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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Mariner Books
  • Verlag: Houghton Mifflin
  • 1999.
  • Altersempfehlung: ab 14 Jahren
  • Gewicht: 410g
  • ISBN-13: 9780618001903
  • ISBN-10: 0618001905
  • Artikelnr.: 11339960
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.1999

Geschichten ohne Moral
Das Herz der Dunkelheit, das Herz Afrikas

Adam Hochschild: "King Leopold¿s Ghost". A Story of Greed, Terror and Heroism in Colonial Africa. Houghton Mifflin Company, Boston, New York 1998. 366 Seiten, 26 Dollar.

Philip Gourevitch: "We wish to inform you that tomorrow we will be killed with our families". Stories from Rwanda. Farrar, Straus and Giroux, New York 1998. 356 Seiten, 25 Dollar.

Im Winter 1898/99 schrieb Joseph Conrad seine vielleicht berühmteste Novelle: "Heart of Darkness". Die Erzählung eignet sich für die verschiedensten Interpretationen - nicht zuletzt bildete sie eine Grundlage für Francis Ford Coppolas Vietnam-Film "Apocalypse Now" -, sie hatte jedoch einen realen und den Zeitgenossen bewußten Hintergrund: die Verhältnisse im Unabhängigen Kongostaat, die Conrad selbst auf einer Reise 1890 erfahren hatte.

1885 hatte König Leopold II. von Belgien ein großes Gebiet in Afrika als Unabhängigen Kongostaat proklamiert, um dann als dessen alleiniger Herrscher sogleich mit der wirtschaftlichen Ausbeutung zu beginnen. Anfängliche Bestrebungen, auch der einheimischen Bevölkerung Gutes zu tun, verloren im Lauf der Jahre fast völlig an Bedeutung; der Kongostaat begann einem gewaltigen Zwangsarbeitslager zu ähneln, dessen einziges Ziel eine möglichst hohe Kautschuk- und Elfenbeinausbeute war.

Die Verhältnisse beunruhigten nicht nur andere Mächte, sie führten auch zu einer internationalen Bewegung gegen Leopold II. und das System der Ausbeutung im Kongostaat. Der Einsatz von Menschenrechtsaktivisten wie Roger Casement und E. D. Morel, aber auch zum Beispiel Mark Twain trug dazu bei, daß schließlich 1908, kurz vor dem Tod Leopolds II., Belgien den Kongostaat als Kolonie übernahm und den schlimmsten Auswüchsen ein Ende setzte.

Mit dieser Thematik beschäftigt sich Adam Hochschild, ein amerikanischer Journalist. Auf den ersten Blick wirkt sein Buch fachkundig, doch bei genauerem Hinsehen verflüchtigt sich der gute Eindruck. So erfährt man zwar beispielsweise, mit welchen seiner Töchter Leopold II. wann nicht mehr sprach, nichts jedoch darüber, daß bereits 1894/95 die Übernahme des Kongostaates durch Belgien geplant war, aber nicht zustande kam.

Schwerer wiegt, daß Hochschild weitgehend kritiklos der damaligen Debatte verhaftet bleibt. Sein Buch ist keine Geschichte oder Analyse des Unabhängigen Kongostaats, nicht einmal der damaligen "Menschenrechtsbewegung"; eher ist es eine Mischung aus Moralstück und Jubiläumsschrift der "Congo Reform Association". Darüber hinaus behauptet der Verfasser, das Morden im Kongo habe seinerzeit genozidale Ausmaße angenommen - was immer man darunter verstehen soll. Abgesehen davon, daß die von ihm genannte Zahl des Bevölkerungsverlusts zwischen 1880 und 1920 (etwa 10 Millionen) aus der Luft gegriffen ist, wäre sie ohnehin nicht aussagekräftig, da die Todesursachen, der Rückgang der Geburtenrate und die Verantwortung der Kolonialverwaltung nicht erläutert werden. Nicht einmal Migration wird von Hochschild berücksichtigt. Die Folgen dieses pseudowissenschaftlichen Kapitels sind abzusehen: dem inflationären Gebrauch des Begriffs "Genozid" oder "Holocaust" wird Vorschub geleistet - der Untertitel der französischen Ausgabe lautet "Ein vergessener Holocaust" -, und die Phantasiezahl "10 Millionen" wird sich wohl für längere Zeit festsetzen. Nach dem bisherigen Kenntnisstand gab es im Kongostaat keinen Genozid, sondern ein menschenverachtendes, brutales System der Ausbeutung mit einer beträchtlichen, jedoch unbekannten Zahl an Opfern.

