Marktplatzangebote
17 Angebote ab € 0,90 €
Produktbeschreibung
Der Ort des letzten Widerstands
Autorenporträt
Marcelo Figueras, geboren 1962 in Buenos Aires, arbeitete als Journalist für verschiedene Zeitschriften, als Kulturredakteur für die Tageszeitung Clarín und als Redakteur der Zeitschrift 'Viva'.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2006

Weine nicht um sie, Argentina
Marcelo Figueras erzählt von einer Familie in Zeiten des Putsches

Es ist der April des Jahres 1976. Unmittelbar nach der Amtseinführung des neuen argentinischen Präsidenten Jorge Rafael Videla, eines "Manns mit Mütze, riesigem Schnurrbart und bösem Gesicht", wird der zehnjährige Harry von seiner Mutter aus dem Schulunterricht geholt: "Wir machen eine Reise." Am Abend stößt der Vater zu ihnen, ein Rechtsanwalt, der sich auf die Verteidigung politischer Gefangener spezialisiert hat: "Wir verschwinden für ein paar Tage, bis sich die Dinge beruhigt haben." Der Vater irrt sich. Es sollen mehr als nur ein paar Tage werden.

"Kamtschatka" heißt dieser Roman, in dem der argentinische Schriftsteller Marcelo Figueras die Geschichte einer Familie zur Zeit des Militärputsches erzählt. Um den Titel zu verstehen, muß man tief in Harrys Welt eintauchen, in der die überstürzte Flucht der Familie aus Buenos Aires in ein entlegenes Landhaus zunächst nicht mehr ist als ein abenteuerliches Spiel. Als sein Vater ihm erklärt, daß alle Familienmitglieder neue Identitäten annehmen müßten, entdeckt Harry darin das Vorgehen der "Spione, die vorgeben, jemand anderes zu sein, um nicht in die Fänge des Feindes zu geraten". Angeregt durch die Science-fiction-Serie "Invasion von der Wega", hält er Ausschau nach feindlich gesinnten Außerirdischen in Menschengestalt, und bei der aufmerksamen Lektüre eines Comic-Heftes stößt er auf eine "verdächtige Ähnlichkeit" zwischen "Ming, dem Bösewicht von Flash Gordon", und López Rega, dem schlangenhaften Ratgeber Juan und Isabel Peróns: "Natürlich ohne den Bart und mit kurzen Fingernägeln."

Vor der märchenhaften Kulisse des Landhauses mit seinem moosgrünen Swimmingpool und einem Garten voller Kröten schafft sich Harry mit Hilfe seiner Serienstars und Superhelden und der einschlägigen Szenarien der klassischen Jugendliteratur sein eigenes Neverland - beziehungsweise sein eigenes Kamtschatka. Harry ist nämlich ein leidenschaftlicher Anhänger des Strategiespiels "Risiko" (das in der argentinischen Version den ehrlichen Titel "Táctica y Estrategia de la Guerra" trägt), und auf dessen als Weltkarte gestaltetem Spielbrett wird die kleine Halbinsel im Osten Rußlands als eigenständige Nation neben den Großmächten geführt.

"Kamtschatka ist das extreme, paradoxe Reich; eine Übung im Widerspruch." Das ist nicht mehr die Stimme eines Zehnjährigen, sondern die des erwachsenen Harry, der als fiktiver Autor des Romans auftritt und die Phantasien seiner Kindheit zu Metaphern umdeutet: "Ich habe lange Zeit an einem Ort gelebt, den ich Kamtschatka nenne, einem Ort, der dem echten Kamtschatka sehr ähnlich ist (wegen der Kälte und der Vulkane, wegen seiner Abgeschiedenheit)", erklärt er im Rückblick auf die innere Emigration, in der unzählige Argentinier angesichts der anhaltenden Militärdiktatur bis Anfang der achtziger Jahre zwischen politischen "Vulkanausbrüchen" und lebensbedrohenden "Schwefeldämpfen" ausgeharrt haben.

Es bleibt bei den sprachlichen Bildern; "Kamtschatka" ist vermutlich der einzige argentinische Roman über die Zeit der Militärdiktatur, in dem kein Blut fließt. Die brutale Wirklichkeit der Diktatur mit ihren Folterungen und Massenmorden muß hinter einer zuweilen fast alltäglich wirkenden Familiengeschichte zurücktreten. Während der zehnjährige Harry das Landhaus erforscht und die geflüsterten Unterhaltungen seiner Eltern - "Jeden Tag fallen Leute" - zu deuten versucht, hebt sein älteres Alter ego immer wieder an zu Exkursen in die Kartographie, in die Literatur oder in die Geschichte. So rückt "Kamtschatka", das auf dem "Risiko"-Spielbrett am anderen Ende der Welt liegt, auf einem Globus plötzlich überraschend nahe an Argentinien heran, und die Formulierung von "manchen Orten", die so unwirklich sind, daß sie "auf keiner Landkarte stehen", entpuppt sich als Zitat von Herman Melville, dessen bekanntestes Werk auch an anderer Stelle erwähnt wird: "Wie interessant wäre es, wenn Moby Dick von Queequeg erzählt würde. Aber die Geschichten werden von Überlebenden erzählt." Doch wie überlebt man und um welchen Preis? Manche Abschweifung bekommt ihren Sinn erst nach und nach, zum Beispiel wenn es um das antike Volk der Lydier geht, die Herodot zufolge während einer Hungersnot zu spielen begannen, um sich von ihrem Elend abzulenken: "Es gefällt mir, daß die Erfindung der Spiele nicht der Langeweile oder der philosophischen Muße zugeschrieben wird, sondern dem Leiden", stellt der ältere Harry fest und kommt einige Seiten später noch einmal auf Herodots Bericht zurück. Als die Lydier zuletzt erkannten, daß auch die Spiele ihren Hunger nicht stillten, teilte ihr König sein Volk und schickte die eine Hälfte fort, um die andere am Leben zu halten.

