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StefanieFreigericht

Bewertungen

Insgesamt 90 Bewertungen
Bewertung vom 02.09.2018
Das rote Adressbuch
Lundberg, Sofia

Das rote Adressbuch


ausgezeichnet

"Das Leben ist nicht dazu da, dass es dich unterhält"

Doris Alm wurde 1918 in Schweden geboren, nach dem Tod des Vaters verarmte die Familie. Die Mutter schickte Doris mit erst 13 fort, als Dienstmädchen. Die Zeiten sind hart, nur mühsam kommt sie mit der schweren Arbeit und dem Alleinsein zurecht. Einzig der Künstler Gösta, regelmäßiger Gast ihrer strengen Arbeitgeberin, hilft ein wenig. Dann zieht es ihre Chefin nach Paris, und sie nimmt Doris mit. Im Alter von 96 Jahren blickt Doris auf dieses und viele folgende Erlebnisse zurück, die sie um den halben Kontinent führten, durch den Zweiten Weltkrieg, in Freud und Leid. Sie beschließt, ihr Leben aufzuschreiben, für Jenny, ihre Großnichte. Sie will ihr Vermächtnis hinterlassen.

ACHTUNG: KEIN Kitsch-/Liebesroman. Mir hatte die Leseprobe gefallen, aber ein Kitschroman, das war meine Befürchtung, könnte sich noch irgendwo verbergen. Doris verliebt sich, ja, natürlich, man folgt ihr immerhin über 83 Jahre, da sollte das schon passieren (dazu hat sie ganz eindeutig etwas zu sagen). Zwischendurch, um Kapitel 27 der letzten CD, da dachte ich schon „Mist, doch Kitsch". Und dann hat sich Autorin Sofia Lundberg mit den Schlusskapiteln übertroffen, eine Wendung hinein gebracht und sich noch einmal ganz schön etwas einfallen lassen.
„Das Leben ist nicht dazu da, dass es dich unterhält, du musst dein Leben unterhalten“.

Gelegentlich hadere ich mit Hörbüchern, weil mir fehlt, wie die Namen geschrieben werden – dieses Buch ist PERFEKT zum Hören. Die Kapitelüberschriften und damit die Namen der Einträge in Doris‘ rotes Adressbuch (der Menschen in ihrem Leben) sind auf dem Leporello mit den CDs abgedruckt. Toll! Oft fehlen die Titel aus den Büchern in der Audioversion. Auch die Besetzung mit zwei Sprecherinnen, für die ältere und für die jüngere Doris, ist eine grandiose Lösung, um die Zeitschiene deutlich zu machen; da hat „der Hörverlag“ alles richtig gemacht. Beate Himmelstoß und Susanne Schroeder lesen so, dass ich auch weitere Personen gut zuordnen kann. Ein Genuss! Das Buch war Thema eines Hörwochenendes und um mich herum wurde ähnlich ge"sucht"et. Vielleicht trotzdem nicht ganz ein typisches Männerbuch

Bewertung vom 21.08.2018
Vier.Zwei.Eins. (eBook, ePUB)
Kelly, Erin

Vier.Zwei.Eins. (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

"Selbst meine Angst hat mich im Stich gelassen"

Für Laura und Kit ist es die große Liebe, da teilen sie auch Kits Leidenschaft, bei Sonnenfinsternissen live dabei zu sein. Doch in Cornwall 1999 findet Laura zuerst ein Portemonnaie, dann dessen Besitzerin. Auf ihr liegt ein Mann. Es war einvernehmlich, wird er später sagen. Laura ist vom Gegenteil überzeugt. „Zum ersten Mal begriff ich, dass Männer sich ebenso sehr davor fürchteten, dieser Tat bezichtigt zu werden, wie Frauen davor, sie zu erleiden.“ Was ist die Wahrheit, vor allem, was ist der Unterschied zwischen Wahrheit und Recht, was darf man tun, um jemanden zu schützen oder jemandem zu helfen? Bald werden Laura und Kit ihre Namen ändern und untertauchen. Was ist wirklich geschehen? Was war in Sambia? „Bei einer Wiederaufnahme würden wir Beth erneut begegnen. Und meine Lüge käme ans Licht. Ich weiß nicht, was schlimmer wäre.“

