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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 913 Bewertungen
Bewertung vom 30.05.2025
Gilead
Robinson, Marilynne

Gilead


schlecht

Für Atheisten schwer erträglich

Als erster einer von Marilynne Robinson als Buchreihe geplanten Folge von Romanen erschien im Jahre 2004 «Gilead», ein auf das gleichnamige, biblische Land östlich des Jordans hinweisender Titel. Die deutsche Ausgabe in der aktuell vorliegenden, teilweise bemängelten Übersetzung wurde erst 2016 herausgegeben. Dieser in den USA ziemlich erfolgreiche Roman wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und vom damaligen Präsidentschafts-Kandidaten Barak Obama überschwänglich gelobt. Allerdings schreibt die in Deutschland kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin keine leichtverdaulichen Romane. In «Gilead» widmet sie sich vielmehr schwierigen Menschheits-Themen wie Geburt, Krankheit und Tod in einer von tiefer Religiosität geprägte Erzählung, die in weiten Teilen als Briefroman angelegt ist, aber auch als Tagebuch und Memoir.

Im Jahre 1956 schreibt der in Gilead, einer fiktiven, abgeschiedenen kleinen Stadt in Iowa, auf dem Sterbebett liegende, weiße Pastor John Ames einen langen Brief an seinen siebenjährigen Sohn, dem er darin alles erklären will, was das Leben betrifft. Eine fiktionale Autobiografie mithin, in der Hochwürden episodisch seine zu verschiedenen Anlässen entstandenen Aufzeichnungen aneinander reiht. Er will von seinen Einsichten und Lebenserfahrungen als 76Jähriger möglichst vieles an den Sohn weitergeben, bevor er wegen seiner Herzerkrankung dazu bald schon nicht mehr in der Lage sein wird. Seine Familie lebt bereits seit Generationen in Gilead, sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren schon kongregationalistische Pastoren dieser Gemeinde, eine seit jeher weitverbreitete Tradition im weiten Verbund ihrer Familie. Der Vater von John Ames war überzeugter Pazifist, der Großvater ein radikaler Gegner der Sklaverei in den USA, der gemeinsam mit Gleichgesinnten im amerikanischen Bürgerkrieg Guerilla-Aktionen durchgeführt hat und als Kaplan bei den Truppen der Union mitwirkte.

Beginnend mit der Suche nach dem Grab des Großvaters, der in den Kriegswirren den Tod gefunden hat, schildert der betagte Briefschreiber in einer weiteren Episode seine Kommunion, die er in einer vom Blitz getroffenen Kirche von seinem Vater empfing. Er schildert aber auch die Geschichte, wie er mit Lila, seiner wesentlich jüngeren, zweiten Frau, die aus einem bildungsfernen Milieu stammt, an einem Pfingstsonntag, in seiner Kirche zum ersten Mal zusammentraf. Die ungleichen Zwei fühlten sich magisch zueinander hingezogen, er tauft sie sogar, bis sie ihm schließlich, ganz unkonventionell, einem Heiratsantrag macht und dem 69Jährigen schon bald einen Sohn schenkt, - den kleinen John, den Ich-Erzähler dieses Romans. Auch der Apartheid ist eine Episode des Romans gewidmet, als sein Patensohn Jack, den er par partout nicht mag, schwer leidet unter der erzwungenen Trennung von seiner afroamerikanischen Frau. Er darf sie aufgrund der Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung nicht heiraten, und auch seine Familie lehnt sie ab. Dieser erlittene Verlust verbindet Jack ganz besonders mit Lila, der ein solcher Verlust mit dem drohenden Tod ihres Mannes ja bald schon bevorsteht.

Der Roman ist geprägt durch die vielen theologischen Sinnkrisen, die den Ich-Erzähler plagen. Zu denen gehören insbesondere die unbegreiflichen Taten seines Großvaters im Bürgerkrieg, die schwere Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau, das Entsetzen über seinen definitiv vom Glauben abgefallenen Bruder und schließlich auch über den eigenen Vater, der scheinbar ebenfalls den Glauben verloren hat und seine Gemeinde verließ. All das wird von Zitaten aus der Bibel begleitet und theologisch kommentiert. Mit reichlich Pathos werden diese Begebenheiten von dem sympathisch anmutenden Protagonisten ziemlich gelassen vorgetragen, mit der offensichtlichen Botschaft zudem, darüber bloß nicht die kleinen Freuden des Lebens zu vergessen. Moralisch aufbauend zweifellos, ist «Gilead» als Lektüre allerdings weder bereichernd noch unterhaltend, - und für Atheisten einfach nur schwer erträglich!

Bewertung vom 28.05.2025
Rote Sonne
Holm, Johanne Lykke

Rote Sonne


sehr gut

In den Feuilletons völlig unbeachtet

Der neue Roman der schwedischen Schriftstellerin Johanne Lykke Holm mit dem Titel «Rote Sonne» ist eine Dystopie, die sich auf eine beklemmende Weise mit den Themen Kindsein, Erziehung und Verantwortung beschäftigt. Erzählt wird eine handlungsarme, mystische Geschichte, bei der drei elternlose, unbehauste Jungen im Blickpunk stehen, in deren Schicksal ein kinderloses Paar ungewollt hineingezogen wird. Zeit und Ort der Handlung bleiben im Dunkeln, werden bewusst verschleiert, und auch die Figuren des Romans bleiben rätselhaft, ihr Tun wird äußerlich in allen Details beschrieben, ihr Innerstes aber bleibt unerschlossen.

