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Escribiente
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Lübeck

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Bewertung vom 28.02.2010
Finstere Orte
Flynn, Gillian

Finstere Orte


ausgezeichnet

Um es kurz zu sagen, der Roman beginnt mit einem Paukenschlag. Die Autorin lässt ihre Protagonistin sagen, dass in ihrem Inneren eine Fiesheit hause, die sei „real wie ein Organ“, fett, glitschig, ekelig. Und sie, um die es geht, die uns ihre Geschichte erzählt, wäre nie ein braves Mädchen gewesen!
Allein das hört sich schon nicht gut an. Und die, die sich Libby Day nennt, fügt dann noch hinzu, dass es nach den Morden noch schlimmer mit ihr wurde.
Aha!
Viel erfahren wir schon bei diesem fulminanten Einstieg. Dass sie als Waise heranwuchs, „weitergereicht von einem weitläufigen Verwandten zum anderen“, dass sie die Sachen ihrer toten (!) Schwester tragen musste, dass sie nur fähig war, eine leichte Krümmung ihrer Lippen hinzubekommen – bei anderen Mädchen ihres Alters wurde daraus ein Lächeln –, dass alles in allem ihr Äußeres mit dem einer versoffenen Gastwirtin zu vergleichen sei. Wir bekommen den Eindruck, die Protagonistin ist total ausgeflippt. Aus diesem Grund beginnt man an dem was sie sagt zu zweifeln.
Doch wir erfahren mehr. Unter anderem, dass sie ein Hobby hat: sie malt sich aus, sich umzubringen, schwelgt förmlich in dieser Vorstellung. Tröpfchenweise kommt etwas ans Tageslicht, das die Wirklich sein könnte, denn sie sagt, dass ihr Bruder die Familie abgeschlachtet hat al sie sieben war. Danach, so fährt sie fort, habe sie eigentlich nichts mehr tun müssen. Außer das Geld auszugeben, das ihr mit achtzehn ausgehändigt wurde, gestiftet im Laufe der Jahre von „wohlmeinenden Menschen“.
Doch nun, Libby Day ist über dreißig, aber nicht erwachsen, ist das Geld verbraucht. Von nun an spricht sie zum Leser, bezieht ihn mit ein. In einer schnodderigen Sprache berichtet sie von ihrer Art zu leben, bringt die Zeitungsschlagzeilen, die einst die Blätter dominierten.
Der 25. Jahrestag steht bevor. Sie beginnt sich auszumalen, was wäre wenn…
Und dann die Frage: „Was für eine Frau muss das sein, die von ihrem eigenen Sohn abgeschlachtet wird?“ Diese Frage bringt den Stein ins Rollen, rollt die Geschichte auf.
Die Pubertät des Sohnes, die Situation in der Familie, die bis auf Ben, dem Bruder, nur aus weiblichen Personen besteht. Das Gezanke der Töchter. Aber da geht fast über die Kraft der Mutter hinaus.
Die Gegenwart holt sie ein. Die konfrontiert die Protagonistin mit unliebsamen Fragen: es wird behauptet, sie könne den Mord an ihrer Familie nicht gesehen haben. Libby Day versucht dagegen zu halten, was ihr nicht gelingt.
Zweifel beginnen an ihr zu nagen, und sie gesteht sich ein, nichts von den Morden gesehen zu haben.
Nach und nach lernt der Leser alle Familienmitglieder kennen. Sie schildern jeweils aus ihrer Sich den Tag vor dem Mord.
Die Autorin zeichnet so ein psychologisch sehr genaues Bild, stellt Beweggründe dar, deckt Hintergründe auf.
Spuren werden gelegt, aber sie führen nicht zum Ziel. Namen werden genannt, es sind die falschen.
Und aus Libby Day, der ausgeflippten Person, die nichts ernst nimmt, die wie ein Rabe klaut, aus dieser Hippiegöre wir eine erwachsene Frau.
Diese Buch sollte man lesen, wie man guten Wein genießt: schluckweise, den Geschmack auf der Zunge so lange wie möglich wirken lassen. Pausen sind also angebracht.

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