Der Hype trägt bei diesem Psychodrama mit Thrillerelementen und ohne explizite Beschreibungen (für Sensible), der Fischerverlag war klug, es nicht als reinen Thriller anzubieten. Der Aufbau lässt die Handlung von damals ab 1999 langsam immer näher an die Gegenwart von 2015 heranrücken, wechselt zwischen den Zeiten und den Perspektiven von Kit und Laura, immer die verschiedenen Phasen der Sonnenfinsternis als Überschrift, quasi sogar als eine Art Motto. Der Leser erfährt den Ausgangspunkt, zumindest darf er das annehmen, er erfährt von Lauras Panikattacken, ihrem Kratzen, von Jamies PR-Kampagne, von Kits Fürsorge und von Beths Anhänglichkeit. Doch ist hier alles so, wie es scheint?

Sprachlich empfand ich das Buch als deutlich oberhalb des Genres, jetzt weniger durch eine besonders anspruchsvolle Wortwahl oder besondere Satzkonstrukte, dafür fielen die oft treffenden Bemerkungen auf: „Ich kann die soziale Säuberung meiner Nachbarschaft und den Zustrom attraktiver, gutsituierter Mütter nicht gutheißen, obwohl ich für Außenstehende wohl genauso wie sie aussehe.“ Oder „Selbst in guten Ehen ist ein Gespräch nie wirklich neutral; auf allem, was man sagt, lastet das Gewicht aller Gespräche, die man je geführt hat.“ Nur den Titel hätte man besser wörtlich übersetzt „He Said/She Said“ also „er sagte/sie sagte“. Dafür passt für mich auch das Ende, die Auflösung, wobei nach meiner Meinung sogar die richtigen Fragen offen bleiben, die an die Meinung des Lesers. Die vielen Wendungen und Hakenschläge hielten mich endlich wieder einmal vom Schlafen ab ;-)

5 Sterne mit nur ganz winzigen Abstrichen

Bewertung vom 01.08.2018
Tödliche Provence / Hannah Richter Bd.2 (eBook, ePUB)
Åslund, Sandra

Tödliche Provence / Hannah Richter Bd.2 (eBook, ePUB)


sehr gut

Kloake

Hannah Richter, Ende 30, Kriminalpolizei Köln, ist wieder in Vaison in der Provence, in dem Ort, in dem sie im Vorjahr durch ein EU-Austauschprogramm beruflich war. Durch ihre Freundin Penelope stolpert sie eher zufällig in ein Verbrechen, als sie den älteren Herrn besuchen will, mit dem sich Penelope angefreundet hat. Hannah findet Louis Prinderre tot am Fuß seiner Treppe und mag nicht an einen Sturz glauben. Wieso wollte der Nachbar unbedingt an das Grundstück des älteren Herrn? Was ist mit der zwielichtigen Vergangenheit des Bruders der Haushälterin? Und was geschah mit Marc-Henry?

Kurz hintereinander begleitete ich die deutsche Kommissarin zweimal auf Einsatz in der Provence – ungeachtet einiger Andeutungen in diesem Band zum Vorgänger sollte man ihn aber einzeln lesen können. Ich hatte mich auf ein Wiedersehen mit den liebgewonnenen Bekannten aus Teil 1 gefreut, der quirligen Penelope, der Polizistin Emma, dem Original Anatole und seinem Freund, Musikwissenschaftler Serge, sowie Ex-Polizist Nicolas, der Hannah mit väterlichem Rat und gutem Essen zur Seite steht. Wieder führen die Ausflüge der Hobby-Altertumsforscherin gerne an die Wirkstätten der alten Römer, wenn auch etwas weniger als beim ersten Band (das war besonders, das wäre noch steigerungsfähig!). Wieder spielt die lokale Küche eine wichtige Rolle, eher als Hausmannskost (meiner Erfahrung nach eher ungewöhnlich beim Genre der Provence-Krimis und durchaus angenehm – mir gefallen Gerichte, bei denen ich nicht das Gefühl haben muss, der Genuss hinge nur vom Geldbeutel ab wie in so vielen anderen ähnlichen Büchern). Und wieder ist dieses Buch hauptsächlich Krimi, nicht seichte Urlaubslektüre mit „ein bisschen Spannung“.