Kallas und India, ein junges unverheiratetes Paar, leben in einer kleinen Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses in einer nicht benannten Stadt am Fluss. Sie sind ein überaus glückliches Paar, ihre Liebe ist grenzenlos. Desma, eine alte Freundin von Kallas, die er seit der Jugendzeit kennt, lädt ihn bei einem ihrer gelegentlichen Telefonate ein, sie und ihren Freund Lafayette für einige Zeit in ihrem großen Haus am Meer besuchen zu kommen. Spontan sagt er zu, er und India machen sich schon am folgenden Tag mit der Eisenbahn auf den Weg. Im Zug fallen ihnen drei kleine Jungens auf, die auf dem Gang herumtoben. Am Meer verbringen die beiden Paare dann einige schöne Tage miteinander und führen allabendlich lange Gespräche in weinseliger Runde. Dabei kommt heraus, dass Desma schon sehr früh schwanger geworden ist und man sie damals überrumpelt hat, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Lafayette gesteht, dass er als Jugendlicher einen anderen, der ihn öfter bedroht hatte, mit dem Messer erstochen hat, wofür er vier Jahre im Jugendgefängnis absitzen musste. Bei einem gemeinsamen Badeausflug fällt ein Mann in Strandnähe von seinem Boot und wäre beinahe ertrunken, wird aber durch den Bademeister gerettet. Vorsorglich fahren Kallas und Lafayette mit ihm ins Krankenhaus. Unter den neugierigen Zuschauern sind auch die drei Jungs vom Zug, die später plötzlich am Gartentor von Desma auftauchen und sich besorgt nach dem Mann erkundigen.

Es stellt sich heraus, dass die Drei im Alter von fünf, sieben und elf Jahren allein unterwegs sind, ohne Eltern. Desma lädt sie ins Haus ein, gibt ihnen zu essen und verfrachtet sie für die Nacht in ein Gästezimmer. Als nachts in der Nähe eine Fabrik in Brand gerät und das Feuer wegen der Trockenheit rasend schnell um sich greift, beschließen Kallas und India, vorsichtshalber die Kinder sofort mit dem Auto von Desma in ihre Wohnung in der Stadt zu bringen. Es vergehen einige Tage, bis das Paar dort endlich die Behörden über die Kinder informiert. Man sagt ihnen schließlich, sie sollten die Kinder vorerst bei sich behalten, bis nach Ende der Feuersbrunst eine Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen wird, - es vergeht fast ein Jahr darüber!

Über dem scheinbar normalen, nicht immer plausiblen Geschehen in diesem Roman liegt permanent ein mystischer Schleier der Ungewissheit. Die Autorin schildert Nebensächliches wie Spaziergänge oder Einkäufe mit auffallender Detail-Versessenheit. Sie erläutert immer wieder die besonderen Lichtverhältnisse, Wind und Wetter, Gerüche, Farben, Geräusche und Oberflächen von allen möglichen Dingen. Dabei überlässt sie das Wesentliche, die innere Verfasstheit ihrer Figuren, weitgehend der Phantasie des Lesers. Die zufälligen Pflegeeltern, erfährt man fast nebenbei erst ganz am Ende, waren sich beide schon immer einig, keine Kinder zu wollen. Sie lassen die unerwartete Situation mit der Verantwortung für die drei Jungs ungerührt über sich ergehen und leben wie in Trance weiter in dieser für sie völlig ungewohnten familiären Konstellation. Kinder zu lieben und zu versorgen ist plötzlich scheinbar das Normalste von der Welt für sie. Das planvolle Unterlaufen von Erwartungen des Lesers ist ein typisches stilistisches Merkmal dieses idealistischen Romans. Er ist in den Feuilletons erstaunlicher Weise völlig unbeachtet geblieben, wo sonst ja nahezu jeder Schundroman beflissentlich rezensiert wird.

Bewertung vom 24.05.2025
Don Quijote (Deutsche Ausgabe in 2 Bänden)
Cervantes Saavedra, Miguel de

Don Quijote (Deutsche Ausgabe in 2 Bänden)


ausgezeichnet

Das Buch für die Insel

«Don Quijote» von Miguel de Cervantes gilt als der erste moderne Roman, das 1605 und 1615 erschienene, zweiteilige Werk ist mit bisher über 500 Millionen Auflage aber auch der mit Abstand meistverkaufte Roman aller Zeiten. Er wurde zudem 2002 bei einer vom Nobelinstitut in Stockholm veranstalteten Umfrage unter hundert berühmten und anerkannten Schriftstellern aus der ganzen Welt als bester jemals geschriebener Roman gekürt. Mit seinem Kampf gegen die Windmühlen ist der Ritter von der traurigen Gestalt auch Urheber geworden für das vielzitierte Sprichwort über die vergeblichen Mühen des Bürgers im Umgang mit bräsigen Bürokraten.

Die «Vorrede» des Autors beginnt mit dem Satz: «Unbeschwerter Leser, auch ohne Eid darfst du mir glauben, wie sehr ich mir wünschte, dies Buch, dies Kind meines Geistes wäre das schönste, stolzeste und klügste, das man sich nur denken kann». Im Dialog mit einem Freund teilt der spanische Autor dort voller Spott dann auch jede Menge Seitenhiebe gegen das damals in höchster Blüte stehende Genre der kitschigen Ritterromane aus. Es wird deutlich, dass der «Don Quijote» als Parodie dieser seinerzeit so beliebten Literatur gedacht ist. Reine Satire also, und nicht nur vom Inhalt her, sondern auch stilistisch auf die Spitze getrieben durch persiflierenden Wortwitz und eine der Zeit geschuldete, gedrechselte, aber eben auch amüsante Diktion. Der Protagonist Don Quijote gesteht denn auch gleich zu Beginn, dass er selbst, dem Publikums-Geschmack folgend, jeden Ritterroman gelesen habe, den er in die Hände bekommen konnte, sein Haus sei voll davon. Er identifiziert sich vollständig mit den hehren Zielen der Ritterorden und beschließt, selbst ein Ritter zu werden. Und das geschieht nur deshalb, weil er in seiner Einfalt den Lug und Trug der Romane nicht von der Realität unterscheiden kann, weil er naiv Wort für Wort an das glaubt, was er gelesen hat. Für Cervantes ist sein Roman auch ein Beleg dafür, dass übermäßige Lektüre von Schundromanen letztendlich nur den Verstand raubt, worauf Denis Scheck übrigens aktuell auch in seiner Bestseller-Bibel hingewiesen hat, wo eine aktuelle Studie benannt ist, die das tatsächlich belegt.

