht und Verträge. Eigennutz und Selbstinteresse, derart gezügelt, schienen hinreichende Garanten für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der jüngste Crash des globalen Kapitalismus widerlegt…mehr

Produktbeschreibung
Was der Kapitalismus aus uns macht
Aufrichtigkeit ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der bürgerlichen Kultur. Durch Aufrichtigkeit und ihre Inszenierungen schuf sich das Bürgertum eine Vertrauensbasis in einer feindlichen Umwelt. Aufrichtigkeit war die Zauberformel für den Umgang unter freien und gleichen Menschen. Das reife Bürgertum entsorgte diese Utopie, setzte auf die unsichtbare Hand, auf Recht und Verträge. Eigennutz und Selbstinteresse, derart gezügelt, schienen hinreichende Garanten für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der jüngste Crash des globalen Kapitalismus widerlegt diese Doktrin ultimativ. Gerade moderne Gesellschaften leben von dem Vertrauen, das normale Menschen in die Redlichkeit der maßgeblichen Akteure setzen. Das Fazit von Englers brillanter Analyse der tiefgreifenden Wandlungen der bürgerlichen Lebenskultur: Nur wenn der Kapitalismus an sein sozialmoralisches Erbe anknüpft, bleibt er politisch mehrheitsfähig.
Wolfgang Erler überrescht mit einer facettenreichen Darstellung über Aufrichtigkeit und Lüge im sozialen Umgang seit der Aufklärung. Seine Kulturkritische Studie gibt Orientierung bei der Suche nach Konsequenzen angesichts der Verwerfung in unserer Gesellschaft: Aufrichtigkeit ist ein Gebot der praktischen Vernunft.
Autorenporträt
Wolfgang Engler, geb. 1952 in Dresden, Soziologe, Lehrtätigkeit an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin, seit Oktober 2005 dort Rektor. Im Herbst 2009 Gastprofessur an der Universität St. Gallen. Er publizierte zahlreiche Studien über Lebensformen in Ost und West, kritische Analysen über die Moderne, über Demokratie sowie den Wandel des Politischen und der Öffentlichkeit in den industriellen Massengesellschaften. Veröffentlicht in diversen Zeitschriften und Zeitungen (Die Zeit, taz, Süddeutsche Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik u.a.). 2000 erhielt Engler den Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2009

Der aufrichtige Gang

Lügen in den Zeiten der Krise: Wolfgang Engler verfolgt Begriff und Verständnis der Tugend Aufrichtigkeit - und kann sie heute nicht mehr entdecken.

Ein neues Buch von Wolfgang Engler darf als jeweils aktuelle Standortbestimmung der Lage in Ostdeutschland gelten - und entsprechend viel Neugier erwarten. Der 1952 geborene Soziologe und Rektor der Berliner Schauspielschule "Ernst Busch" ist einer der wenigen Soziologen, die schon im DDR-Wissenschaftssystem lehrten und sich dennoch nach 1989 im allgemeinen (und nicht selten auch berechtigten) Misstrauensklima gegenüber den ostdeutschen Akademikern behaupten konnten. Engler war aber damals auch schon an "Ernst Busch", und dieses Refugium im gleichgeschalteten sozialistischen Hochschulprinzip erlaubte ihm andere Interessen als den Staatswissenschaftlern.

Er las in den achtziger Jahren Foucault, was in der DDR nicht gerade als opportun gelten durfte, und er nennt als seine erste "richtige" Publikation ein kleines Buch, das 1989, noch zu DDR-Zeiten, in Österreich erschien: als Abschrift eines 1987 in Klagenfurt gehaltenen (und an Foucaults Institutionentheorie orientierten) Vortrags über die Konstruktion von Aufrichtigkeit. Es mangelte dem Verlag aber an editorischer Sorgfalt, und so hat Engler das Werk nicht wirklich in seinen eigenen Kanon integriert; im Literaturverzeichnis von "Lüge als Prinzip" findet es keine Erwähnung, obwohl der größte Teil dieses neuen Buchs, nämlich das Kapitel "Das Theater der Aufrichtigkeit - Hommage an Michel Foucault", aus ebenjenem Vortrag hervorgewachsen ist.