Im Gegensatz zum ersten Band sind die Szenen hier wenig blutrünstig und ohne sexuelle Gewalt. Mir gefällt, dass man wieder den Gedanken der Protagonisten folgen darf zum Leben allgemein, wenn auch etwas weniger in die Tiefe und weniger zitierfähig als beim ersten Band. Dafür hat man Penelopes „besondere Talente“ nicht allzu vertieft, das war ja doch weniger mein Fall. Mir gefiel die Auflösung des Falles deutlich besser – und in Band 3 würde ich mir Hannah etwas weniger grübelnd wünschen, Männer und Kriminalfälle hin oder her.

Wieder gerne gegebene 4 Sterne.

Bewertung vom 21.07.2018
Die Jahre der Leichtigkeit / Familie Cazalet Bd.1
Howard, Elizabeth Jane

Die Jahre der Leichtigkeit / Familie Cazalet Bd.1


gut

Braucht man das oder nicht?
Die 576 Seiten des 1. Bandes der fünfbändigen Cazelet-„Chronik“ las ich locker herunter, doch obwohl ich in Band 2 hineinlesen werde, bleibt das Gefühl, jemand habe nach dem Erfolg der Serie „Downton Abbey“ nach einem, mit Verlaub, „Trittbrettfahrer“ gesucht. Unfair? Downton Abbey erschien ab 2000 im TV, hingegen „The Light Years“ bereits 1990. Der deutschen (Neu-) Ausgabe vom 20. Juli 2018 ging eine Ausgabe aus den Neunzigern voran unter dem Titel Sommerjahre mit ähnlich süßlichem Cover, Übersetzerin der Reihe damals Regina Winter. Ach, und verfilmt hat man die Cazelets auch, 2001. Ich vermute mal, das sehen wir hier bald. Bei der Ferrante-„Saga“ fehlt mir immer noch Band 4, weil ich mich frage, ob es wirklich ALLER (und so vieler) Bände bedarf – für’s Verlags-Portemonnaie sicher... Saga? Chronik? Uff.

Worum geht’s? Um die Familie Cazelet und ihr (sehr eng gezogenes) Umfeld, hier in den Jahren 1937-38. Keine Adeligen wie bei Downton, keine Unterschicht wie bei Ferrante mit Bildungs-Ehrgeiz – gut situierte Holzhändler, bloß keine weiteren Ambitionen. Unmengen von Personal, ohne jedoch den Fokus auf diese Parallelwelt wie bei Downton, nur kurze Streiflichter. Wie bei Ferrante, sollte man die Liste der Handelnden neben die Lektüre legen (es gibt einen Stammbaum zu Beginn), sonst blättert man dauernd – es sind zu viele, gleich von Anfang an, später kommen noch die Schwestern der Großmutter hinzu, die Schwester einer der Ehefrauen samt Mann und Kindern, die Geliebten zweier Protagonisten samt Familie…mir war es früh wurscht, wer wohin gehörte. Der Fokus schien mir auf den Frauen zu liegen, mit einem Beigeschmack: Sex ist wie alles Körperliche für „anständige“ (Ehe-)Frauen tabu, freudlos, uninteressant, ebenso außerhalb der Reichweite wie Selbständigkeit, Berufstätigkeit, eine eigene Entscheidung oder Meinung und der Ansatz der Erfüllung eigener Interesssen. Die zwei zu Bildung und eigenem Denken anders angelegten Charaktere, die Lehrerin Millicent und die ledige Cazelet-Schwester Rachel, sind dann gleich auch keusch angelegt, die eine fast mittellos und häßlich, die anderere rückenleidend und verdammt zur ewigen Selbst-Aufopferung, beide eher völlig unerfüllt liebend. In DER Häufung etwas zu viel. Selbst die eine glückliche Ehe krankt daran, dass jeder stets mit Bedacht tut, was der andere vermeintlich will, aber beide tatsächlich gar nicht mögen.

Einzig die Kinder empfand ich als komplexer gezeichnet, da kann zum Beispiel der Junge Teddy gleichzeitig dümmlicher Hedonist sein, Unterdrücker der Jüngeren und geduldiger Retter der Katze von Polly. Dem wohl geschuldet, lagen mir die Kinder näher, die Mädchen Louise, Polly, Clery speziell, Töchter je eines der Cazelet-Söhne. Da schwingt einiges an Andeutung in den Zeichnungen der Mädchenfiguren mit; Clery mit ihrem schriftstellerischen Talent und der bösen Stiefmutter (natürlich jung, dümmlich, ichzentriert), Polly mit all ihren Ängsten (um die Mutter, einen möglichen Krieg) und Louise, etwas verwirrend bezüglich der erfahrenen sexuellen Belästigung, von der später nicht wieder die Rede ist, mit Schauspieler-Ambitionen. Die weitere Andeutung liegt natürlich in der Zeit: während 1937 die Kriegserfahrung der Söhne dargestellt wird, steht 1938 im Zeichen dessen, von dem dem Leser die ganze Zeit bewusst ist, das es kommen wird, während die Romanfiguren noch auf Chamberlains Appeasement-Politik vertrauen.

