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Produktdetails
  • Verlag: Aufbau-Verlag
  • Seitenzahl: 352
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 540g
  • ISBN-13: 9783351025137
  • ISBN-10: 3351025130
  • Artikelnr.: 24094483
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2000

Waffen sammeln für die Flucht
In Belgien wurde während des Dritten Reichs die Mehrheit aller Juden vor der Deportation gerettet – dank des Mutes vieler Belgier
MARION SCHREIBER: Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz. Aufbau-Verlag, Berlin 2000. 352 Seiten, 39,90 Mark.
Einen solchen Andrang hat das Goethe-Institut in Brüssel selten erlebt. So viele kommen an diesem kalten Novemberabend, dass man außerhalb des großen Saales extra Stühle aufstellen muss. Das Publikum, darunter viele junge Leute, will personifizierte Geschichte erleben: einen betagten Mann, der sich mit dem Krückstock mühsam auf die Bühne hievt; eine alte Jüdin mit Ohrringen und gepflegten roten Locken, die in ihren Papieren blättert, einen korpulenten Siebzigjährigen, der sich bald an ein Klavier setzen und Swingmusik spielen wird, und eine deutsche Journalistin, die über diese drei ein Buch geschrieben hat.
Zwei Menschen auf dieser Bühne würden heute nicht mehr leben, hätte der dritte, der Mann mit dem Krückstock, nicht vor 57 Jahren beschlossen, „etwas gegen die Deutschen zu tun” und diese Absicht am 19. April 1943 auch in die Tat umgesetzt. Seien wir ehrlich: Wir haben nur zögernd zu Marion Schreibers Buch gegriffen. Wir wollten das alles nicht noch einmal lesen: Wie mitten in Europa die dünne Decke der Zivilisation zerriss. Wie die Nationalsozialisten und ihre Helfer und Mitläufer in Europa die Juden verfolgten. Wie Einzelne sich heldenhaft der Barbarei entgegenstemmten. Wie oft kann man angesichts dieses ständig beschworenen Grauens Gefühle wie Wut, Mitleid und Entsetzen mobilisieren?
Unbewältigte Zeiten
Doch nach wenigen Seiten hat einen die ehemalige Brüsseler Spiegel-Korrespondentin hineingezogen in ihre Fortsetzung der unendlichen Geschichte von europäischer Schuld. Wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, ist einem wieder bewusst geworden, dass diese Zeit nie bewältigt, aber auch nie vergessen wird. Jede Generation wird immer wieder aufs neue versuchen zu begreifen, was geschehen ist. Zum Beispiel am 19. April 1943. Bewaffnet mit drei Zangen, einer Sturmleuchte und einer Pistole überfielen an diesem Abend drei junge Männer einen Zug, der 1631 Juden aus dem belgischen Lager Mechelen nach Auschwitz bringen sollte. Dem jüdischen Medizinstudenten Youra Livchitz und seinen Freunden Jean Franklemon und Robert Maistriau gelingt es, 17 Männer und Frauen aus den Waggons zu befreien. Weitere 225 Insassen können entkommen, bis dieser 20. Transport in das Konzentrationslager die belgisch-deutsche Grenze erreicht.
„Alle, die dem Todeszug nach Auschwitz entkamen, konnten auf die Hilfe der belgischen Bevölkerung rechnen. Niemand wurde verraten”. So erzählt Marion Schreibers Buch nicht nur von der waghalsigen Tat dreier junger Männer, sondern setzt auch den Belgiern einen kleinen Gedenkstein, diesem fremden Nachbarn der Deutschen. Anders als der Untertitel suggeriert, ist das Buch weder ein historischer Action-Thriller über ein todesmutiges Kommando, noch das psychologische Porträt der Widerständler, von denen der Belgier Robert Maistriau als einziger überlebt hat. Wie durch ein Mikroskop wird dagegen der Blick auf ein dichtes Geflecht an Schicksalen und Lebensentwürfen gelenkt, auf eine Brüsseler Stadtgesellschaft aus eingewanderten Juden, lebenslustiger Boheme, idealistischen Theosophen und politischer Avantgarde, die innerhalb weniger Jahre brutal zerstört und zerstreut wurde.
In dem Stadtviertel, in dem sie heute selbst als Autorin lebt, im Einzugsgebiet der Freien Universität Brüssel, hat Marion Schreiber wie eine besessene Archäologin nach Daten, Verbindungen und Erzählungen gegraben, hat Kalender durchstöbert und Überlebende in allen Himmelsrichtungen aufgesucht. Manchmal ist der Leser in Gefahr, in der Überfülle der Personen und Ereignisse die Orientierung zu verlieren. Doch Marion Schreiber wollte wohl so viele Bestandteile wie möglich aus dieser zersplitterten Welt für die Nachwelt sichern. Die „stillen Rebellen” – das sind für sie jene Juden, deren bürgerliche Existenzen schon zerstört sind, aber die im Lager von Mechelen nicht dem Transport nach Auschwitz entgegendämmern, sondern mit Hilfe eines konspirativen Netzwerks Waffen sammeln und sich vorbereiten für die lebensgefährliche Flucht aus dem Zug.
