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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2001

Mensch ohne Maske
Claude Simons "Wind", neu übersetzt · Von Richard Kämmerlings

Es gibt Bücher, die kommen einem wie alte Bekannte entgegen. Sie grüßen schon von ferne, schlagen einen vertraulichen Ton an und brauchen nur wenige Worte, um gemeinsame Erinnerungen hervorzurufen. Andere begegnen einem wie schöne, geheimnisvolle Fremde, deren Sprache man kaum versteht, obwohl ihre Worte die eigenen sind. Sie erzählen von unbekannten Menschen und bleiben rätselhaft. Um ein solches Buch handelt es sich hier.

Claude Simons Roman "Der Wind" erschien im Original 1957. Damals war der Autor bereits über vierzig und sein OEuvre keineswegs schmal. Doch mit diesem Buch schrieb er sich in die erste Reihe des Nouveau Roman, der eine herkömmlich-lineare Erzählstruktur und einfühlende Figurenpsychologie überwinden wollte. "Der Wind" war das erste von vielen weiteren Werken Simons - das jüngste Buch des achtundachtzigjährigen Nobelpreisträgers erschien vor wenigen Monaten -, das als konsequente Weiterentwicklung der Werke von Faulkner, Dostojewski oder Proust begriffen werden wollte. Es war auch das erste, das 1959, übersetzt von Eva Rechel-Mertens, auf deutsch vorlag. Seit einigen Jahren hat das sperrige Werk Simons im DuMont Verlag eine Bleibe gefunden. Auch "Der Wind", längst vergriffen, ist dort nun in einer Neuübersetzung von Eva Moldenhauer erschienen, die zuvor auch die Hauptwerke "Die Akazie" und "Geschichte" übertragen hat.

Keine leichte Aufgabe, wirken doch Simons Satzgebirge ebenso fremd und irritierend wie jener Antoine Montès, der "Held" des Romans, wie man gesagt hätte, wenn nicht just im Jahr seines Erscheinens Alain Robbe-Grillet den Begriff zum Anachronismus erklärt hätte. Montès also trifft auf die Einwohner dieser südfranzösischen Provinzstadt wie ein Sturm aus heiterem Himmel: als personifiziertes Chaos, als Unglücksbringer wider Willen, der doch nur sein Recht und seinen Anteil am normalen Leben will. Der Erbe eines reichen Grundbesitzers, den er nie kennengelernt hatte, wird zum Busenfreund der Serviererin Rose und zum Ersatzvater ihrer beiden Kinder, die unter Roses brutalem und kriminellem Liebhaber Jep zu leiden haben.

Der Erzähler formt rückblickend aus seinen eigenen Erinnerungen und dem umherschwirrenden Klatsch eine mögliche Version der Geschehnisse, die nur im nachhinein verständlich werden. Daß ein junges Mädchen wegen Montès ihre Verlobung löst, deren Schwester ihm daraufhin einen Denkzettel verpassen will und bei der Polizei Jep als Dieb anschwärzt, der sich von Rose verraten glaubt und sie tötet - diese komplizierte Fatalität ist für den Leser zunächst ebensowenig zu durchschauen wie für den, der sie unwissentlich in Gang setzt. Diese Lichtgestalt, ein "Idiot" nach dem Vorbild Dostojewskis, ist unfähig zu hassen. Er ist der Heilige, auf den der Untertitel anspielt, der Roman seine Hagiographie unter den Bedingungen transzendentaler Obdachlosigkeit. Indem Montès' Wesen jeden dazu veranlaßt, ihm sein Unglück zu offenbaren, löst er jene tragische Verkettung der Ereignisse aus, die ihn um sein eigenes Glück bringt: Zu spät erkennt er seine Liebe zu Rose; ihre Kinder landen im Waisenhaus.

"Zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt: die Ordnung und die Unordnung" - dem Roman ist dieses Motto Paul Valérys vorangestellt, und er führt wie in einem chemischen Experiment die explosive Kraft vor, die das Zusammentreffen eines festgefügten Kosmos mit dem Chaos großer Leidenschaft entbindet. Das Ausgeliefertsein des Menschen an die unaufhaltsame Gewalt historischer Prozesse ist ein zentrales Motiv bei Simon, der als Soldat im Weltkrieg die Sinnlosigkeit individuellen Handelns traumatisch erfuhr. So enthält dieser Roman auch eine Theorie der Geschichte, die "nicht im fernen Widerhall der Schlachten und im nichtigen Gejohle von Menschenmengen eingeschrieben ist, sondern in den staubigen, wie der Himalaja sich türmenden Bergen von Verträgen und Urkunden, die unter dem Diktat zahlloser Père-Goriot-Typen von der ruhmlosen, aber siegreichen Armee zahlloser Notare abgefaßt wurden". Der Notar, dessen Sicht des eigenwilligen Klienten eine sprudelnde, aber trübe Quelle für die Geschichte ist, wird auch mit einem antiken Chor verglichen, der die Fabel aus der Sicht der Alteingesessenen kommentiert.

Der Fremde, der die Ordnung und die Besitzverhältnisse in Frage stellt, scheitert am Ende an der Beharrungskraft der zum Gesetz gewordenen Tradition. Unter vielen, längst wieder der Norm eines naiven Realismus huldigenden Neuerscheinungen wirkt Simons frühes Meisterwerk so fremd und faszinierend wie Montès unter den Spießern. Ist auch der Titel des Romans Symbol einer Dynamik, die nach ihrem Abflauen alles beim alten läßt, so bleibt doch sein Leser verändert zurück.

Claude Simon: "Der Wind". Versuch der Wiederherstellung eines barocken Altarbildes. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. DuMont Buchverlag, Köln 2001. 270 S., geb., 44,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

50 Jahre nach seinem ersten Erscheinen wieder aufgelegt, wirke Claude Simons früher Roman "Der Wind" wie ein Klassiker, schreibt Franziska Meier: "vollkommen und fern". Simons Prosa zeichne sich durch eine "außerordentliche Sprachperfektion, ja Opulenz" aus, die in der besten Tradition Flauberts stehe, lobt die Rezensentin. Dabei erzähle der Roman überhaupt keine Geschichte im landläufigen Sinne, sondern konstruiere ein komplexes Geflecht von Figuren, Beziehungen und kleinen Handlungen mit verheerender Wirkung - und natürlich der Beschreibung des südfranzösischen Windes, der erbarmungslos auf Menschen, Dinge und Natur einschlage. Trotz all der Zerstörungskraft von Natur und Mensch, die Simon in seinem Panorama einfange, staunt die Rezensentin, stelle sich der Roman als ein "in sich ruhendes, mehrteiliges Bild" dar "über die entleerende Gewalt des Windes und der Zeit, über die Ohnmacht des Menschen, der nur die Wahl hat zwischen Anpassung und einer Schaden anrichtenden, selbstzerstörerischen Eigenart, über das Gegeneinander von Ordnung und Unordnung". Ausdrücklich lobt Franziska Meier in ihrer selbst recht mitreißenden Kritik auch die Übersetzung von Eva Moldenhauer.

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