Also zieht der Held auf Rocinante, seinem Klepper, in die Welt hinaus, um Gutes zu tun und Böses zu verhindern, begleitet von seinem Schildknappen Sancho Panza, der auf einem Esel reitet. Und er will natürlich auch Dulcinea finden, seine erträumte Herzensdame. Er erlebt zahlreiche haarsträubende Abenteuer und richtet überall da, wo er auftaucht, ein schlimmes Chaos an. Seinen rohen Gegnern unterliegt er immer und siegt nur dort, wo er gegen völlig Unschuldige und Ahnungslose zu Felde zieht. Im zweiten Teil des Romans ist Don Quijote der anerkannte Schriftsteller des ersten Teils geworden, der nun mit Sancho Pansa weitere Abenteuer besteht, seine Dulcinea aber leider auch nicht findet. Ganz am Ende verliert er einen Zweikampf und kehrt in sein Dorf zurück, wo er seine Lebenslüge erkennt und desillusioniert an Wundfieber stirbt.

Die Handlung des Romans wird ergänzt durch viele in sich abgeschlossene Episoden, deren aberwitziges Geschehen für sich allein steht. Besonders amüsant sind die Passagen, in denen Cervantes gegen die Schriftsteller zu Felde zieht, indem er zum Beispiel Zweifel an seinem Buch bekundet, «… wo ich doch sehe, dass andere Bücher, einerlei wie herbeiphantasiert und profan, nur so von Sprüchen des Aristoteles strotzen, von Platon und dem ganzen Philosophentross, und damit ihre Leser staunen machen, und die halten derlei Schreiber dann für belesene, beredte und gelehrte Männer». Wie wahr! Der «Don Quijote» ist übrigens einer der seltenen Romane, die man ohne Abstriche in kleinsten Portionen über längere Zeiträume hinweg goutieren kann, denn jeder Abschnitt des Buches ist für sich allein eine literarische Preziose. Es wäre in der Gesamtausgabe in einem Band mit fast 1500 Seiten insoweit auch das viel beschworene, nie langweilig werdende, ideale «Buch für die Insel».

Bewertung vom 22.05.2025
Tannöd
Schenkel, Andrea Maria

Tannöd


sehr gut

Chapeau!

Das Romandebüt von Andrea Schenkel mit dem Titel «Tannöd» startete 2006 mit einer Auflage von 3000 Exemplaren, verkauft wurden schließlich über eine Million Bücher, - so kann ein Verlag sich irren, oder anders gesagt, so launisch ist die Lesergunst! Dieser mehrfach prämierte Dorfkrimi hat es in kurzer Zeit sogar geschafft, Daniel Kehlmanns «Die Vermessung der Welt» vom Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste zu verdrängen. Inzwischen wurde der Stoff als Hörspiel und Theaterstück verarbeitet und auch erfolgreich verfilmt. Der Roman basiert auf einem wahren Mord in Hinterkaifeck bei Schrobenhausen, wo am 1. April 1922 auf einem Einödhof sechs Menschen erschlagen wurden. Sie sei durch einen Zeitungs-Artikel darauf gestoßen, erklärte die Autorin in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, welches im Anhang des Romans abgedruckt ist. «Ich habe die Handlung auf die Nachkriegszeit verlegt und ein paar Personen dazugeschrieben und die Opfer neu erfunden«, erklärte sie zur Entstehung des Buches. «Und am Schluss finde ich einen Täter – in Wirklichkeit wurde der Fall ja nie geklärt».

Der Roman erzählt von einem tyrannischen Bauern, der mit Frau und Tochter, zwei Enkelkindern und einer Magd auf einem Einödhof lebt. Danner ist ein brutaler Eigenbrötler, der seine Familie schikaniert und dem alle Dorfbewohner aus dem Weg gehen, die Familie lebt völlig isoliert am äußersten Rand des Dorfes. Als die Nachbarn mehrere Tage lang niemanden mehr sehen von der Familie, die Enkelin nicht in der Schule erscheint und auch der Postbote niemanden antrifft, beschließen drei Männer, nachzusehen, was denn da los ist. Das Haus ist verschlossen, im offenen Heustadel finden sie schließlich die mit Heu bedeckten Leichen des Bauern und seiner Frau, ihrer Tochter und der Enkelin. Und im Haus entdecken sie schließlich noch die Leichen des zweijährigen Enkelsohns und die der erst am Vortag eingestellten, neuen Magd. Alle Sechs wurden brutal mit einer Spitzhacke erschlagen.

Andrea Schenkel führt schon früh einen Täter ein in ihre Geschichte, sie erzählt von einem Tagedieb und Vagabunden, der sich jeweils für kurze Zeit als Taglöhner verdingt, dabei den Hof gründlich erkundet und seinen Arbeitgeber ausspioniert. Sein Wissen macht er sich dann nach einiger Zeit zu nutze, um in das jeweilige Haus einzubrechen, oder er gibt alle Informationen an seine Kumpels weiter, die dann den Raubzug ausführen und die Beute mit ihm teilen. In ihrem raffiniert angelegten Plot entwickelt die Autorin ihre multi-perspektivisch erzählte Geschichte in weiten Teilen in Form von kurzen, persönlichen Berichten aus dem familiären und dörflichen Beziehungsgeflecht. Aus diesem vielstimmigen Chor entsteht nach und nach ein mosaikartiges Bild des Geschehens und seiner Vorbedingungen. So wird dann auch deutlich, dass Danner seine Tochter Barbara seit ihrem zwölften Lebensjahr sexuell missbraucht hat. Aus diesem Inzest ist später seine Enkeltochter entstanden, und Danner hat es geschafft, Barbara mit einem Flüchtling zu verheiraten, der auf das Erbe spekuliert hat. Später hat er den Schwiegersohn dann davongejagt und ihm Geld gegeben, damit er auf Nimmerwiedersehen nach Amerika auswandern könne. Als Barbara einige Jahre später wieder schwanger wurde, hat sie ein Verhältnis mit dem verwitweten Nachbarn angefangen und ihn dazu gebracht, sich als Vater ins Geburtsregister eintragen zu lassen.

