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Produktdetails
  • Verlag: Haffmans
  • Seitenzahl: 382
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 419g
  • ISBN-13: 9783251004423
  • ISBN-10: 3251004425
  • Artikelnr.: 24802621
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Für eine Hand voll Nüsse
Die Joachim-Lottmann-Einheit / Von Eberhard Rathgeb

Erst fiel die Mauer. Darauf brach sich die Einheit eine Bahn. Das nun dauerte dann etwas, und Jahre zogen lang ins Land. Eine Frage trottete mit: Sollte die Einheit nicht doch auch mal einen Roman wert sein? Ein Buch lag in der Berliner Luft. Schließlich kam, worauf nun niemand auf Anhieb gekommen wäre, der durch einen vor zwölf Jahren veröffentlichten Roman in das Romancierfach hinein- und damit an die damals noch nicht vereinte Öffentlichkeit hervorgetretene Schriftsteller Joachim Lottmann. Was geschah? Es wurde erst mal aus der Einheit ein Roman von der Einheit. Wie wird man damit nun fertig? Oder anders und der Reihe nach gefragt: Wie konnte ein Autor mit der Einheit fertig werden, so dass man nun mit der Einheit als Roman und vielleicht gar mit der Einheit in einem Roman über die Einheit fertig werden muss? Mit einem Bücherschlag war eine rund vierhundert Seiten starke Einheit da.

Man darf zwei Arten von Einheiten unterscheiden. Zum einen gibt es die feste Einheit, zum Beispiel die Deutsche Mark oder einen Meter oder eine Sekunde. Dann gibt es die lockeren Einheiten, zum Beispiel eine Hand voll Nüsse oder ein Glas Milch oder ein Schälchen Schokoladenpudding. Wenn die Maßeinheit das Menschliche ist, dann garantieren zum Beispiel verwandtschaftliche Beziehungen feste Einheiten, auch wenn man manchmal locker mit ihnen umgeht. Ein Vetter ist ein Vetter, und eine Tante ist eine Tante. Dagegen sind lockere menschliche Einheiten zum Beispiel Freunde oder auch Feinde.

Was aber ist, so gesehen, die deutsche Einheit? Wenn ein Roman "Deutsche Einheit" heißt, dann darf man erwarten, dass der Autor nicht erklärt, bei der deutschen Einheit handele es sich um eine feste Einheit, weil alle Deutschen miteinander verwandt seien, also die getrennten Vettern oder die getrennten Tanten nun zueinander stoßen, auch wenn ja Familien zueinander fanden. Ebenfalls wird man erwarten dürfen, dass der Autor nicht behauptet, bei der deutschen Einheit handele es sich um eine lockere Einheit, weil der eine den anderen nun zu seinem Freund oder zu seinem Feind erklärt, so dass es dann nur noch Freunde oder Feinde, sich Hassende oder sich Liebende in Deutschland gibt, nicht aber Vettern und Tanten. Weder auf der Seite 234 noch auf der Seite 235 finden sich solche Bemerkungen. Die deutsche Einheit ist sowohl eine feste als auch eine lockere Einheit. Das muss ein Autor nicht sagen, sondern zeigen. Im Roman über die deutsche Einheit ist der Ton vor allem locker, ein Mein-liebes-Freundchen-mein-liebster-Feind- oder ein Sie-lieben-sich-und-sie-mögen-sich-mal-weniger-Ton, und zwar einer der schnodderigesten Art. Der lottmannsche Held streift in Berlin durch die Tage und Nächte, weil er einen Roman über die Einheit schreiben möchte. Doch statt den Roman zu schreiben, also sich irgendwo, zum Beispiel im Literarischen Colloquium, hinzusetzen und loszuerzählen, plaudert der Held über das, was ihm so passierte, als er sich nicht hinsetzte und keinen Roman über die deutsche Einheit schrieb. Das ist eine lockere Art, einen lockeren Roman über die deutsche Einheit zu schreiben.