Der Schluß dieses klugen und zugleich tieftraurigen Romans, in dem die Familie zuletzt unter dem äußeren Druck zerfällt und Harry von seinen Eltern Abschied nehmen muß, wird hier bereits vorweggenommen. "Die Zeit ist ein seltsames Phänomen", bekennt Harry. "Oft glaube ich, daß alles gleichzeitig geschieht." Man kann das als programmatische Äußerung des 1962 in Buenos Aires geborenen Autors lesen. "Kamtschatka" ist aus zahllosen gleichberechtigten Erzählsplittern zusammengesetzt, und daß der Roman trotzdem nicht einfach in tausend Einzelteile zerspringt, so wie die Standuhr, die Harrys Vater eines Abends aus lauter Verzweiflung im Wohnzimmer zu zerlegen beginnt, ist vor allem Marcelo Figueras' sorgfältigem Umgang mit der Sprache zu verdanken. Der zwischen kindlicher Sorglosigkeit und erwachsener Melancholie angelegte Tonfall führt sicher über die perspektivischen, inhaltlichen und chronologischen Brüche hinweg - und das, obwohl Übersetzerin und Lektorat dem fleißig entgegenarbeiten.

Nur weil die Heisenbergsche Unschärferelation im Spanischen "Principio de indeterminación" heißt, darf man sie noch lange nicht als "Prinzip der Unsicherheit" zurückübertragen, und eine Aufgabe, die im Original "quimérico" ist, wird man im Deutschen wohl nicht als "schimärisch", sondern als "phantastisch" oder "trügerisch" bezeichnen. Das sind nur zwei von zahllosen Ungereimtheiten. Es ist schon bemerkenswert, mit welchem Eifer deutschsprachige Verlage auf dem internationalen Buchmarkt für teures Geld Lizenzen einkaufen, stattliche Fördersummen für die Übersetzungen einstreichen und die Bücher anschließend achtlos auf den Markt werfen. Um "Kamtschatka" ist es schade.

KOLJA MENSING.

Marcelo Figueras: "Kamtschatka". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Sabine Giersberg. Nagel & Kimche, München, Wien 2006. 317 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Klug und zugleich tieftraurig" findet Rezensent Kolja Mensing diesen "vermutlich einzigen" argentinischen und dabei unblutigen Roman über die Zeit der Militärdiktatur. Es handelt sich, wie Mensing schreibt, um die Geschichte einer Familie, die nach dem Militärputsch eine neue Identität annehmen muss, um nicht in die Mühlen von Folter und Mord zu geraten. Erzählt wird aus der Perspektive des zehnjährigen Sohnes, der seinerseits in eine Fantasiewelt abtaucht. Denn das titelgebende Land "Kamtschatka" bezeichnet Mensing zufolge eine russische Insel, die auf dem als Weltkarte gestalteten Spielbrett des Strategiespiels "Risiko" als eigene Nation geführt und für das Kind zum Fluchtpunkt wird. Zuletzt zerfällt die Familie unter dem Druck der brutalen Verhältnisse, lesen wir, während der Junge psychisch in seinem Fantasiereich überlebt und als Erwachsener nun dessen Metaphern rückwirkend zu deuten versucht. Die Begeisterung des Rezensenten für diesen Roman wird allerdings überschattet von seinem Ärger über die ungenaue Übersetzung und ein schlampiges Lektorat, die der deutschen Ausgabe aus seiner Sicht ziemlich geschadet haben.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Kinderfragen und Gleichnisse tragen mit grosser Würde das Gewicht der Welt, an dem die Familie zerbricht. Sanft eskaliert der Schmerz in diesem Roman, und am Ende will er nicht mehr weichen." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 27.01.07

"Das Buch ist aus zahllosen gleichberechtigten Erzählsplittern zusammengesetzt, und dass der Roman trotzdem nicht einfach in tausend Einzelteile zerspringt, so wie die Standuhr, die Harrys Vater eines Abends aus lauter Verzweiflung im Wohnzimmer zu zerlegen beginnt, ist vor allem Marcelo Figueras' sorgfältigem Umgang mit der Sprache zu verdanken." Kolja Mensing, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.06

"Figueras' Blick auf die argentinische Militärdiktatur trifft einen Ton, der noch Wochen nachklingt." Christine Pries, Frankfurter Rundschau, 14.12.06

"Zärtlich, sensibel und voll warmem Humor werden aus der Sicht eines 10-Jährigen die schrecklichen Geschehnisse nach dem Putsch der argentinischen Militärjunta 1976 geschildert, die er nurdurch den Rückzug in eine Fantasiewelt verarbeiten kann. Traurig und tief bewegend." Elke Heidenreich, 21.11.06

"Man wird die Geschichte von Harrys Familie nie mehr vergessen." Marko Martin, Literarische Welt, 06.01.07