Bei den Erwachsenen ist alles dabei, der glücklose Künstler, der Ehebrecher mit dem Selbstbild der völligen Selbstverständlichkeit, die etwas schrulligen Alten, die resolute Köchin, der grummelige Gärtner. Archetypen, irgendwie weniger amüsant als bei Agatha Christie mit der ihr eigenen Bissigkeit, die man meist nicht gleich bemerkt. Unterhaltsam für nebenbei – ich fand irgendwie das Leben der Autorin deutlich spannender. Ihr Vater war Holzhändler (sic!), ihre Mutter wie Villy früher Tänzerin. Ich lese mal in die Autobiographie hinein. 3 1/2 Sterne.

Bewertung vom 16.11.2017
Winterengel
Bomann, Corina

Winterengel


sehr gut

"Glas ist wie die Liebe“,

so hat es die 18jährige Anna von ihrem verstorbenen Vater gesagt bekommen, „…Beides, Liebe und Glas, muss gefühlvoll behandelt werden, wenn es nicht zerbrechen soll.“ S. 5 Es ist 1895, Spiegelberg in Schwaben. Anna hat von ihrem Vater noch das Handwerk erlernt, sollte seine Glaswerkstatt erben, doch mit dem Niedergang der Glasindustrie in der Region durch die Konkurrenz aus Holland und den Wechsel des Geschmacks der Fürsten werden kaum noch die Dienste der Spiegelmacher benötigt. Die Familie ist verarmt, Werkstatt und Haus gepfändet, Anna muss sich ein gemietetes Zimmer mit der Mutter und der 12jährigen Schwester Elisabeth teilen. Die kaum Erwachsene hat Arbeit gefunden in der Werkstatt eines Kollegen ihres Vaters, als Zubrot fertigt und verkauft sie kleine Glasfiguren, Winterengel. Durch diese erweckt sie tatsächlich die Aufmerksamkeit von Queen Victoria und erhält einen geheimnisvollen Brief…

Wintergeschichte, historischer Roman, Krimi und Liebesgeschichte, das alles ist der Roman von Corina Bomann. Ich habe Anna schnell ins Herz geschlossen, die junge Frau, die es sich verbietet, noch Träume zu haben, sondern lieber etwas Anständiges zum Essen auf dem Tisch haben will. Dennoch wird ihr genau das hier präsentiert, die Chance, ihr Leben zu wenden, satt zu werden UND ihre Träume zu erfüllen. Das birgt ein großes Risiko: wenn sie geht, die Engel in England zu präsentieren, riskiert sie ihre sichere Anstellung in Deutschland. Doch das eigentliche Risiko erweist sich als noch größer, in Gefahren für ihr Leben, ihre Zukunft und…

Gerne habe ich diesen Roman gelesen, hielt auch den befürchteten Kitschfaktor nach der Leseprobe für gering. Wie sagt die Mutter zu Anna? „Ich mache mir immer Sorgen um dich, da kannst du sagen, was du willst“, entgegnete Mama. „Ich mache mir Sorgen, wenn du morgens aus dem Haus zum Arbeiten gehst. Wenn du in der Glaswerkstatt bist. Wenn du in der Dunkelheit die Landstraße entlanggehst. Wenn du auf dem Markt bist. Du bist meine Tochter, und ich glaube, es wird nie aufhören, dass ich mir Sorgen mache.“ S. 79 Das ist nachvollziehbar, eher nicht kitschig. Somit habe ich die Lektüre genossen, bis, ja bis auf die letzten knapp 100 Seiten. Liebesgeschichten sind zugegebenermaßen nicht meins, und die spezielle war mir dann doch etwas zu vorhersehbar, watteweich und, ja zu kitschig. Das ist jetzt nicht so, dass es mir den vorangegangenen Teil komplett verleidet, mir aber einen zu stark zuckrigen Geschmack im Mund zurücklässt. Dazu mag ich vielleicht bei dem Paar am Buchende an ein Chance bei so unterschiedlichem Hintergrund glauben, weniger jedoch daran, dass einer Frau mit einem Ehemann aus dieser Gesellschaftsschicht dieser spezielle Berufswunsch möglich war.