Ein tatsächlicher Genozid steht dagegen im Zentrum des Buches von Philip Gourevitch. Beginnend am 6. April 1994, wurden in Ruanda in knapp 100 Tagen Hunderttausende Menschen, im wesentlichen Tutsi, umgebracht. (Leider muß man auch verschiedene Zahlenangaben bei Gourevitch mit Vorsicht betrachten.) Dieses Verbrechen war von Hutu-Extremisten um den Präsidenten Juvénal Habyarimana geplant worden und wurde unter Mitwirkung eines erschreckend hohen Anteils der Bevölkerung mit höchster Grausamkeit begangen. Die Welt sah zu.

Gleich nach Beginn des Genozids startete die im wesentlichen aus Tutsi-Exilanten aus Uganda bestehende RPF (Rwandese Patriotic Front) unter Paul Kagame eine Großoffensive, die bis Mitte Juli zur Eroberung Ruandas mit Ausnahme einer von den Franzosen vorübergehend eingerichteten "Schutzzone" führte und dem Morden vorerst ein Ende setzte. Millionen Hutu flohen binnen kürzester Zeit in die Nachbarländer, wo ihr Schicksal - anders als die Situation in Ruanda selbst - große Aufmerksamkeit westlicher Hilfsorganisationen erhielt und einen erheblichen Medienrummel verursachte. Nach Ruanda, wo mittlerweile eine aus Tutsi und Hutu zusammengesetzte Regierung mit Kagame als "starkem Mann" herrschte, kehrten zuerst zahlreiche Tutsi-Exilanten, dann auch Hutu-Flüchtlinge in großen Gruppen zurück. 1996 zettelte Kagame mit dem ugandischen Staatspräsidenten Museveni die Rebellion Kabilas gegen den zairischen Diktator Mobutu an, in jüngster Zeit schließlich die noch im Gang befindliche Rebellion gegen Kabila.

Unter Verweis auf eine Passage in "Heart of Darkness" sieht Gourevitch, ein amerikanischer Journalist, der zwischen 1995 und 1998 oft Ruanda bereiste, sein Ziel darin, herauszufinden, wie die Ruander diesen Genozid "verstehen" und damit umgehen. Er gibt seinem Buch keinen wissenschaftlichen Anstrich; es enthält eine Karte von Afrika und von Ruanda, aber keinerlei wissenschaftlichen Apparat, nicht einmal einen Index. Sein Untertitel ist, gerade im Vergleich mit Hochschild, Programm: "Geschichten" erzählt Gourevitch, wo Hochschild "eine Geschichte" anbietet. Seine facettenreiche Darstellung bietet nicht nur die Freiheit, sich selbst Gedanken zu machen, sondern fordert dazu regelrecht heraus. Eine wesentliche Stärke bei der Darstellung von Gourevitch liegt darin, daß Augenzeugen und Betroffene erzählen. Verbunden mit einer knappen Skizze des Hintergrunds anhand bisheriger Studien, ergibt sich ein zuverlässiges und bewegendes Bild der Geschehnisse. Die eigentlich herausragende journalistische Leistung stellt allerdings die differenzierte Schilderung der "postgenozidalen" Hoffnungen und Probleme dar - es gibt keine auch nur annähernd so eindrucksvolle Beschreibung. Die Flüchtlingsproblematik in den Lagern wie nach der Rückkehr, die Ängste der Überlebenden, Racheakte von Tutsi-Soldaten, Angriffe von Hutu-Rebellen, der Krieg in Zaire, Probleme der Justiz, die Kollision der Regierungsprogrammatik (es gibt nur noch "Ruander") mit den Realitäten - das alles wird thematisiert und bietet auch Anhaltspunkte für spätere wissenschaftliche Studien.

Am Ende steht man wieder vor der Frage: Wie soll und kann eine Gesellschaft mit einem Genozid umgehen? Die nicht immer auf hehren Motiven basierende Antwort vieler scheint von Anfang an gewesen zu sein, "endlich" einen Schlußstrich zu ziehen. Sie wiesen darauf hin, daß Unrecht, wie es zweifellos auch auf seiten der RPF und der späteren ruandischen Regierung vorkam und vorkommt, nicht mit erlittenem Unrecht zu rechtfertigen sei. Sich auf dieses hohe moralische Roß zu setzen fällt nach der Lektüre nicht mehr so leicht. Gourevitch liefert Informationen, Meinungen, Eindrücke, aber keine einfachen Antworten und keine "Moral von der Geschicht". Sein Buch ist, auch im Hinblick auf die Debatten zur deutschen Geschichte, sehr zu empfehlen.

FREDDY LITTEN

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