Worin besteht die lottmannsche Lockerheit? Dass er ernst meint, was er sagt, und dass er nicht ernst meint, was er sagt. Das ist ein schöner Widerspruch, wenn zwei Aussagen nicht so ganz zusammenpassen, die doch zusammengehören. Die lottmannsche Lockerheit hält daran fest, dass eine Haltung nur dann locker ist, wenn sie krampfhaft Haltung bewahrt. Das hat nichts mit Ironie zu tun. Denn die Ironie schafft ernste zweideutige und nicht krampfhaft-lockere eindeutige Aussagen. Da erzählt der Held, wie er jenes Haus am Wannsee besucht, wo die berüchtigte Wannseekonferenz stattfand. "Die Zahl der Opfer, der geplanten, war keineswegs sechs Millionen, nein, elf sollten es mindestens schon in der allerersten Stufe sein . . . ich taumelte zurück. Es war alles auf Tafeln dokumentiert. Kein einziges Widerwort. Nicht die Ahnung einer Ahnung einer Spur einer gedanklichen Möglichkeit eines vielleicht gedachten Widerworts: unsere Väter, unsere Großväter. Unser Volk. Wie sollte man da noch weitersprechen können als Nachfahre dieser Gemeinschaft?"

Ja, wie hätte man es und warum und was gar hätte man zu sagen? "Völlig magenkrank schlich ich von Raum zu Raum, wobei mir der Schweiß in nichtgekannter Weise auf die kalte Haut trat, aus allen Poren gleichzeitig, so dass nach zehn Minuten Haare, Hemd und Hose so pitschnass geworden waren, dass man es nicht mehr erklären konnte." Was ist das für eine verkrampfte Lockerheit, und man möchte sie im Grunde genommen auch nicht mehr erklären müssen, wenn man sie denn locker nehmen könnte.

Lottmann also schickt einen Helden, der ein Schriftsteller ist, nach Berlin. Der Held soll dort einen Roman über die deutsche Einheit schreiben. Er muss aber erst mal recherchieren, weil er wenig Ahnung über die Einheit hat. Also geht er dahin und dorthin, am liebsten dorthin, wo er sich etwas auskennt, aber auch dahin, wo er sich doch noch wenig auskennt. Er geht also in den kleinen und sich zum Verplaudern anbietenden Kulturbetrieb einerseits und zu fernen, weil aus dem anderen Teil Deutschlands stammenden Frauen andererseits oder zum Palavern einerseits und in sich selbst hinein zum stillen Nachdenken andererseits. Auf der einen Seite ist es nur locker und dann eben auch unerheblich, und auf der anderen Seite nur krampfhaft und dann eben auch erheblich daneben.

Beide Seiten zusammengenommen ergeben fast vierhundert Seiten, was nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Und das geht ja auch nur deswegen zusammen und ergibt nur deswegen vierhundert Seiten, weil Lottmann keinen ernsten oder gar einen ironischen Roman über die deutsche Einheit geschrieben hat, sondern einen krampfig-lockeren und völlig verplauderten Roman über das Nicht-Schreiben eines Romans über die deutsche Einheit, was in seinen an einen doch engen Horizont gewöhnten Augen die Frage nun endlich und offensichtlich klärt, ob die deutsche Einheit in so etwas wie in einen Roman Eingang finden wird. Da kann man nach vierhundert Seiten nur noch anmerken: Locker vom Hocker ist numal auch daneben.

Joachim Lottmann: "Deutsche Einheit". Roman. Haffmans Verlag, Zürich 1999. 383 S., geb., 39,- DM

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Mit großer Ironie bespricht Thomas Groß dieses Buch des Ironikers Lottmann, von dem er sich offensichtlich gleichermaßen fasziniert wie abgestossen fühlt. Seiner Ansicht zeigt der Autor Lottmann vor allem, "wie durch und durch er das Illusionsgewerbe", das Maskenspiel mit Formen und Schreibweisen beherrscht - um den Leser letztlich immer wieder auflaufen zu lassen. Alle hehren literarischen Ansprüche (beispielsweise moralischer Art), die üblicherweise große Literatur ausmachen, muss man nach Ansicht des Rezensenten als Leser in den Hintergrund stellen: Hier werde "amüsant und vordergründig schlicht" erzählt, wobei sich das "Hintergründige" offenbar auf eine kurze Episode beschränkt, wenn nämlich von der schwierigen Identitätsfindung "deutscher Nachgeborener" die Rede ist. Hier macht der Rezensent eine Variante aus, "die einer Verstrickung noch des Postmodernen in die Vergangenheit entspringt". Ansonsten, meint Groß, kann die Hauptfigur Lottmann "liebevoll und tonnenweise" "Machoschrott" auffahren und ähnliche Sünden begehen: Er, der Autor Lottmann, war`s ja nicht. Es war ja nur der Erzähler.

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