"Das Material verstauben lassen", schreibt Engler in der Einleitung, "hieße, die Arbeit verachten, die nötig war, es zusammenzutragen." Die war unter eingeschränkten DDR-Bedingungen natürlich noch eine ganz andere als heute, und was Engler auf den fünfundachtzig Seiten dieses Kapitels leistet, ist nicht weniger als eine historisch-ästhetische Rekonstruktion der Entwicklung von Begriff und Verständnis der Aufrichtigkeit seit der frühen Neuzeit. Ausgehend von der etymologischen Herleitung aus der aufrechten Position des Gläubigen vor Gott, verfolgt Engler die Genese des Konzepts bis zu ihrem Höhepunkt im achtzehnten Jahrhundert, als Aufrichtigkeit zur Zentraltugend des Bürgertums wurde: "Hinter den Kulissen der Öffentlichkeit leben und dort sein Werk verrichten, still, redlich, ohne auf Ruhm zu schielen, auf den Beifall der Welt, das ist der neue Mensch, von dem das Bürgertum träumt, ehe es die soziale Welt für sich gewann."

Der letzte Halbsatz ist entscheidend: Dieses Ideal gilt nur bis zum historischen Triumph des Dritten Standes, und natürlich betrachtete Engler 1987 die Weltgeschichte marxistisch-teleologisch, und trotz starker Umarbeitung dachte er auch 2009 gar nicht daran, dieses Modell vollständig ad acta zu legen. Denn was er vor mehr als zwanzig Jahren bis hin zum Umschlag der je schon individuell verstandenen Aufrichtigkeit in die heute aktuellen Zentralbegriffe "Authentizität" und "Echtheit" ausführte, das besitzt nun, unter den Bedingungen einer Phase der wirtschaftlichen Umwertung aller Werte, neue Brisanz.

Engler schreibt darum seinen damaligen Aufsatz nicht nur um, sondern auch weiter, denn der Kapitalismus wird unter Bedingungen der Krise zur großen moralischen Prüfung: "Der strukturelle Betrug des neoliberalen Systems hat tiefe Wurzeln im Habitus der Individuen geschlagen. Sie lügen und betrügen, weil sie ihr Wohnrecht im Lügengebäude höher schätzen als den Umgang mit ihresgleichen auf der Straße. Die Lüge als Prinzip steigert sich zur Lüge aus Leidenschaft." Die Gegenwart kann angesichts dieser Verkommenheit nur auf etwas hoffen, was man den aufrichtigen Gang der Dinge nennen könnte.

Das aber führt Engler nicht aus; er evoziert es nur. Die Bestandsaufnahme der aktuellen Situation ist vergleichsweise kurz und vor dem Großkapitel zur Entwicklungsgeschichte der Aufrichtigkeit angesiedelt. Dementsprechend ist der Titel des Buchs recht reißerisch ausgefallen, denn auch wenn es Engler nicht an Klarheit in seiner Bewertung der Marktwirtschaft zu heutigen Bedingungen fehlen lässt, ist doch die Rede von der "Lüge als Prinzip" nicht mehr als eine These, für die der Soziologe nicht auf Empirie, sondern auf Evidenz setzt. Der analytisch ungleich schwergewichtigere Teil des Buches widmet sich der Aufrichtigkeit in historischen Zeiten - und so ist der Untertitel "Aufrichtigkeit im Kapitalismus" viel näher am Gegenstand des Buches und auch am Anspruch von dessen Autor.

Engler gilt ja nicht nur als höchst genauer Analytiker, sondern geradezu als soziologische Stimme des Ostens, weil er die biographische Erfahrung mit den Gegenständen seiner Aufmerksamkeit teilt und seit zehn Jahren, als "Die Ostdeutschen - Kunde von einem verlorenen Land" erschien, an der immer wieder geleugneten, aber dennoch fortbestehenden Trennung Deutschlands in zwei Hälften festhält. Es ist ja nicht so, dass sich vierzig Jahre Sozialismus in einer Generation abschütteln ließen, und Engler bemüht sich, die positiven Aspekte dieses Erbes insoweit fruchtbar zu machen, als es individuelle Prägungen wie Skepsis oder gar Misstrauen gegen ein als alternativlos präsentiertes System betrifft. Wenn es eines gibt, was Ostdeutsche ihren Landsleuten im Westen voraushaben, dann das Wissen um die Fragilität welthistorischer (oder weltökonomischer) Sicherheiten.