Dieser Roman ist eher ein Heimatroman als ein Krimi, der Mord selbst steht erzählerisch nicht im Mittelpunkt, er wird nur kurz gestreift. In Fokus ist vielmehr das familiäre und dörfliche Beziehungsgeflecht, das jeweils aus der Innenperspektive heraus, - auch jener der Opfer, psychologisch aufschlussreich und stimmig geschildert wird. Zahlreiche religiöse Einsprengsel stehen für eine Kritik an der bigotten Frömmigkeit der einfältigen Dörfler. Das häppchenweise Erzählen sorgt - ganz ohne die genre-üblichen Muster - für Spannung und führt zielstrebig, anders als in der realen historischen Mordsache, auf ein überraschendes Ende hin. Chapeau!

Bewertung vom 21.05.2025
In einem Zug
Glattauer, Daniel

In einem Zug


weniger gut

Unterhaltung ohne Tiefgang

Auf dem Buchumschlag von Daniel Glattauers neuem Roman mit dem Titel «In einem Zug» prangt auf der Vorderseite der Aufkleber «Spiegel Bestsellerautor», und tatsächlich hat sich auch dieser Roman wieder als sehr erfolgreich erwiesen. In den Feuilletons wird er fälschlich oft als Liebesroman bezeichnet, im Wirklichkeit handelt es sich aber um ein Buch ‹über› die Liebe. Es geht hier also nicht um Zwei, die sich lieben, geliebt haben oder sich lieben werden, es geht um Zwei, die sich über Liebe unterhalten, und zwar während einer Zugfahrt. Protagonist und Ich-Erzähler ist ein dem österreichischen Autor in Vielem ähnelnder Schriftsteller. Ein interessantes Setting also, das Einblicke in die Interna der Branche verspricht!

Mit den Worten «Ich setze eine Person in einen Zug, und dann passiert etwas» hat Glattauer das Grundkonzept seines Romans beschrieben, er habe sich dabei einfach der Lust und Freude am Schreiben hingeben wollen. Eduard Brünhofer, bekannte Autor erfolgreicher Liebesromane, sitzt im ICE von Wien nach München, wo er am Nachmittag einen äußerst wichtigen Termin hat. Seit mehr als zehn Jahren quält er sich schon damit herum, endlich eine Idee für einen neuen Liebesroman zu finden, aber er ist restlos ausgelaugt und bleibt schon nach wenigen Seiten hoffnungslos stecken, weil er nicht weiter weiß, weil das begonnene Manuskript seine hohen Ansprüche auch nicht annähernd erfüllt. Kurz vor der Abfahrt steigt eine Frau «im frühen mittleren Alter» in das Viererabteil und setzt sich ihm schräg gegenüber. Er wäre gern allein geblieben, um sich in Ruhe auf seinen schwierigen Gesprächstermin vorzubereiten. Aber es kommt anders, die Frau spricht ihn an, sie will sich offensichtlich unterhalten. Als er sich schließlich als Eduard Brünhofer vorstellt, der bekannte Autor von Lieberomanen, gesteht sie, dass sie noch nie etwas von ihm gelesen hat.

Aber der Damm ist gebrochen, sie nutzt die Chance, mit einem vermeintlichen ‹Experten› über das Thema Liebe in allen seinen erfreulichen und unerfreulichen Facetten zu reden, denn sie ist als Psycho-Therapeutin oft auch mit derartigen Problemen beschäftigt. Schon bald sind sie per Du, und es stellt sich heraus, dass Catrin Meyr schon länger eine Fernbeziehung mit einem verheirateten Mann in München hat, den sie gerade besuchen will. Sie ist völlig desillusioniert. Nach diversen Beziehungen, deren längste vier Jahre gedauert hat, hält sie jede Zweisamkeit auf Dauer für problematisch. Da bleibt man doch besser allein, so ihr Credo, und spart sich den ganzen Beziehungs-Stress. «Wir reden noch eine hübsche Weile um den heißen Brei herum«, heißt es im Roman, aber Catrin lässt nicht locker. Geradezu inquisitorisch befragt sie Eduard Brünhofer über seine langjährige und (wirklich?) glückliche Ehe und spart dabei auch den ehelichen Sex nicht aus, der doch nach so langer Zeit kaum noch leidenschaftlich sein könne.

Auf der vierstündigen Fahrt geht es um die naheliegende Frage, was denn ein Autor erfolgreicher Liebesromane über die Liebe zu sagen habe. Ob er denn gerne darüber schreibe oder wie es denn sei, Sexszenen zu schildern, die man so selbst gar nicht erlebt hat, und vor allem, was denn seine Frau dazu sage. Der schrullige Schriftsteller ist mehr, als es gut tut, dem Rotwein zugetan, was zwar einen thematischen Nebenstrang öffnet, der dann aber nicht näher beleuchtet wird. Die berühmte Frage, «was möchte uns der Autor mit seinem Roman denn eigentlich sagen», läuft hier ins Leere, es gibt keine Botschaft! Der federleichte Stil, in dem da erzählt wird, bedeutet eine angenehme Lektüre ohne Tiefgang, die vor allem vom Wortwitz und den amüsanten Dialoge der beiden ungleichen Zugreisenden lebt. Die zunehmend spannender werdende Frage, warum sich Catrin eigentlich so sehr für das Liebesleben dieses vom Scheitern bedrohten Schriftstellers interessiert, wird erst ganz am Ende in einer überraschenden Wendung geklärt. Gut unterhalten hat man sich bis dahin als Leser, mehr aber war nicht!

