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Produktbeschreibung
Das Leben ist ein Traum, aus dem wir hin und wieder erstaunt erwachen
Autorenporträt
Friederike Kretzen, 1956 in Leverkusen geboren, Soziologin, Dramaturgin am Residenz-Theater in München. Seit 1983 lebt sie in Basel und arbeitet als Dozentin (unter anderem an der ETH Zürich), als Publizistin für Schweizer Medien (unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung) und als Schriftstellerin. Für Ich bin ein Hügel erhielt sie 1999 den Deutschen Kritikerpreis für Literatur, 2001 wurde ihr das Arno-Schmidt Stipendium für ihr Werk zuerkannt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2007

Nimm Ob-La-Di Ob-La-Da

Erinnerung, tanz! Friederike Kretzen, 1956 in Leverkusen geboren, blättert in ihrem neuen Roman im Album einer rheinischen Kindheit und mischt riskant Autobiographie und Experiment.

Von Friedmar Apel

Robert Musil hat sich einmal über das erzählerische Verhältnis lustig gemacht, das die meisten Menschen zu sich selbst unterhalten. Sie fühlten sich durch den Eindruck, dass ihr Leben einen "Lauf" habe, irgendwie im Chaos geborgen, "obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ,Faden' mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet". Vermutlich hat von je Erzählen die Funktion gehabt, das Chaos des Geschehenden zu ordnen. Der Mensch hat noch immer erst dann eine Geschichte, wenn er sie erzählt. Das Bedürfnis nach Geschichten, die einem Faden folgen, hat alle avantgardistischen Versuche, der Unübersichtlichkeit der modernen Wirklichkeit mit der Atomisierung des Erzählens zu begegnen, überlebt.

Am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts gehört es unter Gebildeten beinahe schon zum guten Ton, zuzugeben, dass einem "Finnegans Wake" auf die Nerven geht. Friederike Kretzen aber wehrt sich tapfer gegen die Renaissance des konventionellen Erzählens. Schon in "Übungen zu einem Aufstand" (2002) hat sie die Erinnerung an eine Jugend in den siebziger Jahren in einem nach surrealistischen Mustern genähten Flickenteppich aus Metaphern und assoziativen Beschreibungen ausgebreitet. Es liegt in der Natur eines solchen Verfahrens, dass die erzählte Geschichte, sofern davon noch die Rede sein kann, weder Anfang noch Ende hat und in potentiell unendlichen Varianten präsentiert werden kann. So erscheint auch in "Weißes Album" die Erinnerung an eine Kindheit und Jugend im Rheinland der sechziger und siebziger Jahre wieder als Sammlung von lauter Lebensschnipseln. "Die Zeit, das sind die Teile, Splitter, uns vorausgeschickte Überbleibsel, denen zu folgen wir uns anschicken. Bis wir dastehen und erkennen: Da sind Namen geschrieben. Elschen, Gitti, Hannah."

Parzen ohne Orientierung.

Diese Drei, elf Jahre nach dem Krieg geboren, haben sich als Kinder in Leverkusen, am Löschteich hinter den Reihenhäusern kennengelernt. An ihrer Schule haben sie, unter Leitung von Frau Krause, die drei Schwestern Tschechows gespielt und sich gewundert, warum die immerzu nach Moskau wollten. John Lennon hatte sich später allerdings auch gefreut, endlich "back in USSR" zu sein. Nun haben sie sich, aufgewacht aus dem Schlaf der Vergangenheit, wiedergetroffen, drei orientierungslose Parzen, die, traumverloren Sätze teilend, mit losen Schicksalsfäden hantieren. "Wir wollen nicht weitergehen, auch nicht weiterkommen und eine Folge von Vergangenheit sein." Friederike Kretzens kollektives Erzählverfahren ist ein perpetuierter Einspruch gegen narrative Konstruktionen, die einer organischen Notwendigkeit gleichsehen. So ist jedes berichtete Ereignis nur Variante in einem assoziativen, traumhaften Zusammenhang, in dem das Eigene ununterscheidbar wird vom Fremden.

Die Metapher vom Leben als Traum und vom Text als Gewebe wird dabei selbstreferentiell übersteigert. "Von jener anderen Seite der Erde, die aus Träumen wächst, im stetigen Hin und Her der Weberschiffchen, jener Fähren der Fäden, an denen unsere Leben hängen. Sie wägen den Stoff, aus dem sie sind, ziehen durch das Gewebe der Tage der Jahre und Jahrhunderte ihre andere Art Faden und türmen Berge von Stoff, von Leinwand auf, in deren Falten sich die Abdrücke von Träumen ablagern und gewissermaßen die Knochen der Träume bilden."