Auch von den Tätern und Mördern werden die Konturen nachgezeichnet. Eine beklemmende Hierarchie des Bösen: Der deutsche Militärgouverneur in Belgien, Freiherr von Falkenhausen, ist ein preußischer Aristokrat, der Hitler verabscheut, ihm aber doch zu Diensten ist, aus „Pflichtgefühl”; Lagerkommandant Hans Frank ist weder sadistisch noch korrupt, sondern erledigt seine Aufgabe - die logistische Vorbereitung der Deportation tausender von Juden - überaus korrekt; der Judenreferent Kurt Asche schließlich, ein durch die Nazis groß gewordener Drogistengehilfe, ein Schläger und Trinker, ist für die Juden in Brüssel der personifizierte Todesbote. 1981 wird ihm in Kiel der Prozess gemacht. Das Urteil: Nur sieben Jahre Gefängnis.
Der Blick durch Marion Schreibers Mikroskop fällt nicht nur auf Schwarz und Weiss, sondern auch auf viele Grautöne. Das gilt auch für die von ihr geschätzten Belgier, die der deutsche Militärgouverneur Frankenhausen „ein schwieriges Volk” genannt hat. Irritiert brachte er zu Papier: „Ihr Staat ist ein künstliches Gebilde, zusammengehalten durch Religion, Verwaltung und Monarchie”, und das Volk darin werde durch ein „starkes Gefühl für persönliche Freiheit” bestimmt. In dieser Aura hatten die Nazis mehr als nur die üblichen Schwierigkeiten einer Besatzungsmacht. Da gab es zwar in Flandern eine faschistische Bewegung. Da fanden sich auch unter den Belgiern Duckmäuser und Kollaborateure, so dass gerade in diesen Wochen in der belgischen Politik über einen Entschädigungsfonds für die Opfer nachgedacht wird. Einmal ist in dem Buch von der „freundlichen Gleichgültigkeit” der Belgier die Rede, denn auch aus ihrer Mitte war es möglich, jüdische Nachbarn aus ihren Wohnungen zu vertreiben.
Gelbe Sterne aus Stoff
Doch dann war es in Belgien auch wieder ganz anders: 1942 weigern sich die Bürgermeister der Brüsseler Gemeinden, die verordneten Stoffsterne an die Juden auszuhändigen. Das sei eine „Verletzung der Menschenwürde”, schließlich musste der Judenrat selbst die Verteilung übernehmen; und wenigstens für diejenigen Juden, die belgische Staatsbürger waren, haben sich die Regierung, das Königshaus und ein großer Teil der Bevölkerung so vehement eingesetzt, dass die Nazis ihr Programm der „Entjudung” in Belgien nur in kleinsten Dosierungen vorantreiben konnten. In der europäischen Statistik des Grauens belegt Belgien unter den besetzten Ländern deshalb erst ganz hinten einen Platz: Von den 60 000 Juden, die in Belgien lebten, wurden 60 Prozent nicht deportiert. „Ich wünsche mir sehr, dass der Mut vieler belgischer Bürger auch in Deutschland gewürdigt werden”, schreibt Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Vorwort.
Er wurde damals von seiner Mutter bei einer Bauernfamilie versteckt und hat in Belgien überlebt - als eines von mehr als 4000 jüdischen Kindern. Zwei andere, die davonkamen, und der dritte, der sie gerettet hat, „nicht unbedingt, weil ich etwas für die Juden tun wollte, sondern, weil ich gegen die Deutschen war”, sie verzaubern mehr als fünfzig Jahre später an einem dunklen Brüsseler Novemberabend mit ihrer Menschlichkeit und ihrer Bescheidenheit das Publikum. Es wird Klavier gespielt und immer wieder wird auch gelacht, weil Regine Krochmal und Simon Gronowski, die zwei dem Tod geweihten Insassen des Auschwitz-Transports, und ihr Retter Robert Maistriau, der Hölle auf Erden, von der Marion Schreiber berichtet, letztlich ungebrochen entkommen sind. „Dass eine Deutsche ein solches Buch geschrieben hat...” freut sich Gronowski. Nicht nur er freut sich darüber.
CORNELIA BOLESCH
Orthodoxe Juden sind selten geworden in Europa. Eine kleine Gemeinde lebt im belgischen Antwerpen.
Foto:Caro
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Ein verdienstvolles Buch hat Marion Schreiber, ehemalige Brüssel-Korrespondentin des "Spiegels", da geschrieben, meint Jens Mecklenburg. Die Autorin berichtet über den belgischen Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht und insbesondere über die Hilfsbereitschaft vieler Belgier, ihren jüdischen Landsleuten zu helfen. Immerhin hat etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Belgiens die Nazizeit überlebt, berichtet Mecklenburg. Auch Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, sei als Kind drei Jahre lang von einer belgischen Bauernfamilie versteckt worden. Es gab nicht nur Nachbarschaftshilfe und wohlgesinnte Polizisten, erzählt Mecklenburg weiter, sondern Schreibers gut recherchiertes Buch setze auch einer Gruppe von drei Einzelkämpfern ein Denkmal, die sich getraut haben, einen Deportationszug nach Auschwitz zu stoppen und zumindest einen Teil der Häftlinge befreien konnten. Partisanen war die Aktion zu riskant erschienen.

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