Bewertung vom 20.05.2025
Tauben im Gras
Koeppen, Wolfgang

Tauben im Gras


ausgezeichnet

Epochenroman des literarischen Kanons

«Tauben im Gras» ist der 1951 als erster veröffentlichte Band dreier, von Literaturkritikern als «Trilogie des Scheiterns» bezeichneter, kurz hintereinander erschienener Romane von Wolfgang Koeppen. Alle drei Romane gleichen sich in ihrer Thematik, sie beschäftigen sich mit den Befindlichkeiten und Ereignissen im Nachkriegs-Deutschland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei knüpfte «Tauben im Gras» im Gegensatz zur damals noch dominanten ‹Trümmerliteratur› bereits deutlich an die literarische Moderne an. Seinerzeit vom Lesepublikum eher verhalten aufgenommen, war dieser Roman bis in jüngste Zeit hinein Abitur-Pflichtlektüre, zog eine beeindruckende Zahl von Sekundär-Literatur nach sich und gehört heute zweifellos zum Kanon deutscher Literatur. Im Anhang der aktuellen Ausgabe des Suhrkamp-Verlags sind umfangreiche Kommentare und ein editorischer Bericht über die vorliegende Ausgabe des Romans enthalten, von dem weder ein Typoskript noch eine erste Satzvorlage existieren. Völlig überflüssiger Weise ist vor Kurzem erst ein Streit über die angeblich rassistische Sprache bei Koeppen entbrannt. So zum Beispiel hier über die Verwendung des ‹N-Worts› für farbige US-Soldaten, für die Koeppen sogar die abwertende amerikanische Form benutzt, mit der GIs damals verächtlich bezeichnet wurden. Ein geradezu absurder, durch eine selbsternannte Sprachpolizei ausgelöster Hype, der, wie auch beim beflissenen Gendern, die deutsche Sprache regelrecht verhunzt!

In mehreren Handlungssträngen wird mit über hundert kurzen, ineinander verwobenen Abschnitten des Plots das Leben der Nachkriegs-Bevölkerung geschildert. Die mehr als dreißig unterschiedlich wichtigen Figuren repräsentieren einen Querschnitt damaliger Normalbürger und vieler als Besatzungsmacht in Deutschland lebender Amerikaner. Dabei gibt es keine einzelnen dominanten Protagonisten, die bestimmend wären für die Handlung. Auffällig ist zudem, dass sie als Charaktere alle wenig markant ausgestaltet sind, man kann sich nach der Lektüre kaum an einen einzelnen von ihnen erinnern. Da gibt es zum Beispiel den frustrierten Schriftsteller, der entfernt an den Autor selbst erinnert, oder dessen alkoholabhängige Frau als reiche Erbin, die mangels anderer Einkünfte im Pfandhaus nach und nach ihre Wertgegenstände zu Geld macht. Es gibt den agilen, farbigen Amerikaner, der eine Kriegerwitwe heiratet und eng mit einem Gepäckträger befreundet ist, einem ehemaligen NS-Mitläufer, und im Verlauf der Handlung wird der GI dann verdächtigt, ihn erschlagen zu haben. Als seine deutsche Frau abtreiben will, weil sie der «Schande» durch ein Mischlingskind nicht gewachsen ist, verhindert er durch ein Gespräch mit dem Arzt diesen Eingriff. Es gibt eine Gruppe von amerikanischen Lehrerinnen, die als Touristinnen die Stadt erkunden. Ein philosophisch veranlagter Dichter, der eine heftig umstrittene Rede hält, stellt sich schließlich als homosexuell aktiv heraus, damals bekanntlich ein Straftatbestand.

Die Figuren sind allesamt den titelgebenden «Tauben im Gras» vergleichbar, wie es in einem Gespräch der Lehrerinnen bei einem Spaziergang angesichts einiger im Gras hockender Vögel heißt. «… die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier …». Und weiter: «… vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß, warum wir hier sind, die Vögel werden wieder auffliegen und wir werden weitergehen …».

Stilistisch folgen die Szenen des Romans mit harten Schnitten aufeinander, wobei aber stets gewährleistet ist, dass der Zusammenhang mit dem vorher Erzählten durch eine der Figuren oder mit Hilfe von markanten Signalwörtern deutlich wird. Die vorwärts drängende, schnörkellos sachliche Erzählweise ist durch häufig angewandte Parataxe gekennzeichnet. Wegen seiner Gedankenfülle erfordert dieses Werk stets aufmerksame Leser, und als Epochenroman ist es geradezu exemplarisch für ein kurzes, aber wichtiges Kapitel deutscher Geschichte.

Bewertung vom 17.05.2025
Der Nachtstimmer
Hart, Maarten 't

Der Nachtstimmer


gut

Schwachsinn im Buch der Bücher

Der Roman des niederländischen Schriftstellers Marten ’t Hart mit dem seltsam anmutenden Titel «Der Nachtstimmer» ist sein bislang letztes, auf Deutsch erschienenes Buch. Der in Holland sehr beliebte Autor ist für seine originellen Themen und die unkonventionelle Art seines Erzählens bekannt. Er nimmt auch in diesem Roman kein Blatt vor den Mund, wenn er geradezu lustvoll Gesellschaft und Religion kritisiert, was in stoischer Beharrlichkeit zu oft komischen, den Lachmuskel strapazierenden Dialogen und Szenen führt. Der selbst Orgel spielende Schriftsteller dringt in diesem Porträt eines professionellen Stimmers von Kirchenorgeln tief ein in die konstruktiven Details und die akustischen Eigenschaften dieser riesigen, sehr besonderen Musikinstrumente. Zahlreich sind aber auch seine durchaus bereichernden erzählerischen Ausflüge in die klassische Musik, die im Roman als die definitiv einzig wahre Form von Musik bezeichnet wird.

