Faszinierende Kombination aus Zeitreise-Liebesgeschichte und Kriegsdrama
Die mysteriöse Ausgangssituation, die Natasha Pulley entwirft, stellt einen starken Einstieg in ihren Roman dar. Dass Protagonist Joe sich desorientiert am Bahnhof Gare du Roi wiederfindet, nachdem er sein Gedächtnis
verloren hat, ist als schlimme Erfahrung so glaubwürdig geschildert, dass es mir gleich nahe gegangen ist.…mehrFaszinierende Kombination aus Zeitreise-Liebesgeschichte und Kriegsdrama
Die mysteriöse Ausgangssituation, die Natasha Pulley entwirft, stellt einen starken Einstieg in ihren Roman dar. Dass Protagonist Joe sich desorientiert am Bahnhof Gare du Roi wiederfindet, nachdem er sein Gedächtnis verloren hat, ist als schlimme Erfahrung so glaubwürdig geschildert, dass es mir gleich nahe gegangen ist. Auch die sich daran anschließende Problematik in Gestalt der sich verkomplizierenden Beziehungen, in denen Joe weder sein Herr noch seine Frau Alice bekannt ist, diese sich jedoch an ihre ganze Vergangenheit mit Joe erinnern können, wird gelungen beschrieben. Im Zeitraffer werden dann die nächsten Monate und Jahre aus Joes Leben wiedergegeben, die im ersten Teil des Buchs enthalten sind. Das hohe Erzähltempo, das sich nicht in Joes Erinnerungslücken verliert, nachdem diese Thematik zu Beginn erläutert wurde, treibt die Handlung voran.
Im weiteren Verlauf entwickelt Pulleys Roman eine Komplexität, indem dieser auf größtenteils drei verschiedenen zeitlichen Ebenen erzählt wird und zu Joes Sichtweise gerade in den zeitlich weiter zurückliegenden Kapiteln andere Perspektiven hinzukommen. Da Pulley zwischen den Zeiten, Sichten und verschiedenen Handlungsorten wechselt, führt sie ein recht umfangreiches Figurenarsenal ein, von denen einige zumindest ein zweites Mal auftreten. Ein Personenverzeichnis hätte ich da als hilfreich empfunden.
Pulleys ungewöhnliche Ideen führen zu besonderen Szenen, die sie plastisch beschreibt. So konnte die Autorin mir zu Beginn gleich dieses andere Londres des Jahres 1898 nahe bringen, das sie in detailverliebten Bildern eingefangen hat. Diese beschreiben London als schwarze Stadt, die für ihre Stahlwerke bekannt ist, deren Hochöfen sie einrußen.
Intensiv wird der Roman, wenn dessen Handlung in ein Kriegsdrama umschlägt. Denn Joe gerät in dessen weiterem Verlauf mitten hinein in den zwischen England und Frankreich tobenden Krieg. Gerade die Seeschlachten werden so gewalttätig wie realistisch geschildert. Und die Blutbäder, die ein überlegender Feind anrichtet, wenn er den ihm unterlegenen Gegner hinschlachtet, sind verstörend. Pulleys komplexe, ambitionierte Erzählweise, die zwischen den Figuren, Handlungsorten und den einander beeinflussenden Zeitebenen hin und her wechselt, lässt das düstere Kriegsdrama ebenso wie die nebenher einfließenden philosophischen Diskussionen noch härter wirken. Da der Krieg nicht beschönigt von Pulley dargestellt wird, wenn Soldaten verbrannt, entzwei gerissen oder zu Tode gepeitscht werden, ist dieser Roman weniger gut für zu empfindsame Leser geeignet. Pulleys Roman ist jedoch in diesen Beschreibungen so intensiv und eindringlich geraten, dass ich mir gewünscht hätte, dass dieser Teil noch stärker im Fokus dieses Buchs gestanden hätte.
Dagegen bleibt Protagonist Joe leider erstaunlich blass. Wenn Joe nicht dieser unsichere, ängstliche Typ gewesen wäre, hätte er wohl, nachdem er als Leibeigener groß geworden ist und mit Anfang vierzig auch noch sein Gedächtnis verloren hat, unglaubwürdig gewirkt. Zu Beginn hat mich der eher nichtssagende Protagonist wenig gestört. Wenn jedoch in späteren Teilen des Romans das Erzähltempo langsamer wird, hätte mir besser gefallen, wenn dem starken Kriegsdrama und einigen interessanten Nebenfiguren mehr Raum gegeben worden wäre. Eindrucksvoll ist mir der gelungene Auftritt von Revelation Wellesley, die die Witwe eines gefallenen Ersten Offiziers ist, als feine Dame in Erinnerungen geblieben. Davon hätte ich mir mehr gewünscht. Eine immer wieder auftauchende Tigerdame hätte sich dafür beispielsweise angeboten.
Vermutlich hatte die Geschichte um Protagonist Joe die ein oder andere Länge für mich, weil ich die Auflösung, wer Joe eigentlich ist und wie die verschiedenen Zeitebenen zusammenhängen, früh habe kommen sehen und mich davon auch nicht durch die von Pulley falsch ausgelegten Fährten habe abbringen lassen. Neben Protagonist Joe ist leid