Also: Für die Liebhaber von Liebesgeschichten, die über das Genre hinausgehen wollen: perfekt. Für die, die einen geringen Anteil von Liebesgeschichte ertragen: immer noch. Für mich war es eher ein kurzweiliger Schmöker für nebenbei, der mir dann direkt am Heiligabend leichter durch die Fingerkuppen gerutscht wäre…
4 Sterne. Das Buch kann ja nix dafür…

Bewertung vom 10.11.2017
Nur wenn du allein kommst
Mekhennet, Souad

Nur wenn du allein kommst


ausgezeichnet

Erhellende Einblicke

„Nur wenn du allein kommst“, hört die Journalistin Souad Mekhennet regelmäßig, bevor sie sich mit Interviewpartnern trifft. Diese sind häufig Islamisten und sie vertrauen ihr aufgrund ihrer Abstammung: Sie wurde geboren in Frankfurt als Tochter einer schiitischen Mutter syrischer Abstammung aus der Türkei und eines sunnitischen Vaters aus Marokko. Sie wuchs als Muslima auf in einer toleranten Familie, die Eltern arbeiteten sich ab, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. „Die Einwanderer ihrer Generation, die Putzfrauen und Köche, muckten nicht auf, wären nie auf die Idee gekommen, die Autorität der 'richtigen Deutschen‘ infrage zu stellen.“ S. 53 Einige frühe Kindheitsjahre bei der Großmutter in Marokko, dann weiteres Aufwachsen in Deutschland, Jugoslawienkrieg und Hoyerswerda, fremdenfeindliche Angriffe prägen die Heranwachsende, die sich entschließt, nach dem Vorbild aus dem Film „Die Unbestechlichen“ zum Watergate-Skandal selbst Reporterin zu werden. „Statt meine Ängste die Oberhand gewinnen zu lassen, begann ich sie als Herausforderung zu begreifen, und daran hat sich bis heute nichts geändert.“ S. 44 Durch einen Ausbau ihrer Kontakte und dadurch, dass sie stets bemüht ist, jede Seite zu Wort kommen zu lassen, dabei aber kritisch bleibt, schafft sie sich ein Renommee.

Das Sachbuch ist spannend, ich hatte schon langweiligere Krimis und sprachlich schwieriger zugängliche „Unterhaltungsliteratur“. Acht Jahre älter als die Autorin, konnte ich mich an den genannten politischen Ereignissen gut entlanghangeln. Ich bin beeindruckt über die Tiefe der Informationen zu den verschiedenen Ländern und Regionen, Irak, Libanon, Algerien,… - anhand derer sich das Buch in verschiedene Kapitel zu den jeweiligen Jahren gliedert. Ich hatte eine gewisse Skepsis vor Aufnahme der Lektüre: Warum tut sich das jemand an, sich derart doch immer wieder in Gefahr zu begeben? Die Autorin macht ihre Motivation glaubwürdig, berichtet über Ängste und Nachteile ihres Lebens – nachvollziehbar, auch wenn sie und ich definitiv unterschiedliche Anteile des „Risiko-Gens“ mitbekommen haben.

Was ich befürchtet hatte: zu starke Vereinnahmung durch die diversen Islamisten. Stattdessen die auch für mich beschämende Erkenntnis, dass genau das die Vorbehalte waren, denen die Autorin sich heranwachsend ausgesetzt sah. Übrigens auch das häufig Ursache der Islamisierungen, die Ausgrenzung des Einwanderungslandes. Sie will verstehen, sucht die Diskussion. Stark, wie der kleine Sohn eines der Männer aus dem Gefolge ihres Interviewpartners stolz berichtet, wie er heute das Töten der Ungläubigen gespielt habe und sein Vater ihn zufrieden küsst – als sich die Journalistin später im Hotel daran erinnert, kommen ihr die Tränen. Ähnlich enden hier oft die Kapitel für mich mit einem Denkanstoß, ich mag nicht direkt weiterlesen. Und wie gehen wir selbst mit unseren Werten um, wenn man an den Fall el-Masri denkt, der wegen Terrorverdachts verschleppt und gefoltert wurde (von Mekhennet aufgedeckt)?