Gabriel Pottjewijd, der etwa fünfzigjährige Ich-Erzähler des Romans, reist im Auftrag seiner Firma in eine kleine Hafenstadt Südhollands, um dort eine der seltenen Garrels-Orgeln zu stimmen. Vor Ort muss er feststellen, dass die Kirche in unmittelbarer Nähe zu einer Schiffswerft liegt, aus der an allen Wochentagen ein Höllenlärm dringt, zu dem auch noch Geräusche aus dem lebhaften Betrieb im Hafen hinzukommen. Unter diesen Umständen ist ein Stimmen der Orgel beim besten Willen nicht möglich, er muss auf die Nacht ausweichen und auf Wochenenden, an denen der Betrieb ruht. Der Küster weist ihn darauf hin, dass meist ein junges Mädchen aus dem Ort als Helferin beim Stimmen fungiert, was die Arbeit erheblich erleichtert, weil sie mit großer Geduld stundenlang die jeweils gewünschten Töne anschlägt. Dadurch kann er sich in dem riesigen Instrument seiner zum Teil artistischen Arbeit widmen und muss nicht immer zur Tastatur zurück, um ein Bleigewicht auf die nächste Taste zu legen, deren Pfeife er jeweils anschließend stimmen will.

Tatsächlich ist Sanna pünktlich zur Stelle, begleitet von ihrer brasilianischen Mutter Gracinha, der attraktiven Witwe eines Schlepper-Kapitäns, deren Schönheit den drögen Gabriel fast umhaut. Sanna wird von den Leuten als geistig zurückgeblieben bezeichnet, sie spricht kaum mal ein Wort, vor allem aber absolut kein Holländisch, obwohl sie es in der örtlichen Schule gelernt hat. Gabriel hält sie für sehr begabt, und als er mit seinem älteren Bruder telefoniert, der Kinderpsychiater ist, vermutet der per Ferndiagnose eine autistische Störung. Das sei typisch für hochbegabte und kontaktarme Menschen, könne sich bei ihr mit dem Älterwerden aber bessern oder auch total verschwinden. Die Mutter erweist sich von Anfang an als Femme fatal, atemberaubend schön, von allen Männern begehrt, andererseits ist sie aber auch eine wahre Xanthippe, oft schlechtgelaunt und aggressiv. Denn Gracinha hadert mit dem Schicksal, ihrem Mann in die triste holländische Hafenstadt mit dem immergleichen, schlechten Wetter gefolgt zu sein. Durch die Arbeit in der Kirche treffen sie sich nun täglich, und schon bald sagt sie Gabriel ganz unverblümt auf den Kopf zu, dass sie ihm ja wohl offensichtlich den Kopf verdreht habe, sie ihn aber keinesfalls sexy finde, er sei einfach nur ein stink-langweiliger Nerd. Und als er einen anonymen Drohbrief bekommt, jemand ihn in das Hafenbecken schubst und zu guter Letzt in der Kirche auf ihn geschossen wird, erweist er sich auch noch als ziemlicher Angsthase.

Vordergründig wird in diesem in den 1980er Jahren spielenden Roman eine Liebesgeschichte voller Hindernisse erzählt, bei der sich Gefühl und Verstand diametral gegenüber stehen. Genau so steht auf der gesellschaftlichen Ebene eine dumpfe Fremden-Feindlichkeit dem frömmelnden Christentum entgegen. Der Autor rechnet in seiner umgangssprachlich üppig angereicherten Geschichte unverblümt mit der Bigotterie der Leute ab, wenn er seinen bibelfesten Protagonisten - erkennbar genüsslich - Schwachsinn und Widersprüche im Buch der Bücher darlegen lässt.

Bewertung vom 14.05.2025
Die Spielerin
Lehn, Isabelle

Die Spielerin


gut

Feministischer Schelmenroman

Der dritte Roman von Isabelle Lehn mit dem Titel «Die Spielerin» wurde inspiriert durch ein Buch des Journalisten Sandro Mattioli, in dem die Frage aufgeworfen wurde, ob die Mafia den 2013 in die Insolvenz gegangenen «Deutschen Depeschendienst» kaufen wollte. Darin tauchte auch eine unscheinbare junge Frau aus der niedersächsischen Kleinstadt Einbeck auf, der die Protagonistin dieses Romans nachempfunden ist. Die Autorin hat den Inhalt ihres Buches mit den Worten charakterisiert: «Es ist eine Welt des schönen Scheins und der Fassaden. Eine Welt, die glänzt und durch Komplexität blendet, um zu verbergen, was sich hinter den Fassaden verbirgt.» Herausgekommen ist dabei eine Art feministischer Schelmenroman mit Anklängen an einen veritablen Wirtschaftskrimi.

Im Prolog wird das Ende der dreiteiligen Geschichte vorweg genommen, wenn nämlich A., die namenlos bleibende Romanheldin, im Frühling 2006 in einem noblen Hotelzimmer ihre wahre Geschichte erzählt, so wie sie keiner kennt und wie sie auch kein anderer jemals von ihr hören wird. Als Zuhörer hat sie einen am Bahnhof von Florenz aufgegabelten, blutjungen Gigolo auserkoren, der nackt auf ihrem Bett sitzt und sich, bevor er seinen Job tun wird, sein Geld auch als geduldiger Zuhörer verdienen muss. «Er soll der Einzige sein, der weiß, wie sie alles erzählen würde», heißt es dazu. In dem ihr drohenden Prozess wird A. nämlich beharrlich schweigen, dem wildfremden Callboy gegenüber aber muss sie sich, einmal wenigstens, alles von der Seele reden. «So können wir uns das Ende vorstellen», heißt es dann weiter mit einer dem ‹Pluralis Majestatis› ähnelnden, allwissenden Erzählstimme, die aber nur eine von mehreren erzählerischen Perspektiven dieses Romans ist, eine Autorin und Leserschaft kumpelhaft vereinende Wir-Form.