Diesmal allerdings bewegt sich Engler im Hinblick auf DDR-Sozialisationen notgedrungen an der Oberfläche; nur vereinzelt bietet das Buch erhellende Details wie die Erklärung der verblüffenden Aufrichtigkeit ostdeutscher Verkäufer: "Ehrliches Geschäftsgebaren - im Herrschaftsgebiet des Staatssozialismus verstand sich das von selbst, auf allerdings groteske Weise. Hier redeten die Verkäufer ihre Waren systematisch schlecht, bereiteten deren Mängel und Fehlfunktionen vor den Käufern aus, rieten entweder vom Kauf ab oder, sofern vorhanden, zum Erwerb billigerer Alternativen ... Die ,Händler' konnten sich die ungeschminkte Ausdrucksweise sorglos leisten. Sie waren ihrer Stelle sicher, ganz unabhängig vom Verkaufserfolg." So überwinterte im Osten eher als im Westen eine bürgerliche Welt der Aufrichtigkeit - ein Phänomen, das ästhetisch in jenen Kreisen eine Parallele hatte, die Uwe Tellkamp in seinem Roman "Der Turm" beschreibt.

So wird Englers Durchgang durch die Geschichte der Aufrichtigkeit doch auch noch zum Kommentar auf das vereinte Deutschland. Und das sind allemal die gegenüber den Ausführungen zum abstrakten Kapitalismus interessanteren Passagen. In Foucault hat Engler einen Disziplinierungstheoretiker zum Vorbild, der die Verwischung der Individualität zu seinem großen Thema gemacht hat. Am Beispiel des ausschließlich individuell verstandenen Konzepts der Aufrichtigkeit findet Engler dazu eine schlüssige Ergänzung. Warum ihm, obwohl er selbst vom "puren Dasein in der Welt" als Pervertierung der Vorstellung eines Handelns ohne Autorschaft spricht, die Parallele zu Giorgio Agambens Theorie des "bloßen Lebens" entgeht, ist dagegen rätselhaft. Vielleicht ist Engler doch zu sehr jener eigenen prägenden Phase verhaftet, in der er gegen die intellektuelle Gleichgültigkeit seines damaligen Staates eben Foucault las. Aber diese Festlegung auf ein bestimmtes Analysegebiet und einen bestimmten Kanon hat ja auch schönste soziologische Folgen hervorgebracht. Und selbst "Lüge als Prinzip" profitiert in seinen stärksten Teilen noch vom Denker der achtziger Jahre, der in einem unbequemen Land unbequeme Interessen verfolgte.

ANDREAS PLATTHAUS

Wolfgang Engler: "Lüge als Prinzip". Aufrichtigkeit im Kapitalismus. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 214 S., 25 Abb., geb., 19,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Andreas Platthaus schätzt Wolfgang Englers Buch über die Tugend der Aufrichtigkeit wie auch den Autor selbst, einen der wenigen Soziologen, die schon in der DDR lehrten und sich auch nach 1989 behaupten konnten. Der etwas reißerische Titel "Lüge als Prinzip" führt seines Erachtens ein wenig in die Irre. Vielmehr sieht er in dem Buch eine überzeugende historische Rekonstruktion des Begriffs und des Verständnisses der Aufrichtigkeit seit der frühen Neuzeit. Die Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation fällt dabei seines Erachtens eher kurz aus. Er betont, dass Engler nicht nur als präziser Analytiker gilt, sondern geradezu als "soziologische Stimme des Ostens". Im Blick auf eine aktuelle Standortbestimmung der Ex-DDR scheint ihm vorliegendes Buch allerdings zurückhaltend. Dennoch findet er in einigen instruktiven Details dann doch noch einen Kommentar auf das vereinte Deutschland - für ihn die im Vergleich zu den Ausführungen zum abstrakten Kapitalismus "interessanteren Passagen".

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