Erhellend eine Diskussion mit einem schiitischen Fahrer in Bahrein, dessen mehrheitlich schiitische Bevölkerung von der sunnitischen Herrscherfamilie regiert wird. Er bemängelt, dass man für bestimmte Arbeiten Ausländer ins Land hole, statt „Bahreinis first“ zu praktizieren, gibt aber auf Nachfrage zu, eine Putzfrau aus Bangladesh zu beschäftigen, da diese Arbeiten unter der Würde seiner Frau und Kinder seien. Als die Reporterin die Tätigkeiten von ihren Eltern und ihr selbst zur Finanzierung des Studiums beschreibt, obwohl beide Eltern ihre Abstammung zum Propheten zurückverfolgen können, kratzt das reichlich am Weltbild des Fahrers. Das Weltbild der islamischen Welt wird so in Streifzügen für die jeweilige Region nachvollziehbarer.

Mekhennets Grundfrage ist nach dem „Warum“, aber auch der oft naive Umgang des Westens findet ausreichend Thematisierung. Ein starkes Buch und eine eindeutige Leseempfehlung!

Bewertung vom 02.10.2017
Das blaue Medaillon
Marcus, Martha Sophie

Das blaue Medaillon


sehr gut

Die Seite des Lichts und die Seite der Dunkelheit (nach S. 264)

Der „Unterricht“ lief gut – Alessa, 21, hat es geschafft, hoch an Venedigs Hauswänden und über Dächer zu klettern, ein Fenster und schließlich ein Schloss zu öffnen. Ihre Kletterkünste sind es, wofür der Großvater, Meisterdieb der alten Schule, sie „Gecko“ nennt; sie setzt die Familientradition fort wie schon ihre früh verstorbenen Eltern. Die einzige, die aus der Familientradition ausbrach, war ihre Tante, die jetzt im Sterben liegt. Sie erzählt Alessa vom Familiengeheimnis erfährt: die Eltern wurden ermordet, weil sie bei der „Arbeit“ an kompromittierende Unterlagen gelangten. Der „Schlüssel“ für deren Versteck ist ein blaues Medaillon, das jetzt an die Nichte geht. Doch direkt nach der Heimkehr aus dem Trauerhaus findet die junge Frau daheim ihren Großvater vor, ermordet. Der Mörder ist noch im Haus…

In diesem Roman über das Jahr 1676 zwischen Venedig und Celle verwebt Autorin Martha Sophie Marcus geschickt fiktives Personal mit historischen Persönlichkeiten sowie dem Brauch, zur Unterhaltung bei Hofe Künstlertruppen auftreten zu lassen und sich selbst an dem Schauspiel zu beteiligen, ehrlich gesagt das erste Mal, dass ich die Figuren der Commedia dell’arte nachvollziehbar fand. Der Roman selbst ist ein angenehmer Zwitter aus historischem und Abenteuer-Roman mit einem Schuss Romantik, weitgehend frei von Kitsch und rührseliger Melodramatik (das erste, was für mich etwas „weniger“ hätte sein dürfen, war:„…nur einen Wimperschlang später küssten sie sich, als wäre es in ihrem Gespräch nie um etwas anderes gegangen, als den richtigen Zeitpunkt für einen Kuss zu finden.“ und kommt erst auf Seite 169, also, sei’s drum). Dafür gibt es sehr viele ziemlich humorvolle Stellen, herrlich die Szene mit den Hosen.

Wie meistens, fand ich die Romantik ein klein wenig vorhersehbar, viele der spannenden Wendungen jedoch gar nicht, womit man mit diesem Buch schlicht eine breite Zielgruppe an breiter Front glücklich machen dürfte; insgesamt jedoch eher ein „Frauenschmöker“, sorry Jungs: Allein aufgrund der weiblichen sympathischen Hauptperson, die aufgrund ihrer besonderen „Profession“ sicher über mehr Freiheiten verfügte als zu der Zeit üblich. Wie häufig, ziehe ich selbst aus historischen Romanen, die in der früheren Neuzeit in Deutschland handeln, für mich persönlich meist etwas weniger das Gefühl heraus, wirklich extrem viel in das Zeitgefühl einzutauchen (das liegt aber wohl an mir, bei historischen Krimis gelingt es meist), eher sind es für mich die Details, die ich gerne aufnehme, wie hier – gut gemacht – die „echten“ Charaktere, die „mitspielen“, die aufwendigeren Reisen, die Kleidung, die Standesunterschiede, die venezianische Schauspieltradition, die aufgeführte „Wirtschaft“, die Ränkeschmiede am Hof, Wie bemerkt Alessa so schön: „Ich glaube nicht, dass jemals ein Herrscher für längere Zeit mächtig blieb, der nicht bereit war, seine Macht auch durch Erpressung und Mord zu verteidigen.“ S. 344