Gegen die Willen ihrer Eltern geht die ehrgeizige junge Bankangestellte A. nach Zürich, um dort eine Karriere als Investment-Bankerin hinzulegen. Sie beginnt als Telefonistin, interessiert sich für alles, was um sie herum passiert, macht sich Notizen. Schon bald ist sie so tief mit den Machtstrukturen der Bad Banks vertraut und in die Geheimnisse des Großen Geldes eingeweiht, dass sie zur Assistentin aufsteigt. Ihre Unscheinbarkeit als junge Frau in einer machohaften Männer-Domäne erweist sich schnell als Vorteil im Umgang mit den männlichen Kunden, denen sie riskante Investments vermitteln muss, je riskanter, desto höher ist ihre Provision. Sie ist vertrauenswürdiger als ihre geldgeilen, männlichen Kollegen und übernimmt als toughe Key Account Managerin schon bald die Verwaltung von immer mehr und immer bedeutenderen Portfolios. Bis sie schließlich selbst den Verlockungen der hohen Profite erliegt und immer mehr zweifelhafte Geschäfte einfädelt in dem kapitalistischen Schurkensystem, in das sie da hineingeraten ist. Um nun für ihre Mafia-Kundschaft beispielsweise anonyme Konten in fragwürdigen Südsee-Zwergstaaten zu eröffnen, «schwarze Kassen in saubere Bilanzen» zu transferieren und andere kriminelle Transaktionen mehr.

Isabelle Lehn stellt in einem kühlen Erzählton nach offensichtlich akribischer Recherche ein schwer durchschaubares, patriarchal dominiertes Finanzsystem an den Pranger, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, dies scheinbar moralisch überlegen aus dezidiert feministischer Sicht zu tun. Dabei gelingt es ihr, die vielen Erzählfäden spannungsreich miteinander zu verweben und die komplexen Vorgänge auch für ökonomisch unvorbelastete Leser einigermaßen verständlich zu machen. Auch wenn man Begriffe wie Leerverkäufe, Hedgefonds und noch deutlich schwierigere dann aber doch nachschlagen muss als braver Sparbuchbesitzer. Der stilistisch sachliche, leicht lesbare Plot bietet mit seiner eher als graue Maus denn als Powerfrau dargestellten Protagonistin allerdings kaum Identifikations-Potential, denn man erfährt wenig von ihr als Privatmensch. Sie ist eine Einzelgängerin, Männer interessieren sie in ihrem Single-Dasein nur als Partner beim Geldverdienen, Familie und beste Freundinnen spielen keine Rolle.

Bewertung vom 13.05.2025
Sehr geehrte Frau Ministerin
Krechel, Ursula

Sehr geehrte Frau Ministerin


weniger gut

Narrativ unausgewogen

Nach sieben Jahren hat Ursula Krechel mit «Sehr geehrte Frau Ministerin» gerade ihren vierten Roman veröffentlicht, der auch wieder eine dezidiert feministische Thematik aufgreift. Es geht um drei Frauen der Jetztzeit, die mit ihren spezifisch weiblichen Problemen im Roman gespiegelt werden am Schicksal von Agrippina minor, der Mutter des römischen Kaisers Nero. Die in den Feuilletons ziemlich einhellig als eine der sprachmächtigsten deutschen Schriftstellerinnen gefeierte Autorin hat für ihr neues Buch ein hoch kompliziertes narratives Konstrukt gewählt, das in Anbetracht der Komplexität ihrer extrem verschachtelten Geschichte höchste Aufmerksamkeit beim Lesen erfordert.

Der dreiteilige Roman beginnt im ersten, mit «Eva» betitelten Teil mit der Geschichte der Verkäuferin Eva, die in der Essener Filiale einer auf Kräuter spezialisierten Ladenkette arbeitet. Trotz ihrer geradezu symbiotischen Beziehung hat sie als allein erziehende Mutter Probleme mit ihrem Sohn. Philipp hat sein Studium abgebrochen, verbringt antriebslos die meiste Zeit vor seinem Computer, hat nie Zeit für seine Mutter. In permanentem Wechsel zu diesem Erzählstrang springt der Plot in die Antike und erzählt häppchenweise die Geschichte von Nero in der Überlieferung von Tacitus. «Ab ovo», so der Titel des zweiten Teils, ‹von Beginn an› also, wird die Geschichte der Lateinlehrerin Silke erzählt, die als Kundin mit auffällig roter Mütze gelegentlich in Evas Kräuterladen auftaucht. Sie interessiert sich sehr für die «Annalen» von Tacitus und baut sie in ihren Unterricht mit ein, was ihr Schwierigkeiten mit den Eltern einbringt, die den Stoff für unangemessen halten als Schullektüre. Silke kann nach einer Operation keine Kinder mehr bekommen und interessiert sich ziemlich auffallend für Eva und ihren Sohn. Sie spioniere ihnen nach und wolle ein Buch über sie schreiben, mutmaßt Eva. Ein verstecktes Alter Ego der Autorin mithin, die den Schreibprozess und ihre Absichten häufig offen darlegt, den Leser in Wortfindungen und Überlegungen zur Thematik gezielt mit einbindet. Im dritten Teil dieses metafiktionalen Romans, listig mit «als ob» betitelt, steht die Ministerin im Blickpunkt. Schon der Buchtitel weist auf die vielen Briefe hin, die an sie gerichtet sind und Alltagsprobleme aufzeigen, für die es keine politischen Patentrezepte gibt. Auch hier wird die Erzählung, wie schon in den anderen Teilen, häufig durch Zitate von Tacitus unterbrochen. Die Karriere dieser dritten Protagonistin wird ebenso geschildert wie ihr arbeitsreicher Alltag, unter dem ihre Familie häufig zu leiden hat.

