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Seit den sechziger Jahren schätzt Günter Grass die öffentliche Dreinrede: Für- und Widerworte, mit denen er den Mächtigen in die Suppe spuckt, sich in Alltagspolitik und Grundsatzfragen einmischt, als Bürger für Bürger streitet. Drei Reden der neunziger Jahre sind dafür beispielhaft. In 'Der lernende Lehrer' (Mai 1999) erklärt Grass das "Prinzip Zweifel" zum Grundwert und plädiert für einen Leistungskurs zur Erlernung der Langsamkeit. Von Danzig über den Kosovo spannt Grass in seinen Schulgeschichten einen Bogen bis zu den Müllbergen Calcuttas. In der 'Rede über den Standort' (Februar 1997)…mehr

Produktbeschreibung
Seit den sechziger Jahren schätzt Günter Grass die öffentliche Dreinrede: Für- und Widerworte, mit denen er den Mächtigen in die Suppe spuckt, sich in Alltagspolitik und Grundsatzfragen einmischt, als Bürger für Bürger streitet. Drei Reden der neunziger Jahre sind dafür beispielhaft.
In 'Der lernende Lehrer' (Mai 1999) erklärt Grass das "Prinzip Zweifel" zum Grundwert und plädiert für einen Leistungskurs zur Erlernung der Langsamkeit. Von Danzig über den Kosovo spannt Grass in seinen Schulgeschichten einen Bogen bis zu den Müllbergen Calcuttas.
In der 'Rede über den Standort' (Februar 1997) klagt Grass aus der Standortdebatte heraus die sich ausbreitende soziale Kälte im siegreichen Kapitalismus an.
In der 'Rede vom Verlust' (November 1992) beschreibt Grass unter dem Eindruck von Rostock und Mölln den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland.
Autorenporträt
Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren, absolvierte nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft eine Steinmetzlehre, studierte dann Grafik und Bildhauerei in Düsseldorf und Berlin. 1956 erschien der erste Gedichtband mit Zeichnungen, 1959 der erste Roman 'Die Blechtrommel'. 1965 erhielt der Autor den Georg-Büchner-Preis, 1994 den Karel-Capek-Preis. 1999 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen und 2009 wurde er zum Ehrenpräsidenten des P.E.N. ernannt. Günter Grass starb am 13. April 2015 in Lübeck.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.1999

Standortflüchtig
Günter Grass macht sich Sorgen um die Verfassung Deutschlands

Günter Grass: Für- und Widerworte. Steidl-Verlag, Göttingen 1999. 96 Seiten, 10,- Mark.

Leuten mit Bekanntheitsgrad widerfährt es, daß sie zu Kongressen eingeladen werden, um Gastvorträge zu halten. Oft kann man solche Vorträge später nachlesen und ein zweites Mal über sie nachdenken. Günter Grass hat Mitte Mai in Berlin einen Vortrag vor dem Kongreß über "Gesamtschule - Tradition und Widerspruch" gehalten. Das stand dann in einem wöchentlichen Hamburger Feuilleton und war anschließend auch noch im Radio zu hören. Zusammen mit zwei anderen Reden hat Grass seinen Vortrag nun zwischen zwei Buchdeckel gepackt. Er handelt nicht von Schule, sondern von unserem Land.

Günter Grass läßt keine gängige schlichte Parole aus; nicht einmal die von der "neuen sozialen Eiszeit" - in einem Land, dessen Bundesetat 170 Milliarden Mark für "Arbeit und Soziales" verzeichnet und das 8,4 Milliarden Mark für Wohngeld ausgibt. Demnächst werden es 8,9 Milliarden sein. Grass hat eigene Vorstellungen von sozialer Not, von Armut. Wenn er die "wachsenden sozialen Gegensätze" und die "schlimmsten Auswirkungen wiederum spürbarer Klassenunterschiede" beschwört, läßt das das Mißverständnis ahnen: Der Schriftsteller, der immerhin ein halbes Jahr in Kalkutta gelebt hat, hält "Armut" - und er steht damit nicht allein - vor allem für ein relatives Phänomen, nicht für ein absolutes. Arm ist dann also bei weitem nicht nur, wer nichts zu beißen hat. Arm ist, wer ein altes Opelmodell fährt, wenn der Nachbar ein schnittiges Coupé vor der Tür stehen hat. Wenn der sich dann einen noch größeren Wagen kauft, wachsen die "sozialen Gegensätze" - und die Armut im ganzen Land.