Zusammen mit der Metaphorik des Lebens als Inszenierung, als Film oder Theater ergibt das einen surrealistischen Bilderstrom, der jegliche Handlung und jegliche Individualität des Erinnerns zerfransen lässt. Die permanente Transgression gleicht einem nach Breton und Dalí gedrehten endlosen Videoclip, in dem jede gegenständliche Wahrnehmung sofort wieder zerfließt und die erzählte Zeit sich zur virtuellen Gleichzeitigkeit aller Dinge in einer unendlichen Landschaft ausbreitet.

So erscheint Erinnerung selbst als unfixierbar. Zugleich zerfließt auch die Möglichkeit, sie als solche zu erkennen. "Darum ist vielleicht der Begriff der Erinnerung selbst der Schatten eines anderen Begriffs, der so verschwunden und zugleich das ist, wie die Schatten jener Wäschestücke auf einer Leine neben der Straße, die bis zu uns führt, sich fortsetzt in unsere Orte und Städte." Die Entgrenzung des Erinnerns und die permanente Überschreitung der Bilder führt zu einzelnen Passagen von großer poetischer Suggestivkraft, in denen die vergangenen Dinge zu einem geheimnisvollen Leben erwachen.

Irgendwann im Verlauf der 33 Stücke aber ist es der Leser leid, alles und jedes als eine Form des Schlafs, des Traums und der Verwandlung zu begreifen. Mit zunehmender Lektürezeit stellt das Staunen auf stur. Wenn das Tote nicht mehr vom Lebendigen, das Seiende nicht mehr vom Nichtseienden unterschieden werden kann, dann wird alles gleichgültig und damit langweilig. Im mystischen Dauerblitzlicht werden die Dinge, Ereignisse und Personen zu bloßen Gespenstern der Vorstellung, vor denen man sich aber nicht fürchtet, weil sie nur mit Papier rascheln.

"Ob-La-Di Ob-La-Da" heißt, ins Rheinische übersetzt, soviel wie: Et kütt wie et kütt. Und wenn es nicht so kommt, dann kommt es eben anders. Wenn die Geschichte ein weißes Album der universalen Verblendung ist, dann kann sie einem auch egal sein. Friederike Kretzen jedenfalls hat ihre beeindruckenden sprachlichen Fähigkeiten an eine leerlaufende poetische Iterationsmaschinerie verschwendet.

- Friederike Kretzen: "Weißes Album". Roman. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2007. 224 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Andrea Köhler von Friederike Kretzens neuem Roman "Weißes Album". Dabei tut sie sich zunächst ein wenig schwer zu bestimmen, worum es sich dabei eigentlich handelt: ein "surreales Kopfkissenbuch", "spätmodernes Familienalbum" oder "Traumbild einer Epoche"? Alles zusammen, legt sie nahe, vielleicht mehr: der "Roman einer Generation". Kretzen erzähle von drei Kindheitsfreundinnen, die sich nach Jahren wieder sehen, die Nacht durchreden, sich an die gemeinsame Vergangenheit erinnern, die Kindheit in der deutschen Provinz und den Aufbruch in den siebziger Jahren. Im Grunde aber sieht sie in dem Buch ein Werk über das "allnächtliche Stillhalteabkommen mit der Zeit". Sie bescheinigt dem Roman eine enorme soghafte Wirkung, auch wenn man ihn nicht in einem Zug lesen könne. Fasziniert hat sie nicht zuletzt Kretzens Sprache, der eine "poetische Verdichtung" zueigen ist und eine "traumwandlerische Evidenz" gewinnt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Die Entgrenzung des Erinnerns und die permanente Überschreitung der Bilder führt zu einzelnen Passagen von großer poetischer Suggestivkraft, in denen die vergangenen Dinge zu einem geheimnisvollen Leben erwachen." Friedmar Apel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.05.07

"Wie im Traum Menschen und Dinge die Züge von diesem und jenem annehmen und Zeiten und Orte sich mischen, so erzählen Gitti, Elschen und Hannah von der Gegenwart hinter den sieben Bergen der Zeit. Und wo, wenn nicht dorthin wollte man mit der Literatur gelangen: in jene geheimen Winkel, in denen die Sprache eine traumwandlerische Evidenz gewinnt. Und wir reiben uns die Augen. War da was? Und möchten von vorne anfangen. Ohne Anfang, ohne Ende." Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 24.04.07

"Wer den Orientierungsverlust schätzt, um eine neue Richtung einschlagen zu können, ist hier genau richtig. Kretzens Weißes Album ist der helle Wahn, ein Hit für Abenteuer-Naturen unter den Lesern. Alle anderen dürfen einem Buch begegnen, das ist wie kein zweites." Christine Richard, Basler Zeitung, 05.03.07

"Dabei gestaltet die Autorin in einem schwebenden poetischen Verfahren Übergänge, die Realität und Phantasie ineinanderfliessen lassen." Béatrice Eichmann-Leutenegger, Der Bund, 28.04.07