Als Kulturgeschichte der Frauen beschäftigt sich dieser Roman mit problematischen Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen heutzutage ebenso wie in der Antike. Die realistisch dargestellten Schicksale der drei Protagonistinnen stehen exemplarisch für die Defizite in der heutigen Gesellschaft, denen Frauen trotz aller Fortschritte bei der Emanzipation nach wie vor ausgesetzt sind. Vielleicht als Trost gedacht, werden diese Probleme vor dem antiken Hintergrund aus der Kaiserzeit vor zweitausend Jahren geschildert, wo Mord und Totschlag unter den Regenten und ihren Neidern alltäglich waren, business as usefull! Aber auch eine so hochgestellte Person wie eine veritable Bundesministerin der Justiz ist heutzutage ihres Lebens nicht sicher, lehrt uns der Roman.

Geradezu gewalttätig wirkt aber auch dieser Roman selbst, wenn nämlich mitten im Satz plötzlich aus einer anderen Perspektive weitererzählt wird, und schwer zugänglich wird er neben den verwirrenden Perspektiv-Wechseln zudem durch die vielen wilden Zeitsprünge. Ein weiteres Manko sind die allzu ausufernden Schilderungen der geschlechts-spezifischen Rolle von Frauen, die sich gegen tradierte Ungerechtigkeiten wehren. Stilistisch topp, aber erzählerisch hochgradig konfus und als Lektüre quälend langweilig, ein narrativ unausgewogener Roman wie selten!

Bewertung vom 08.05.2025
Liquidation
Kertesz, Imre

Liquidation


gut

Schicksalslosigkeit nach Auschwitz

Zum Auschwitz-Zyklus des Literatur-Nobelpreisträgers Imre Kertèsz gehört auch der Roman «Liquidation», der sich thematisch damit auseinandersetzt, wie in Ungarn nach der Wende, und der damit einher gehenden, politischen Liberalisierung, die junge Generation sich schwertut, mit dem historischen Erbe angemessen umzugehen. Als ungarischer Schriftsteller war Kertèsz geprägt durch seine Deportation nach Auschwitz und anschließend ebenso durch seine zeitweilige Arbeit als Gefängniswärter. Dabei fand er sich plötzlich auf der Gegenseite wieder, in der «Situation des Henkers, des Täters», wie er erklärt hat.

Im vierten der unter dem Namen «Tetralogie der Schicksalslosigkeit» bekannt gewordenen Romane dient dem Autor in «Liquidation» ein total desillusionierter Lektor namens Keserü als Protagonist. Und, nomen est omen, ‹keserü› bedeutet auf Deutsch ‹bitter›, wobei dieses Adjektiv auch für die verbitterte Stimmung gilt, die im gesamten Roman vorherrscht. Der beste Freund von Keserü war der Schriftsteller B., der 1944 in Auschwitz geboren wurde. Man tätowierte dem Säugling die Lagernummer auf den Oberschenkel, weil seine Ärmchen dafür zu klein waren. Er überlebte Auschwitz wie durch ein Wunder, was aus seiner Mutter geworden war, wusste er nicht. Seine resignative Grundthese, die er immer und überall zum Ausdruck brachte, lautete: «Das Lebensprinzip ist das Böse». Im Jahre1990 hat er sich dann schließlich überraschend durch eine Überdosis Morphium umgebracht. Aufgefunden hat ihn Sára, seine mit einem Kollegen verheiratete Geliebte, die einen Schlüssel zu B.s Wohnung hat und für die er einen lapidar kurze Nachricht hinterließ: «Sei mir nicht böse! Gute Nacht!». In ihrer Aufregung ruft sie zuerst Keserü an, der sofort in die Wohnung eilt. Er will Manuskripte seines Freundes retten, bevor die Polizei kommt und sie beschlagnahmt. Insbesondere sucht er nach einem noch nicht veröffentlichten Roman, von dessen mutmaßlich geheim gehaltener Existenz er fest überzeugt ist. Aber er findet nichts dergleichen!

Allerdings stößt er unter anderem auf das Manuskript eines Theaterstücks mit dem Namen «Liquidation». In dem Stück wird geradezu beängstigend prophetisch genau das wiedergegeben, was nach seiner Auffindung dann auch tatsächlich passiert. Denn Keserü fahndet unbeirrt weiter nach dem vermeintlichen Roman-Manuskript, wobei er zunächst Sára verdächtigt, dass sie es an sich genommen habe. Als sie das vehement verneint, wendet er sich schließlich an Judith, die Exfrau von B., die sich vor fünf Jahren von ihm hat scheiden lassen. Sie ist Ärztin und gesteht Keserü nach langem Insistieren, dass B. ihr das Roman-Manuskript tatsächlich übergeben habe und dass sie es war, die ihren rauschgiftsüchtigen Ex-Mann mit dem Morphium versorgt hat, mit dem er sich dann umbrachte. Er hatte ihr das Versprechen abgenommen, unmittelbar nach seinem Suizid das Manuskript seines großen Auschwitz-Romans zu verbrennen, was sie dann auch getan habe.

In dem komplexen Roman stellt Imre Kertèsz seinem Protagonisten und Alter Ego Keserü mit dessen von ihm grenzenlos bewundertem Freund B. spiegelbildlich eine Figur gegenüber, alle drei Existenzen verschmelzen zunehmend ineinander. Zu den Gründen für B.s Suizid heißt es lapidar: «Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst aber gab es noch, und das war ein Problem». Auch für Kertèsz gilt das Diktum von Adorno als ein unauflösliches Paradoxon. Der Vergangenheit, so sein Credo, kann man zwar nicht entkommen, aber doch seiner ebenso sinnlosen wie selbstzerstörerischen Wiederholung! Die komplexe narrative Struktur dieses Romans ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass hier zwei Romane und ein Theaterstück, oft kaum unterscheidbar, erzählerisch ineinander verschachtelt sind. Auch die Perspektiven, aus denen da erzählt wird, wechseln häufig schwer erkennbar, von unterschiedlichen Ich-Erzählern bis hin zu einem nicht identifizierbaren auktorialen Erzähler. Hohe Kunst ist das ohne Zweifel, - aber schwer lesbar ist das natürlich auch!