Aber nicht nur "wachsende soziale Gegensätze" bedrohen den Staat. Die Verfassung ist in Gefahr durch "verfassungswidriges Verhalten der Großindustrie und der Banken". Die "Verfassungsfeinde von heute", so Grass, aber mit ihm möglicherweise auch viele andere, seien "in den Chefetagen von Daimler und Siemens, in den Vorständen der Dresdner, der Deutschen Bank" zu finden. Dort erpressen sie die Regierung und verlachen die Richtlinienkompetenz des Kanzlers: "Was ist das Papier noch wert, auf dem unsere Verfassung steht, wenn ihr täglich, gepaart mit Drohgebärden - ,Entweder gibt die Regierung nach, oder wir wechseln den Standort' -, hohngesprochen wird?" Grass' Empörung macht nachdenklich, nicht nur weil Ähnliches so oft zu hören ist. Es ist noch nicht lange her, da litt eine deutsche Regierung ähnliche Verfassungsnot: Drei Millionen ihrer Bürger paßten die Verhältnisse nicht. Sie wollten frei leben und frei wirtschaften und gingen einfach. Die Regierung nannte das "Republikflucht" - heute hieße es sicher "Standortflucht" -, baute eine Mauer und gab Befehl, den Flüchtigen in den Rücken zu schießen. Achtundzwanzig Jahre lang funktionierte das. Dann erpreßten die verfassungsbrecherischen Bürger wieder ihr Land. Der Staat und seine "Verfassung" - da hat Grass schon recht - waren dann schnell dahin.

Grass möchte deshalb "politischen Widerstand" neuerer Art lehren gegen die "Großfirma Henkel & Hundt" und endlich den Begriff Demokratie "wortwörtlich nehmen". Denn die Demokratie, so Grass, sei dabei, "ihren legitimen Herrschaftsanspruch" gegen die "Macht des global zirkulierenden Geldes" und gegen die "Forderungen irrwitzig fusionierender Großkonzerne" aufzugeben. Grass nimmt nicht darauf Bezug, daß in seiner Republik die Staatsquote gegenwärtig über 50 Prozent liegt. Noch weniger spricht er davon, falls es ihm überhaupt einen Gedanken wert ist, wo darum auch sein Geld besonders irrwitzig zirkuliert - und besonders ergebnislos.

Grass sieht in der Bundesrepublik vor allem "das Dogma von der freien Marktwirtschaft" verwirklicht - andere sprechen pejorativ von Neoliberalismus -, "die sich jeder sozialen Verpflichtung entledigt hat; der Raubtierkäfig steht offen!" Er will ihn so schnell wie möglich fest verschlossen sehen und pocht dazu auf den "legitimen Herrschaftsanspruch" von Demokratie und Staat. Wenn Grass sich da nur nicht in den Raubtieren irrt. Denn an Staaten, die sogar totale Herrschaftsansprüche durchsetzten und das stets für legitim erklärten, war in unserem Jahrhundert kein Mangel. Hinterlassen haben sie nur Leichen- und Trümmerfelder. Die Aufräumarbeiten werden auch das nächste Jahrhundert in Anspruch nehmen. Das Raubtier unseres Jahrhunderts trug fast in der Regel den einen Namen: Staat. Doch Günter Grass, so scheint es, hat sein Jahrhundert so nicht wahrgenommen.

Immerhin, kleine Bedenken kommen ihm am Ende doch: Wenn der demokratische Staat nach jahrelanger Prüfung eines Asylantrags seinen "Herrschaftsanspruch" umsetzt und den Antragsteller ausweist, dann findet Grass das gar nicht legitim, sondern nennt es "fortgesetzte ,ethnische Säuberung'".

Im Begrifflichen kommt es noch schlimmer. Grass versteigt sich dazu, "die alleinseligmachenden Glaubenswerte der katholischen und der kommunistischen Heilslehre und ihre jeweiligen Zentralkomitees" in einem Satz und in einem Gedanken nebeneinanderzustellen. Auch Evangelische, von Luther her, werden heftig den Kopf schütteln: Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen jenseitigen und diesseitigen Heilslehren - und der ist mörderisch. Ein Schriftstellerleben lang hat Grass wissen wollen, "wie es einst zu dem immer noch unbegreiflichen Verbrechen, genannt Völkermord, gekommen ist". Ein Schriftstellerleben lang hat er von Auschwitz reden wollen - und recht hätte er haben können, wenn er nur das Entscheidende gelernt hätte: Wer verspricht, auf Erden das Himmelreich zu errichten, der ist des Teufels. Es war für die Deutschen die Lektion des Jahrhunderts. Müssen wir sie für Günter Grass am Ende wiederholen? Es fügt sich, daß Grass jetzt auch ein "Lesebuch" über "Mein Jahrhundert" vorgelegt hat. Er schuldet seinen Lesern beruhigende Antworten.

HEINRICH MAETZKE

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