Innerhalb des Genres hat das Buch definitiv sehr gute 4 von 5 Sternen und ich würde auch mehr von Martha Sophie Marcus lesen, deren blaues Medaillon für mich so eine Art Überraschungs-Ei ergab: spannend, süß (wenn auch nicht so heftig wie das Schoko-Original), und viel Spiel… in einem überraschend angenehmen Mix. Übrigens schreibt sie ihre Romane abgeschlossen, nicht als Reihen, was fast schon ein Alleinstellungsmerkmal ist, wenn – wie mich – Reihen-Zwänge gelegentlich nerven.

Bewertung vom 23.09.2017
Der Preis, den man zahlt / Lorenzo Falcó Bd.1
Pérez-Reverte, Arturo

Der Preis, den man zahlt / Lorenzo Falcó Bd.1


weniger gut

Unglaubwürdige Altmänner-Phantasie

Das war wohl nichts. Ich hatte mich auf einen spannenden Roman über die Zeit des Spanischen Bürgerkrieges gefreut, Spannendes lese ich ohnehin gerne, historische Romane auch und der Spanische Bürgerkrieg ist bei mir mit vielen Lücken durchsetzt , Guernica, Wem die Stunde schlägt, Hemingway und andere Sympathisanten, lange Franco-Herrschaft, Nazis waren auch 'mal dort, das war’s fast. Immerhin habe ich jetzt die Lücken in Wikipedia aufgefüllt.

Die Hauptperson ist Lorenzo Falcó (der Nachname ist auch der Titel des Originals; ich vermute eine Änderung wegen des im deutschsprachigen Raumes bekannten Sängers aus Österreich mit der Betonung auf der anderen Silbe). Falcó nun arbeitet für den Geheimdienstes SNIO, auf Seiten des Franco-Regimes, als „Müllabfuhr“. Er ist kein Überzeugungstäter, eher war es die Seite, die ihn zuerst gefragt hat. Sein Verhalten ähnelt dem Männerbild der ersten James Bond – Filme: gepflegt ins Casino, im Smoking geraucht und getrunken, eine Frau „klar gemacht“ für die schnelle Nummer und irgendwo für eine Tötung gesorgt. Nur: die Welt hat sich doch irgendwie ein wenig geändert. Ja, das Buch ist 1936 angesiedelt, aber warum deshalb der Protagonist die Züge einer Männerphantasie von 1954 tragen soll, ist mir schleierhaft.

Überhaupt, Männerphantasie: da geht er unaufgefordert einer Frau ins Schlafzimmer hinterher und küsst sie. Sie langt ihm eine. Er hält sie fest, sie wehrt sich. Natürlich nicht lange – denn Frauen meinen doch immer „Ja“, wenn sie „Nein“ sagen, oder? Und vor dem „richtigen Mann“ schmilzt doch jede, oder? Ich brauche jetzt wirklich keine „political correctness“, aber das ist doch einen Tick zu viel.

Und überhaupt, die innere Logik. Warum Falcó tut, was er tut, erschloss sich mir lange nicht. Überzeugung? Nein. Dann müsste es Geld sein. Wohl auch nicht. Adrenalinjunkie, suggeriert der Text, als er endlich Fahrt aufnimmt, gut nach der Mitte. Spannend wird es, spät, glaubwürdiger nicht. Da lässt Falcó Kameraden, Menschen, die er mag oder eher bemitleidet, über die Wupper gehen, schämt sich sogar dabei – und eine Person will er plötzlich retten, warum? Weil er sein Herz entdeckt? Der Wandel ist für mich nicht logisch. Dazu überziehen den Roman noch Details wie aus dem Schundroman, welche Feuerzeugmarke, welcher Schneider usw. Im Film müsste „finanziert durch Product Placement“ da stehen, hier wirkt es einfach völlig überzogen. Und gefangene Frauen wurden natürlich vorher vergewaltigt – ja, ich weiß, das geschah – aber irgendwie wirkt es, als wollte man auch nichts auslassen. Und die Katze springt nicht auf Blofelds Schoß, sondern auf den des Admirals, aber so klar sind hier ja Gut und Böse nicht unterschieden.

2 Sterne jetzt schlicht nur, weil die Grammatik o.k. ist (auch wenn niemand das spanische clandestino mit klandestin, sondern mit heimlich übersetzen sollte; im Deutschen sind das unterschiedliche Sprachniveaus) und das Buch hochwertig aufgemacht ist. Lesen muss man das nicht.

Bewertung vom 22.09.2017
Stille
Kagge, Erling

Stille


ausgezeichnet

Der Ton macht es

„Nichts tun kann jeder, Meditation muss man lernen“ – dieser Spruch aus mir unbekannter Quelle kam in den Sinn, als ich die Präsentation und Leseprobe dieses Buches gesehen hatte. Nachdem ich es dann real vor mir gelesen lag, wollte ich als Rezension dazu erst folgendes schreiben:





.“
Leider wäre damit nicht nur eine Eingabe in der Eingabemaske unmöglich, es wäre auch wenig hilfreich für jeden, der über dieses Buch nachdenkt. Also: braucht man dieses Buch?

Wichtig: es ist KEINE Anleitung für irgendetwas, auch keine Abhandlung über die Stille. Am ehesten entspricht das Büchlein dem, was ich so als „Nachttisch-Büchlein“ werte (kein Coffeetable-Buch, das sind die, die eher nur zum Anschauen sind, weniger zum Lesen). Am meisten liegt mir Text Nummer 7, mit der Erkenntnis „Häufig entscheide ich mich dafür, etwas zu tun, statt die Stille mit mir selbst auszufüllen.“ S. 43

Im Wesentlichen besteht der wirklich sehr sehr schön gestaltete Band aus 33 (!) kurzen Texten über die Stille, Texten, die man als eine Art Anschubser, zu Anregung, Meditation nutzen mag. Ich mag solche Bücher auf dem Nachttisch oder in einer ruhigen Ecke – zum Beruhigen des Geistes, Herunterkommen, Nachdenken. Das Buch ist angenehm unesoterisch, ohne dabei beliebig zu sein, es gibt sowohl Texte zum Wesen von Stille als auch über Erkenntnisse in und aus der Stille, aus persönlichen Erfahrungen des Autors geboren. Man mag manches als Allgemeinplatz aburteilen wie die imaginierte Betrachtung von Menschen aus dem All mit dem Fazit „Mir wurde klar, dass im Laufe der Zeit der einzige Unterschied darin bestand, dass die Eifrigsten ein etwas größeres Haus hatten, in dem sie die Nacht verbrachten.“ S. 32, dennoch sollte man dabei nicht aberkennen, dass die Leistung darin besteht, den Leser über Themen wie Werte, Relativierungen überhaupt innehalten, geschweige denn nachdenken zu lassen.

Also: ist das jetzt banal – oder nein? Nun, es gibt tatsächlich nichts spektakulär Neues im Buch. Aber die Abschnitte sind gut geschrieben, anregend, kurzweilig. Ich bin tatsächlich in der vorletzten Nacht zufällig aus einem Alptraum aufgewacht, den ich vielleicht 1-2 Mal im Jahr träume, eine alte Erinnerung ohne weiteren "Therapiebedarf"; ich kann dann stets schlecht wieder einschlafen und lese meist, meist sehr lange. Das offene Buch des Tages war „Stille“. Ich lag nach einem Abschnitt wieder und habe geschlafen (das wird den Alptraum nicht „heilen“, auch keinerlei Trauma, aber andererseits überanalysiert man ja auch im normalen Leben nicht, warum einen bestimmte Musik aufputscht, auch wenn es diese Untersuchungen durchaus gibt. Der Ton macht es, auch hier).

Man könnte jetzt dem Büchlein also natürlich vorwerfen, es nutze schlicht zu „nichts“– aber genau das IST ja der Nutzen…und das auf so hübsche Art und Weise. Ich bitte um ein Versinken in kurzer Stille über diesen wirklich hübschen und ganz eigenen Zirkelschluss ;-)

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.